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Verschwörungstheorie rund um Integrationsdebatte

Wer ist eigentlich integrationsunwilliger? Die anatolischen Krethis und Plethis in Berlin-Kreuzberg oder der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer? Das ganze Land debattiert - und natürlich widmen sich auch die Autoren der aktuellen Ausgaben der politischen Zeitschriften diesem Thema.

Von Norbert Seitz | 18.10.2010
    Es verwundert wohl kaum, dass der bisherige Verlauf der Debatte um die sperrigen Thesen Thilo Sarrazins extrem unterschiedlich bilanziert wird. Während die Verteidiger des Bestsellerautors eine durchgängige Unfairness in den TV-Medien glauben ausmachen zu können, hegt Balduin Winter in der Zeitschrift "Kommune" den "Verdacht einer koordinierten Kampagne", der Bertelsmann-Verlag habe sich mit anderen – von "Bild" bis "Spiegel" - abgesprochen, um das Buch mit seinen bizarren Botschaften zu fördern. Ein lautstarker Chor sei mit dem Tenor "Man wird doch wohl mal sagen dürfen" eingefallen:

    "Hier sollte zwischen medialen Wortführern und "Volkes Stimme" unterschieden werden. Sarrazin wurde in der Debatte schnell zum Opfer der Meinungsfreiheit aufgebaut, man selbst stöhnte unter der "Bleidecke der Political Correctness" der "Gutmenschen"."

    Die Sarrazin-Debatte mündete auch in einen heillos geführten Streit um den Islam, seine gemäßigten und radikalen Schattierungen. Lamya Kaddor kritisiert in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" die öffentlichen Stereotypen und "fundamentalistischen Zerrbilder" über den Islam. In der Skandalisierung von Terror-Kids und "Ehrenmördern" gehe eine liberale muslimische Perspektive regelmäßig unter:

    "Ich bin gläubige Muslimin. Und das hindert mich nicht, eine gute Demokratin zu sein. Es muss Schluss sein damit, uns als Fremde anzusehen. Nicht andere sagen mir, ob und wie ich deutsch bin, sondern ich möchte selbst bestimmen, was mein Deutschsein bedeutet. Nicht andere sagen mir, was der Islam ist oder sein sollte, sondern ich möchte selbst bestimmen, wie ich meinen Islam lebe."

    Soviel Selbstbewusstsein wünscht man sich allerdings auch bei der Abkehr eines angemaßten Deutungsmonopols von radikalen Muslimen über ihre moderaten Glaubensschwestern. Johannes Thomas diskutiert in der CDU-nahen "Politischen Meinung" die Toleranzgrenzen innerhalb des Islam und seine Ansprüche nach außen, wenn es etwa um die Verletzbarkeit religiöser Gefühle geht.

    "Beim Thema Karikatur zeigt sich, dass nicht jeder Muslim durch die gleichen Dinge beleidigt sein muss. Während der sunnitische Islam jede bildhafte Darstellung des Propheten für inakzeptabel hält und Vertreter der Muslime in Deutschland dieses Verbot für generell muslimisch erklärten, gehören bildhafte Darstellungen für die Schiiten zur eigenen, jahrhundertealten Tradition. Andere muslimische Gruppierungen haben nicht einmal die Verehrung des Propheten Mohammed für einen notwendigen Bestandteil des Islam gehalten."

    Ein heißes Eisen ist auch das Thema Parallelgesellschaften, das in der aktuellen Debatte stark negativ besetzt ist. Anke Hassel zeigt in der SPD-nahen "Berliner Republik" kein Verständnis dafür, warum man Parallelgesellschaften durch Integration glaubt überwinden zu müssen:

    "Es gibt kein Einwanderungsland ohne Parallelgesellschaften. Einwanderer streifen ihre Kultur und Sprache nicht an der Landesgrenze ab. Jede multikulturelle Großstadt lebt von dem ungeschriebenen Gesetz, dass die Nachbarn ihr Leben nach komplett anderen Maßstäben ausrichten können als man selbst, ohne dass man einander in die Quere kommt."

    So scheint momentan keine Übertreibung stark genug zu sein, um nicht doch abgedruckt zu werden. Der Islamhass der Europäer sei jetzt auch in den USA angekommen, will zum Beispiel Pankaj Mishra in der Zeitschrift "Cicero" herausgefunden haben. Dabei zieht er eine eigenwillige Parallele zum Zeitalter des Kalten Krieges:

    "Die Kalten Krieger von heute tun so, als sei der Islam ein geschlossenes politisches System wie der Kommunismus. Dabei verlieren sie kein Wort über die "Initialstörungen", die vom Westen unterstützte Islamisten in Pakistan und Afghanistan während des antisowjetischen Dschihad angerichtet haben. Als dies mit dem Attentat vom 11. September 2001 auf den Westen zurückfiel, begann man, sich fieberhaft mit "dem Islam" auseinanderzusetzen. Was ungefähr so hilfreich ist, als würden sich Afghanen nach einem Drohnenangriff mit der Lektüre von Kants Essay "Was ist Aufklärung?" beschäftigen, um die Motive ihrer Feinde besser verstehen zu können."

    Kritiker konstatieren mehr öffentliches Palaver als gehaltvolle und zielführende Diskussionen. Es werde zu häufig schlecht gedacht und falsch kommuniziert. Vor allem in TV-Talkshows, die der Soziologe Gerhard Schulze in der lesenswerten Doppelnummer des "Merkur" wie folgt charakterisiert:

    "Die Teilnehmer diffamieren und überschreien einander; bedenkenswerte Beiträge werden abgeblockt; die Moderation heuchelt Offenheit und betreibt Manipulation; die eingespielten Filme suggerieren Generalisierbarkeit, wo es sich um tendenziös ausgewählte Einzelfälle handelt; das Publikum im Studio klatscht, die Quoten sind beachtlich."