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Verrückt und melancholisch

Der französische Ausnahme-Pianist Alexandre Tharaud beschäftigt sich bei seinem aktuellen CD-Projekt "Le Bœuf sur le toit" mit der musikhistorisch hochspannenden Gemengelage in den "années folles", den verrückten 20er-Jahren in Frankreich. Mit dabei die amerikanische Sängerin Madeleine Peyroux und der Schauspieler Guillaume Gallienne.

Von Jochen Hubmacher | 07.10.2012
    "Les années folles", die "verrückten" oder "tollen Jahre" – so nennen die Franzosen die Zeitspanne zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929. Eine Phase des künstlerischen Aufbruchs und der ungezügelten Experimentierfreude auch und gerade in der Musik.

    Der französische Pianist Alexandre Tharaud beschäftigt sich auf seiner neuesten CD mit diesen "tollen Jahren", und er hat sich für sein Projekt ein paar illustre Gäste ins Studio eingeladen: die amerikanische Singer-Songwriterin Madeleine Peyroux zum Beispiel oder Schauspieler Guillaume Gallienne von der Comédie-Francaise. Gemeinsam begeben sie sich in eines der prominentesten "Tollhäuser" jener Zeit: Das legendäre Pariser Musik-Cabaret "Bœuf sur le toit".

    "Darius Milhaud: "Tango des Fratellini" aus: "Le Boeuf sur le toit"
    CD Track 19"

    Alexandre Tharaud mit dem Tango des Fratellini aus der Ballett-Pantomime "Le Bœuf sur le toit", der Ochse auf dem Dach, von Darius Milhaud. Milhaud hatte das musikalische Material für das Stück auf einer Brasilienreise gesammelt. Die Uraufführung 1920 an der Comédie de Champs-Elysées inszenierte sein Künstlerfreund Jean Cocteau. Cocteau war es auch, der dem Bar-und Restaurantbetreiber Louis Moysès wenig später den Namen "Bœuf sur le toit" für dessen neuestes Etablissement vorschlug.

    Das "Bœuf sur le toit" sollte sich binnen kürzester Zeit zu einer der angesagtesten Adressen für Künstler, Intellektuelle, Musikliebhaber und die gesamte Pariser Hautevolee entwickeln. Egal ob Pablo Picasso, Ernest Hemingway, Coco Chanel oder Igor Strawinsky - wer im Paris der zwanziger Jahre etwas auf sich hielt, kreuzte regelmäßig im 8. Pariser Arrondissement in der rue Boissy d’Anglas auf.
    Wie hoch es im "Bœuf sur le toit" mitunter her gegangen sein muss, vermittelt das folgende Stück, in dem Guillaume Gallienne der Frage nachgeht, warum ein gewisser Henri partout nicht auf Frauen steht.

    "Georges van Parys / Philippe Parès: "Henri, pourqoui n’aimes-tu pas les femmes"
    aus der Operette "Louis XIV"
    CD Track 18"

    Das "Bœuf sur le toit" war nicht nur beliebter Treffpunkt für die Pariser Hautevolee, sondern auch ein musikalischer Schmelztiegel. Dort traf die alte auf die neue Welt – französische Operettenschlager und Chansons auf Blues, Charleston oder Foxtrot. Denn spätestens mit den amerikanischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg kämpften, war auch der Jazz in Europa angekommen. Alexandre Tharaud räumt dieser musikhistorisch hochspannenden Gemengelage auf seiner jetzt beim Label Virgin Classics erschienenen CD "Le Bœuf sur le toit" reichlich Raum ein. Etwa als Klavierbegleiter der US-amerikanischen Jazz- und Chanson-Sängerin Madeleine Peyroux.

    "Cole Porter: "Let’s do it"
    CD Track 6"

    Der Cole Porter-Klassiker "Let’s do it" – Möglicherweise haben regelmäßige Nutzer der Pariser U-Bahn diese Stimme schon einmal im Vorbeigehen gehört. Denn die amerikanische Singer-Songwriterin Madeleine Peyroux verdiente sich in den 90er-Jahren eine Zeit lang ihren Lebensunterhalt als Straßenmusikerin in der Metro der Seine-Metropole.

    Ihr Klavierpartner beim gerade gehörten Stück, Alexandre Tharaud, hat sich einen Gutteil seines hervorragenden Rufs im Studio und auf der Konzertbühne als Interpret von Barockmusik erarbeitet. Seine Couperin, Bach oder Rameau-Deutungen sind bisweilen phänomenal. Doch er hat auch das gesamte Klavierwerk Maurice Ravels und Kompositionen von Eric Satie eingespielt. Insofern lässt sich Tharauds aktuelles CD-Projekt "Le Bœuf sur le toit" als logische Fortführung seiner langjährigen Beschäftigung mit französischer Musik in all ihren Facetten betrachten.

    Im Booklet seiner neuen CD erfahren wir zudem, dass ihm bereits als Kind eine Schallplatte mit dem Klavierduo Jean Wiéner und Clément Doucet in die Hände fiel. Die beiden gehörten quasi zum Inventar des "Bœuf sur le toit". Sie traten dort allein oder als Duo auf und spielten ihre eigenen Kompositionen und Arrangements.

    Die Legende besagt, dass der Belgier Clément Doucet Klavierspielen und dabei gleichzeitig einen Roman lesen konnte. Fakt ist: Doucet reiste für mehrere Monate nach New York, wo er den Jazz und George Gershwin höchstpersönlich kennenlernte. Die dort gewonnenen Eindrücke hinterließen hörbare Spuren in seinem kompositorischen Werk. Doucets Spezialität waren musikalische Grenzgänge zwischen alter und neuer Welt, rotzfreche Jazz-Variationen über Themen von Chopin, Liszt oder wie hier Richard Wagner.

    "Clément Doucet: "Isoldina"
    CD Track 15"

    Eingefleischten Wagnerianern bleibt hier das Lachen möglicherweise im Halse stecken. Pianist Alexandre Tharaud spielte Clément Doucets "Isoldina", nach Motiven aus Richard Wagners "Tristan und Isolde".

    Mit den Gastmusikern, die ihn auf seiner Zeitreise ins "Bœuf sur le toit" begleiten, hat Alexandre Tharaud durchweg ein glückliches Händchen. Sie sind gewissermaßen das Salz in der Suppe dieser CD. Denn bei aller Liebe für das skurrile Repertoire, neue tiefschürfende Erkenntnisse über den Pianisten Alexandre Tharaud liefert sie uns nicht.

    Die vielleicht spektakulärste Musiker-Konstellation ergibt sich in Jean Wiéners "Blues chanté". Darin soll laut Komponist die Singstimme wie ein Blechblasinstrument klingen. Die Verwandlung zur lebendigen Trompete gelingt täuschend echt. Man könnte glatt vergessen, dass mit Natalie Dessay hier eine der bedeutendsten Sopranistinnen der Gegenwart am Werk ist.

    "Jean Wiéner: "Blues chanté"
    CD Track 16"

    Eine Sopranistin, die wie Till Brönners Trompete klingt und Wagners Tristan im Hotelbar-Sound - wer glaubt das musikalische Kuriositätenkabinett namens "Bœuf sur le toit" damit komplett besichtigt zu haben, für den hält Alexandre Tharaud gegen Ende seiner neuen CD noch eine Überraschung bereit. Er nimmt sich das Cembalo von Alte Musik-Pionierin Wanda Landowska und spielt darauf William Christopher Handys St. Louis Blues.

    "William Christopher Handy: "Saint Louis Blues"
    CD Track 25"

    Skurril, verrückt, manchmal bis zur Albernheit ausgelassen, dann wieder verträumt melancholisch, nie langweilig - so müssen die Abende im legendären Pariser Musik-Cabaret "Bœuf sur le toit" während den "années folles", den verrückten 20er-Jahren gewesen sein. Attribute, die ohne Zweifel auch auf die neue CD von Alexandre Tharaud und seinen Gästen zutreffen.

    "Le Bœuf sur le toit - Swinging Paris", gerade beim Label Virgin Classics erschienen, ist sicherlich nicht Tharauds wichtigste Aufnahme aber definitiv seine bisher schrägste. Und sie macht schon jetzt neugierig auf die nächsten musikalischen Verrücktheiten, die dem französischen Ausnahme-Pianisten in den Sinn kommen. Soweit die neue Platte im Deutschlandfunk. Am Mikrofon bedankt sich fürs Zuhören Jochen Hubmacher.


    Diskografie

    Le Boeuf sur le toit – Swinging Paris
    Alexandre Tharaud, Klavier
    und Gäste
    Virgin Classics, LC 7873
    Bestellnummer: 50999944073725