Freitag, 19. April 2024

Archiv

Versailler Vertrag
"Ein globaler Moment"

Der Versailler Vertrag von 1919 sollte die Welt neu ordnen, sagte der Historiker Jörn Leonhard im Dlf. Doch er wurde nicht allen gerecht: Politiker aus dem asiatischen Raum etwa hätten die Kriegsleistung ihrer Gesellschaften nicht anerkannt gesehen - und sich deswegen radikaleren Alternativen als dem westlichen liberalen Internationalismus angeschlossen.

Jörn Leonhard im Gespräch mit Christoph Heinemann | 28.06.2019
Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard
Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard (picture alliance / ROPI)
Christoph Heinemann: Die beiden wussten, was sie erwarten würden: Heute vor 100 Jahren unterzeichneten die deutschen Politiker Außenminister Hermann Müller (SPD) und der ehemalige Kolonialminister Johannes Bell von der katholischen Zentrumspartei den Versailler Vertrag. Die Bedingungen für das Deutsche Reich fallen, ein gutes halbes Jahr nach dem Waffenstillstand, hart aus: Gebietsverluste, Reparationszahlungen, militärische Beschränkungen. Im Kriegsschuld-Artikel 231 wird festgeschrieben, dass Deutschland und seine Verbündeten anerkennen, dass sie für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, welche die Alliierten erlitten haben.
Diese Regelungen für Deutschland bilden einen winzigen Ausschnitt des Vertrages, der 600 Seiten umfasst. Auf doppelt so vielen Seiten beschreibt der Historiker Professor Jörn Leonhard diesen Text und seine Zeit. Er lehrt an der Freiburger Albert Ludwigs Universität neuere und neueste Geschichte.
Jörn Leonhard hat im vergangenen Jahr ein Buch vorgelegt mit dem Titel "Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918 bis 1923". Vor dieser Sendung habe ich ihn gefragt: 600 Seiten – wieso erreichte der Vertrag einen solchen Umfang?
"Handlungsspielraum war geringer als wir lange dachten"
Heinemann: Über welchen Handlungsspielraum verfügten diejenigen, die diese Friedensregelungen ausgearbeitet haben?
Leonhard: Der Handlungsspielraum der Menschen, der Politiker, der Spezialisten in Paris war jedenfalls sehr viel geringer, als wir lange angenommen haben. Es waren nicht die souveränen Friedensmacher. Sie sind an vielen Stellen in Europa, aber auch der Welt mit vollendeten Tatsachen konfrontiert, die sich vor dem Januar 1919, vor Beginn der Friedenskonferenz schon entwickelt haben. Und sie sind, wenn man so will, mit dem Gespenst einer bolschewikischen Weltrevolution konfrontiert, der wie ein Basso continuo die ganze Zeit diese Konferenz begleitet. Also keine absolut souveränen Friedensmacher, sondern an vielen Stellen auch Getriebene.
Heinemann: Sie sprechen von einem "überforderten Frieden". Warum?
Leonhard: Dieser Frieden ist, man könnte sagen, überfordert, weil dieser Weltkrieg mit jedem Monat, mit jedem Jahr, auch mit jedem Opfer ungeheure Erwartungen an den Frieden produziert hat. Und es geht eben nicht mehr nur um eine europäische Ordnung, um ein Gleichgewicht von Mächten, sondern es geht um eine globale Ordnung. Es geht um den Zusammenhang von Revolution und Frieden seit 1917, seit der Revolution der Bolschewiki. Es geht um kollabierende Imperien, das Zarenreich, die Habsburger Monarchie, das Osmanische Reich, und es geht um die Zukunft der Kolonialgesellschaften, der Kolonialregime. In all dem steckt auch ein Element der Überforderung, denn sie müssen in einer begrenzten Zeit diesen Frieden irgendwie auch hinbekommen.
Heinemann: Wenn wir von 1919 noch mal zurückschauen: Wieso scheiterten während des Krieges alle Bemühungen zu Waffenstillstand und Frieden?
Leonhard: Ich glaube, es sind zwei Faktoren. Es ist einmal das, was ich die "Ökonomie der Opfer" nenne. Mit jedem Opfer steigt die Erwartung, was der Frieden alles an Dividende zurückgeben muss, um diese Opfer zu rechtfertigen. Und es ist ganz anders als im Zweiten Weltkrieg. Die doch relativ lange unentschiedene militärische Situation, vielleicht bis in den Sommer 1918 hinaus, das hat diese großen Friedensinitiativen, die es 1917 etwa gegeben hat, lange Zeit ausgebremst.
Heinemann: Welche Rolle spielte der Artikel 231 zur alleinigen Kriegsschuld des deutschen Reichs?
Leonhard: Ich glaube, für die meisten Deutschen fasst dieser Artikel 231 in der Wahrnehmung den Versailler Vertrag, der sehr viel komplizierter und widersprüchlicher ist, zusammen. Er reduziert diese Komplexität auf diesen Schuldkomplex. Der Krieg erscheint wie ein Verbrechen und die Friedenskonferenz wie ein Tribunal, an dem die Deutschen vor den Augen der Weltöffentlichkeit sozusagen zur Verantwortung gezogen werden. Wenn man so will, steckt in diesem Artikel 231 ein Element von Recht und Emotion, und beide Elemente prägen die Wahrnehmung dieses Friedensvertrages von 1919.
Heinemann: Warum sollte Deutschland entgegen der Absicht früherer Friedensschlüsse demonstrativ gedemütigt werden?
Leonhard: Ich glaube, man muss ein bisschen genauer hingucken. Diese Behandlung Deutschlands ist bei den Alliierten nicht unumstritten. Der britische Premierminister David Lloyd George hat im Frühjahr 1919 davor gewarnt, Deutschland zu demütigen. Es gibt andere Stimmen, die sagen, damit belastet man diese neue Republik. Aber es gibt gerade bei den, wenn man so will, Falken in der französischen Regierung auch das Gefühl, das ist der Augenblick, wo wir mit dem deutschen Kaiserreich von 1871 noch mal Revanche nehmen, wo wir vielleicht sogar die territoriale Integrität dieses Staates in Frage stellen. Und vieles, was den Deutschen als Demütigung vorkommt, ist in gewisser Weise auch ein komplizierter und spannungsreicher Kompromiss zwischen Siegern, die sich in vielen Dingen nicht einig sind.
Heinemann: Das heißt, teilweise überdeckt die Rache diesen totalen Friedensanspruch?
Leonhard: Das glaube ich auch, und an manchen Stellen ist es eben auch ein deutsches Verhalten, das nicht diese symbolische Demütigung rechtfertigt, aber das den Siegern das Gefühl gibt, die Deutschen haben nicht wirklich verstanden, dass sie den Krieg verloren haben. Diese lange deutsche Hoffnung auf einen Frieden ohne Sieger und Besiegte, das hat die deutsche Position in Paris nicht eben erleichtert.
"Vehemente Kritik am amerikanischen Präsidenten Wilson"
Heinemann: Das sogenannte "Traumland"?
Leonhard: Genau. Das ist diese Phase der großen Hoffnungen, bevor man die Ergebnisse der alliierten Verhandlungen kannte. Diese Hoffnung, dass man vor allen Dingen auf Augenhöhe mitverhandeln darf. Und als dieses Traumland – das ist die Bezeichnung von Ernst Troeltsch – geschlossen wird, da beginnt dann in Deutschland auch die radikale Desillusionierung und natürlich auch eine vehemente Kritik am amerikanischen Präsidenten Wilson, auf dessen Wilson-Frieden man gebaut hatte und von dem man sich dann verraten fühlte.
Heinemann: Professor Leonhard, vor allem Kaiser und Militär hatten ja zusammen mit den anderen europäischen sogenannten "Schlafwandlern" den Krieg begonnen. Inwiefern belastete der Versailler Vertrag die Republik?
Leonhard: Ich glaube, der Versailler Vertrag im Juni 1919 setzt für viele Deutsche noch mal das fort, was im November 1918 beginnt. Und wenn viele Deutsche auf den November 1918 mit der Idee des Dolchstoßes in den Rücken des weiter tapfer kämpfenden Heeres reagierten, um das Ungeheure dieser Niederlage zu verarbeiten, dann beginnt in der Polemik gegen den Versailler Vertrag die Polemik gegen die sogenannten Erfüllungspolitiker, die jetzt das Geschäft der Alliierten besorgen. Und das hat deshalb zu einer solchen Belastung der Republik geführt, weil man sowohl die Niederlage als auch den Versailler Vertrag mit dieser jungen Demokratie identifiziert hat. Das war ein, wenn Sie so wollen, dauerndes Reservoir, ein Speicher von polemischen Angriffen – denken Sie nur an die Attentate auf Matthias Erzberger, Walther Rathenau, die man als Attentate gegen solche Erfüllungspolitiker immer wieder dargestellt hat.
Heinemann: Wenn man dieses Ungeheure, von dem Sie gesprochen haben, noch einmal besichtigt: Die Verluste an der Front, die Heimkehr traumatisierter und brutalisierter Männer, der Hunger im deutschen Reich, nicht zuletzt die Folgen der sogenannten Spanischen Grippe. Wie haben diese Elendserfahrungen die Gesellschaft der Weimarer Republik und auch ihre Einstellung zur Republik geprägt?
Leonhard: Es ist ohne Zweifel eine massive Belastung, kollektiv und individuell. Es ist diese schwierige Revolution vom November 1918. Aber ich finde, man muss neben dem Umbruch dann auch die erheblichen Leistungen dieser jungen Republik stellen. Es bricht in Deutschland kein Bürgerkrieg aus wie im Russland nach dem Oktober 1917. Die Republik überlebt sogar dieses Krisenjahr von 1923 mit Separatismus, mit Hitler-Putsch, mit dem Ruhrkampf, mit der Hyperinflation. Aber was für die Menschen, glaube ich, wichtig wird: Sie trauen dieser Zukunft immer weniger. Ich würde selbst davon sprechen, dass die Erwartungssicherheit, die Vorstellung, dass das neue Regime länger hält, dass man diesem Frieden trauen kann, diese Erwartungssicherheit, die wird für viele dieser Menschen, die diesen Umbruch von 1918/19 erleben, deutlich reduziert, und das ist eine langfristige Belastung dieser Postkriegsgesellschaft gewesen.
Heinemann: Welchen Rang nimmt der Versailler Vertrag im Vergleich mit den anderen wichtigen europäischen Friedensregelungen der Neuzeit ein, dem Westfälischen Frieden 1648 oder die Entscheidung des Wiener Kongresses?
Leonhard: Es ist zu allererst ein Frieden, der sich nicht mehr nur auf Europa, auf ein Gleichgewicht der Mächte, eine "Balance of Power" auf dem europäischen Kontinent bezieht, sondern es ist wirklich ein Frieden, der sich der Neuordnung der Welt annimmt. Es ist ein Frieden, der im Namen von universalistischen Vokabeln hergestellt werden soll, "Self Determination", demokratische Selbstregierung und nationale Selbstbestimmung. Aber wir dürfen nicht vergessen: Es ist auch ein Frieden, der vielleicht zum allerersten Mal in Mediengesellschaft stattfindet - über tausend Journalisten, die in Paris akkreditiert sind -, und es ist ein Frieden, der in Gesellschaften zurückgetragen wird, die das allgemeine Wahlrecht an vielen Stellen eingeführt haben. Die Massendemokratie, die Massenmedien erhöhen den Druck. Das sind Faktoren, die in Münster-Osnabrück oder in Wien 1814/15 so nicht galten.
Der letzte Punkt: Es geht nicht mehr um Untertanen, die man da sozusagen ausblenden kann, sondern es geht um Bürger, die in diesem Krieg gekämpft haben und deren Opfer, deren Kriegsleistungen man jetzt auch anerkennen muss. Dieser Kampf um die Anerkennung des Opfers – das, glaube ich, ist etwas, was diesen Friedensschluss ganz stark von anderen neuzeitlichen Friedensschlüssen unterscheidet.
"Es führt kein gerader Weg von 1918/19 nach 1939"
Heinemann: Ihr Buch argumentiert gegen einen historischen Automatismus, der vom Ersten auswegslos in den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg geführt hätte. Welche Abzweigungen gab es auf diesem Weg?
Leonhard: Ich will auf keinen Fall die Belastungsfaktoren kleinreden, die auch aus dem Versailler Vertrag entstanden sind – nehmen Sie nur die Minderheitenproblematik in den neuen Staaten Ostmittel- und Osteuropas, nehmen Sie die Tatsache, dass Deutschland erst später in den Völkerbund aufgenommen wird. Aber es führt kein gerader Weg von 1918/19 nach 1939. Nehmen Sie die Tatsache, dass die Weimarer Republik das schlimmste Krisenjahr 1923 erst mal überlebt. Nehmen Sie 1924 folgende eine Phase der Entspannung, der friedlichen Revision, eines konstruktiveren Umgangs mit der Reparationsproblematik im Dawes-Plan im Young-Plan bis zum Hoover-Moratorium. Nehmen Sie die Ansätze zur deutsch-französischen Aussöhnung zwischen Stresemann und Briand. Nehmen Sie die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund.
Eine weitere Abzweigung ist ganz sicher die Weltwirtschaftskrise ab 1928 und die offene Frage, wie Gesellschaften mit dieser Krise von Demokratie und Kapitalismus umgehen würden. Und dann natürlich die Entwicklung nach 1933, der Übergang von dieser friedlichen Revision zu dem, was Hitler dann sehr bald auch über die Grenzen einer Revision des Versailler Vertrages führen wird, wenn man so will bis 1941, einem Beginn eines Weltanschauungskrieges in Osteuropa.
Heinemann: Sehr genau angeschaut haben sich, was in Paris geschah und geregelt wurde, unter anderen aus China Mao Zedong und Deng Xiaoping, der Vietnamese Ho Chi Minh oder der Inder Nehru. Welche Fernwirkung oder Fernostwirkung entfaltete der Versailler Vertrag?
Leonhard: Das ist aus meiner Arbeit vielleicht eines der faszinierendsten Themen, weil wir an diesen Beispielen erkennen, dass wir den Versailler Vertrag aus dieser sehr deutschen, vielleicht auch deutsch-französischen, jedenfalls westeuropäischen Umklammerung befreien müssen. Das ist ein globaler Moment, der uns auch etwas über die Multizentralität, die Polyzentralität der heutigen Welt erklärt. Es geht für diese jungen Männer wie Mao Zedong, Deng Xiaoping, Ho Chi Minh, Nehru ganz stark um die Frage, wie glaubwürdig ist dieses westliche Modell des liberalen Internationalismus, das Wilson, das der amerikanische Präsident symbolisiert. Oder anders gesagt: Für wen gilt die Selbstbestimmung? Gilt das für Polen, für Tschechen und Slowaken? Was ist mit den Koreanern, den Indern, den Ägyptern, den Chinesen? – Das Interessante ist: Als diese jungen Männer, diese Generation von jungen Männern dann von dem, was in Paris passiert, enttäuscht werden, als sie erkennen, die Kriegsleistung ihrer Gesellschaften wird nicht anerkannt, die Kolonialreiche Großbritanniens und Frankreichs expandieren noch einmal, da begeben sie sich häufig dann auf die Suche nach radikalen Alternativen und sie werden etwa auf der von den Bolschewiki organisierten Konferenz von Baku fündig. Und das ist natürlich ein weiter Weg in die Entwicklung des 20. Jahrhunderts, die nach 1945, nach der Erfahrung eines weiteren Weltkrieges, dann auch zu einer Vorgeschichte der Dekolonisierung werden wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.