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Verschleppt und geschlagen

Es gibt nicht viele Möglichkeiten, um sich in China gegen die Willkür der Behörden zur Wehr zu setzten. Ein zumindest theoretisches Mittel ist die Petition. Es dauert in der Regel sehr lange, bis Petitionen beantwortet werden, und so haben sich in der nähe des Petitionsbüros in Peking Tausende Bittsteller eingemietet - wartend auf eine Antwort. Im Angesicht der Olympischen Spiele im nächsten Jahr hat die Stadtverwaltung mit dem Abriss dieser Siedlung begonnen.

Von Mathias Bölinger | 03.11.2007
    Die Obdachlosen, die hier in der Nähe des Pekinger Südbahnhofs auf Mauern, in Grünstreifen und in Unterführungen liegen, haben Aktenmappen unter ihren Kopf gelegt oder umklammern sie fest mit den Armen. Die Papiere darin sind das Wertvollste, was sie haben: Kopien ihrer Eingaben, Dokumente des erlittenen Unrechts. Ein paar Meter weiter beginnt die Siedlung, die die Pekinger Petitionsdorf nennen. Die Hälfte der Gebäude sind bereits abgerissen. Schuttberge türmen sich neben einstöckigen Ziegelbauten auf.

    "Die Petitionssteller sind alle noch hier", sagt ein Alter. "Wo sollen sie auch hin?" Zwischen den Trümmern haben sich ein paar Leute provisorische Unterkünfte aus Plastikplanen und Holzstangen zusammengezimmert. Ein Mann mittleren Alters sitzt vor einem kleinen Raum, in dem ein paar Betten stehen, und bittet hereinzukommen.

    Ein Warnruf, der Mann kramt einen Zettel hervor.

    "Setz dich, setz dich. Hier sind überall Spitzel. Meinen Bruder haben sie umgebracht. Hier steht alles drin. Da steht auch meine Nummer, ruf mich später an."

    Nicht weit von hier befinden sich die Petitionsbüros des Staatsrats und des obersten Gerichts. Aus ganz China kommen die Menschen hierher, um sich über erlittenes Unrecht zu beschweren. Die meisten bleiben für Jahre, verbringen Tag für Tag in der Hoffnung, endlich eine Antwort auf ihre Eingabe zu bekommen. Für umgerechnet 50 Cent vermieten die Anwohner im Petitionsdorf ein Bett. Der Mann, er soll hier Chao Yuanming heißen, zieht sein Hemd aus und zeigt mehrere Narben am Oberkörper und an den Armen.

    "Zweimal haben sie mich verhaftet. Hier haben sie mich geschlagen und hier. Sie haben uns beide geschlagen, meinen Bruder und mich. Wer Geld hat, dem tun sie nichts. Ich habe Beweise, dass sie meinen Bruder umgebracht haben, aber das interessiert niemanden. Das steht alles, steht alles drin. Geh jetzt lieber. Ich habe Angst, dass sie mich gleich verhaften."

    Draußen auf der Straße steht jetzt ein Mann im weißen Jackett, zu gut gekleidet für diese Gegend. Keine Sorge, sagt er, er sei kein Polizist, und bittet, ihm in einen Hauseingang zu folgen. Dahinter ist ein Hof, von dem mehrere Zimmer mit Doppelstockbetten abgehen. Eine Frau kommt dazu. "Was haben sie hier zu suchen?", fragt sie immer wieder lautstark. Der Grund für ihre Nervosität zeigt sich auf dem Rückweg. Am Eingang des Petitionsdorfs sind fünf Polizeiautos aufgefahren. Weitere Streifenwagen kommen dazu. Der Besuch hat keine 20 Minuten gedauert.

    "Abends sind sie noch einmal gekommen und haben alles durchsucht. Zweimal waren sie da, Polizei aus Peking und aus meiner Heimatprovinz. Sie wollten mich verhaften, haben versucht mich festzuhalten. Den Nachbarn haben sie verboten, aus den Häusern zu kommen","

    erzählt Chao Yuanming am nächsten Tag an einem sicheren Ort. In seiner Tasche hat er eine Plastikplane, die ihn in den nächsten Nächten vor der kühlen Herbstluft schützen muss, denn zurück zu seiner Unterkunft kann er vorerst nicht. Er holt stapelweise Papiere hervor, die die Geschichte seines Bruders dokumentieren. Dieser hatte in einem Staatsunternehmen gearbeitet, dessen Manager die Löhne veruntreut hatte. Als mehrere Eingaben bei der Provinzregierung erfolglos geblieben waren, entschloss er sich, in Peking eine Petition einzureichen. Mehr als fünf Jahre hat er im Petitionsdorf auf eine Antwort gewartet - vergebens. Wer hier hinkommt, der hat bereits alle anderen Mittel ausgeschöpft. Die wachsende Korruption in China und der unerschütterliche Glaube, dass es bei der Zentralregierung gerechter zugehe als in der Provinz, haben den Strom der Bittsteller anschwellen lassen. Die Zahl der Anträge ist in den letzten Jahren so massiv in die Höhe geschnellt, dass so mancher Provinzfürst mittlerweile um sein Ansehen bei der Zentralregierung fürchtet.

    ""Besonders wenn in Peking der Volkskongress zusammentritt, stehen vor dem Petitionsbüro Autos aus den Provinzen. Sie fragen dich, wo du herkommst, verlangen Deinen Ausweis. Wenn du aus ihrer Provinz kommst, nehmen sie dich mit nach Hause, wenn nicht, lassen Sie dich laufen."

    "Jiefangren" nennen die Bewohner des Petitionsdorfs diese Abfänger: "Petitionsverhinderer". Es seien deutlich mehr geworden in den letzten Jahren, sagen sie. Chaos Bruder war auf dem Weg ins Petitionsbüro, als sie ihn in ein Auto zerrten. Doch sie fuhren ihn nicht zurück in die Heimat, sondern in eine dunkle Ecke Pekings. Dort begannen sie, auf ihn einzuprügeln.

    "Sie sprechen sich ab. Wenn Du aus dem Norden kommst, dann sagen sie denen aus dem Süden, dass sie dich verprügeln sollen. Geschlagen wirst Du von denen, die du nicht kennst. Als sie meinen Bruder zusammengeschlagen haben, waren sie mehr als 40 Leute. 25 Minuten lang haben sie auf ihn eingedroschen."

    Erst nachdem ein Passant die Polizei gerufen hatte, ließen sie ab. Für den Bruder war es da schon zu spät. Wochenlang rang er mit dem Tod, Geld für eine Behandlung im Krankenhaus hatte die Familie nicht mehr. In seiner Tasche trägt Chao Yuanming ein Foto des aufgebahrten Leichnams mit sich.

    "Letztes Jahr hat mir die Polizei 350 Euro angeboten, wenn ich auf eine Anzeige verzichte, als ob das meinen Schmerz aufwiegen könnte. Die, die ihn zusammengeschlagen haben, sind nicht einmal selbst erschienen. Und eine schriftliche Vereinbarung über eine Entschädigung wollten sie mir erst recht nicht geben. Sie haben gesagt: Hier, nimm das Geld und verzichte auf eine Anzeige. Was ist das für eine Gesellschaft? Die Polizei hier in Peking steckt mit den korrupten Provinzbeamten unter einer Decke."

    Chao Yuanming wartet weiter auf eine Ermittlung zum Tod seines Bruders. Geld hat er schon lange keins mehr. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, sammelt Plastikflaschen, die er zu den staatlichen Abgabestellen bringt, um ein paar Cent dafür zu bekommen und weiter auf ein Ergebnis zu warten. Allzu groß sind seine Chancen nicht. Dennoch wird er weiter im Petitionsbüro auf sein Recht pochen.

    "Wir müssen uns gegen die Korruption zur Wehr setzen, müssen hier in Peking Petitionen einreichen und das Unrecht beim Namen nennen. Wir müssen die Leute im In- und Ausland auf unser Schicksal aufmerksam machen und dürfen diese korrupten Beamten nicht einfach weitermachen lassen."

    Zehntausende sind es, die nach wie vor hoffen, eine Antwort zu bekommen auf ihre Eingabe, Zehntausende, die nichts mehr haben außer den Akten, die ihr Unrecht dokumentieren. Daran wird auch der Abriss des Petitionsdorfs nichts ändern.

    "In der Gegend sind überall welche von uns. Die einen gehen jetzt hierhin, die anderen dorthin. Einige sind in die benachbarten Viertel gezogen, viele schlafen unter der Brücke. Früher waren wir alle zusammen, jetzt verstreuen wir uns. Alle haben Angst vor den Abfängern aus den Provinzen. Es ist schwer geworden für uns."

    Dann packt er seine Plastikplane ein und verschwindet im Gewühl der Hauptstadt.