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Verstimmt

Was eine Depression ist und wie sie entsteht, ist unter Wissenschaftlern umstritten. Für die einen sind es die Gene, die den Hirnstoffwechsel stören, für andere die sozialen Verhältnisse, für dritte traumatische Kindheitserlebnisse. Da man die Kausalität nicht erklären kann, haben sich Psychiater im ICD 10 auf eine Symptombeschreibung geeinigt:

Von Eva Schindele | 20.11.2011
    Sind Sie depressiv? Ein einfacher Test kann den Verdacht erhärten:

    Erste Frage:

    Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos?

    2. Frage:

    Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun?

    Die Empfehlung:

    Wenn Sie beide Fragen mit "Ja" beantworten, ist es ratsam, sich an einen Arzt oder Psychotherapeuten zu wenden.

    Verstimmt. Vom Umgang mit der Krankheit Depression. Von Eva Schindele

    Selbsttests zum Thema Depression drängen in den letzten Jahren vermehrt in unseren Alltag. Sie finden sich im Internet, in Informationsbroschüren der Krankenkassen, in Zeitschriften. Die Botschaft: Niemand soll sich mehr für seine depressive Stimmungslage schämen müssen. Und: Keine Depression soll unbehandelt bleiben. Verantwortlich für diese Kampagnen zeichnen meist Psychiater mitunter im Verbund mit Pharmafirmen.

    "Es ist eine gute Entwicklung, dass Menschen heute dazu stehen können, dass sie an Depressionen leiden und nicht als Versager sich selbst erleben oder von anderen eingestuft werden."

    Trotzdem erzeugen diese öffentlichen Kampagnen auch ein Unbehagen. Die Grenze zwischen gesund und krank verschwimme immer mehr, meint der Psychiater Tom Bschor. Er ist Chefarzt der Berliner Schloßparkklinik und Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

    "Die andere Seite ist, dass wir inzwischen in einen Bereich kommen oder gekommen sind, wo Alltagsbefindlichkeiten, normale Krisen, wie sie zum Leben dazugehören, auch zu krankhaften Depressionen erklärt werden und anschließend medikamentös behandelt werden."

    Die Diagnose Depression zu stellen ist das eine. Das andere wie man sie dann therapiert. Denn es ist keineswegs so, dass sich diese Gemütszustände immer wirksam, nebenwirkungsfrei und auf Knopfdruck heilen lassen. Das aber suggerieren inzwischen Ärzte in der Öffentlichkeit. Dabei haben sich Mediziner lange Zeit gar nicht um Depressionen gekümmert. Sie galten als gutartige Befindlichkeitsstörung, die in der Regel von selbst wieder vergehen. Dies änderte sich erst, als vor etwa 50 Jahren die ersten Antidepressiva auf den Markt kamen: chemischen Stimmungsaufheller mit hohem Risiko unter anderem für das Herz-Kreislauf-System. Wegen der Nebenwirkungen waren sie nur den schweren Fällen vorbehalten. Dies sollte sich mit der neuen Generation der Antidepressiva ändern, die zwar nicht besser wirken, aber besser vertragen werden.

    "Das ist generell ein interessantes Phänomen, dass Erkrankungen dann in die Öffentlichkeit kommen und Awareness, Aufmerksamkeit erfahren, wenn es wirksame Therapien gibt."

    Die SSRI's, die sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, wurden in den späten 1980er-Jahren populär. Zuerst in den USA, dann in Europa. Damit begann die Karriere der Depression als schwerwiegende Volkskrankheit, so der Psychiater und Gesundheitswissenschaftler Stefan Weinmann, der bis vor kurzem an der Berliner Charite gearbeitet hat.

    "Mit den SSRI, den vermeintlich nebenwirkungsärmeren Medikamenten, und mit der Ausweitung auch auf andere psychiatrische Erkrankungen war es leichter, über die Depression zu sprechen, weil eben nebenwirkungsarme Medikamente zur Verfügung standen. Da hat einfach die pharmazeutische Industrie zusammen mit den Ärzten, die auch zuständig sind und sein wollen - gab es eine gemeinsame Anstrengung, die Erkrankung ins Bewusstsein zu bringen."

    Laut Arzneimittelreport 2011 hat sich die Verordnung von Antidepressiva in den letzten 15 Jahren mehr als verdreifacht. Auch die Diagnose Depression wird häufiger gestellt: Nach Daten der gesetzlichen Krankenkassen jährlich bei etwa acht Prozent der erwerbstätigen Versicherten. Die Mehrzahl ist zwischen 45 und 60 Jahre alt und weiblich. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass jeder Vierte im Laufe seines Lebens mindestens einmal depressiv ist.

    Alarmierende Zahlen, die aber auch sehr weit auseinanderklaffen – je nachdem mit welchen Messkriterien der Gemütszustand beurteilt wurde. So werden Depressionen nach der in den USA üblichen Klassifikation DSM IV deutlich seltener diagnostiziert als bei den in Europa üblichen ICD 10-Kriterien der WHO.

    "Jeder siebte Europäer leidet unter krankhafter Angst. Die Zahl einer voll ausgeprägten Depression ist in den vergangenen Jahren um 400 Prozent gestiegen.",

    schreibt die Welt am 6. September 2011 und beruft sich dabei auf eine europaweite Studie, die von dem Psychiater Hans Ulrich Wittchen von der Uni Dresden koordiniert wurde. Danach leidet jeder dritte Europäer an einer neurologischen oder psychischen Erkrankung - das betrifft 165 Millionen Menschen in der EU. Depressionen verursachen dabei die meisten verlorenen Lebensjahre entweder durch frühen Tod oder Behinderung. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer.

    "Die versteckte Volkskrankheit +++ Depressionen und andere psychische Belastungen nehmen zu +++ schon ein Sechstel der Behandlungstage in Kliniken",

    titelte der "Tagesspiegel" am 27. Juli 2011.

    Nach den Schlagzeilen zu urteilen nehmen Depressionen geradezu epidemisch zu. Dieser Zusammenhang lässt sich aber so nicht aus den Studien ableiten. Es könnte auch sein, dass Menschen bei niedergedrückter Stimmung heutzutage öfters eine Praxis aufsuchen. Oder dass Ärzte die Diagnose schneller stellen. Fast jeder kennt Phasen, in denen er sich bedrückt, ohnmächtig und hoffnungslos fühlt. Gleichzeitig haben Emotionen wie Enttäuschtsein, Schwermut, Verzweiflung wenig Raum in unserer "Glücksgesellschaft". Diese Gefühle werden schnell pathologisiert. Statt die Betroffenen in der Gemeinschaft aufzufangen, schickt man sie lieber zum Arzt.

    "Das weiß jeder aus dem eigenen Leben, dass man Krisen hat, traurig reagiert und dass solche Krisen auch überwunden werden können, so dass sich da auch sehr streng die Frage stellt, wo beginnt die Krankhaftigkeit und die Behandlungsbedürftigkeit."

    Und was ist, wenn jemand an einer wirklich schweren Depression erkrankt? Dann versagt nicht selten das Versorgungssystem. So die aktuelle Analyse des Gemeinsamen Bundesausschusses (kurz GBA), der eine wichtige Funktion in der Steuerung des Gesundheitswesens hat. Werden die Falschen behandelt und die Kranken falsch behandelt?

    "Ärzte sind nicht Psychologen, und dadurch, dass ich verschiedene 'Wehwehchen' hatte, macht jeder sein kleines Gebiet und guckt nicht aufs Ganze. Da hast du einen Arzt für dies und dann für anderes. Aber keiner kennt dich als ganze Person."

    Maggie ist gebürtige Engländerin und lebt seit langem in Norddeutschland. Es geht ihr gut. Dann, ab Mitte 40, nehmen ihre körperlichen Beschwerden immer mehr zu: Probleme mit Knie und Rücken, Rheuma an den Gelenken, chronische Schmerzen. Jeder Arzt verschreibt ihr andere Medikamente, die nicht aufeinander abgestimmt sind.

    "Das fängt so leise an und so unvermutet, dass du es erst gar nicht merkst. Das ist eine schleichende Entwicklung und wenn ich zurück gucke, kann ich sehen, was erste Anzeichen waren. Aber ich habe das damals nicht so wahrgenommen. Immer wenn ich eingeladen war, dann hatte ich eine Migräne. Geburtstage, was besonderes wo andere Leute waren. Dann fand ich mich so uninteressant, dachte, die sind alle intelligenter als ich und sehen besser aus. Dann kam bewusst auch der Gedanke, warum soll ich da hingehen. Du bist sowieso nichts Besonderes."

    Immer Geldsorgen. Ihr Gehalt als Pädagogin muss für eine fünfköpfige Familie reichen. Von ihrem Ehemann fühlt sie sich wenig unterstützt. Aber auch Maggie selbst will sich keine psychische Schwäche zugestehen. Von ihren Arbeitskollegen und Kolleginnen wird sie geschätzt:

    "Da konnte ich noch meine Rolle spielen, da konnte ich über meinen Schatten springen, die richtige Maggi sein. Nachher war ich absolut erledigt... am nächsten Tag war nichts - wie ein Luftballon, der gepikt worden ist. Aber ich habe meine Arbeit gemacht und dafür ist zu hause immer mehr liegen geblieben, weil irgendwo war die Kraft dann alle."

    2007 dann der Zusammenbruch. Nur mit Mühe schafft es die 56-Jährige, am Morgen überhaupt aus dem Bett zu kommen. Alltagserledigungen werden ihr zur Last. Der Schmerzarzt schreibt sie krank: Diagnose "Burnout". Ausgebrannt.

    "Dann habe ich den Burnout gekriegt, was eigentlich eine Depression ist. Hört sich nur netter an, hört sich nur freundlicher an und Depression hört sich sehr negativ an."

    Zum ersten Mal spricht in der Kur jemand mit Maggie ausführlicher über ihre psychische Befindlichkeit. Sie schöpft Hoffnung, fällt dann in ein umso größeres Loch, als sie nach acht Wochen entlassen wird. Ihre Krankenkasse lehnt eine stationäre Weiterbehandlung am Heimatort ab. Nun verkriecht sie sich völlig. Sie sagt über diese Zeit:

    "Ich habe mich selbst verloren, ich weiß nicht wo, ich weiß nicht, wo ich suchen soll, weil ich weiß nicht, wo ich mich verloren habe, ich weiß nicht, wie ich mich verloren habe ... es ist schrecklich, weil ich das Gefühl habe, dass ich keine Kontrolle mehr über mich habe . ... Das ist für mich furchtbar, so wie ich jetzt reagiere, bin ich nicht ich und ich kann es nicht steuern, und das ist das Fürchterliche bei dieser Depression."

    Was eine Depression verursacht, ist unter Psychiatern umstritten. Für die einen sind es die Gene, die den Hirnstoffwechsel stören, für andere die sozialen Verhältnisse, für dritte traumatische Kindheitserlebnisse. Da man die Kausalität nicht erklären kann, haben sich Experten im ICD 10 auf eine Symptombeschreibung geeinigt. Der ICD 10 unterscheidet zwischen Haupt- und Zusatzsymptomen, erklärt Ulrich Hegerl, Direktor der Psychiatrie an der Uniklinik Leipzig. Er leitet die Stiftung "Deutsche Depressionshilfe".

    "Zu den drei Kernsymptomen im ICD 10 gehören gedrückte Stimmung, gestörter Antrieb und eine Anhygenie, also eine Störung der Fähigkeit, Freude zu empfinden, die ja oft bei Depressionen abgeschaltet ist. Wenn zwei von drei vorhanden sind und noch zwei zusätzliche Kriterien, zum Beispiel Schuldgefühle und Schlafstörungen und das über 14 Tage, dann sind die Kriterien einer leichten Depression erfüllt."

    Je nachdem wie viele Symptome vorliegen, wird Patient oder Patientin als leicht, mittel oder schwer depressiv eingeteilt, das heißt: Es kommt nicht auf die Schwere der einzelnen Symptome an, sondern auf ihre Anzahl.

    "Die Abgrenzung, die ist nicht sehr genau definiert. In unserem Klassifikationssystem ist es die Zahl der Krankheitssymptome, die vorhanden sind. Bei leichter Depression müssen zwei der Kernsymptome vorhanden sein und noch zwei zusätzliche Krankheitszeichen über mindestens 14 Tage."

    Zwei Wochen lang antriebsarm, niedergeschlagen, schlecht geschlafen und mit häufigen Kopf-, Rücken- oder Magenschmerzen reichen, um nach dem ICD 10 als depressiv zu gelten. Diese Kriterien sollen helfen, Schwermütige frühzeitig herausfiltern - bevor sich die Depression bei ihnen verfestigt und Folgenschäden wie Diabetes, Schlaganfall oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach sich ziehen. Soweit die Theorie. Doch wer rutscht in eine solch tiefe Verzweiflung, dass er vielleicht sogar den Freitod sucht? Bei wem wird eine Depression chronisch? Und wer wird erst durch das Etikett Depression verunsichert und depressiv? Da gibt es keine fundierten Prognosen, meint der Psychiater Stefan Weinmann:

    "Das Problem ist, diejenigen herauszufinden die tatsächlich chronifizieren und die in immer schwerere Depressionen reinrutschen und hier nimmt man in Kauf, Menschen, die eigentlich ohne Probleme nach ein paar Tagen oder Wochen aus den Zuständen wieder herauskommen würden, umsonst zu behandeln, um eben diejenigen zu erreichen, die chronifizieren. Und das ist natürlich ein Dilemma, aus dem man nicht herauskommt, wenn man keinen guten Vorhersagewert hat für den Verlauf."

    Fühlt man sich nicht wohl, schläft schlecht oder wird häufig von Kopf- oder Magenschmerzen gequält, geht man erst einmal zu seinem Hausarzt. Die und nicht Psychiater sind es dann auch, die am häufigsten depressive Störungen diagnostizieren und schnell mit dem Rezeptblock behandeln, oft ohne zu unterscheiden, ob der Patient an einer leichten, mittelschweren oder gar schweren Depression leidet. Aber gerade diese Einteilung entscheidet über die weitere Therapie.

    Die 2010 veröffentlichte Leitlinie "Unipolare Depression" empfiehlt bei einer leichten Depression, das Gespräch mit dem Patienten zu suchen und erst einmal abzuwarten. Bei einer mittelschweren Depression soll eine Psychotherapie oder alternativ eine Behandlung mit Antidepressiva angestrebt werden. Bei der schweren Depression rät die Leitlinie zur Behandlung mit Antidepressiva und zur zusätzlichen Psychotherapie.

    Bei den Fachärzten landen meist die schweren Fälle und die überweisen viel zu selten an einen Psychotherapeuten, hat der Gemeinsame Bundesausschuss kritisiert. Und in der Hausarztpraxis wird fast jeder Fünfte falsch diagnostiziert.

    "Was Sie ansprechen zeigt das Problem, eine psychische Erkrankung zu definieren an Hand von Symptomen. Wir haben ja keinen Laborwert, der das anzeigt. Das Problem ist, dass eben viele Leute diese Symptome haben und dass das Vorliegen der Symptome gar nichts aussagt, woher das kommt, in welcher Situation, wie das zu bewerten ist."

    Eine psychische Erkrankung lässt sich nicht - so wie Diabetes oder Bluthochdruck - einfach messen. Trotz standardisierter Fragebögen entstehen die Beurteilungen im Gespräch mit Patient oder Patientin und sind immer auch subjektiv gefärbt. Dies ist ein Dorn im Auge naturwissenschaftlich orientierter Mediziner.

    "Meine Damen und Herren..."

    Berlin, es tagt die Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie und Nervenheilkunde

    "...wenn wir zurückblicken auf welche Grundlagen unsere heutige Wissensbasis zur Depressionsentstehung gestützt ist, können wir drei Hauptrichtungen identifizieren. Einmal die Depression ist eine erbliche Erkrankung. Sie ist mit einer Reihe von Laborabnormalitäten verbunden.(Stresshormone...Antidepressiva wirken)"

    Der Plenarsaal des Kongresszentrums ist gut gefüllt. Rund 1000 Teilnehmer hören dem Depressionsforscher Florian Holsboer zu. Er leitet das Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie seit 20 Jahren. So lange sucht er auch nach körperlichen Korrelaten, an denen eine Depression zu erkennen ist – am besten bevor sie überhaupt eintritt.

    "Tatsächlich ist unser Forschungsgebiet belastet durch die Abwesenheit diagnostischer Tests, die uns helfen könnten validere Diagnosen zu schaffen als solche, die man nur auf verbal kommunizierter Information herstellen kann.... Es bleibt zu hoffen, ... . dass es bald diagnostische Schemata gibt, die die Ergebnisse der Neurowissenschaften integrieren."

    Wissenschaftler versuchten in den letzten Jahrzehnten vor allem die biologischen und biochemischen Ursachen von Depressionen zu erforschen. Doch verstanden haben sie die Entstehung der Depression bisher nicht. Es gibt nur einzelne Puzzleteilchen.

    Etliche sogenannte Depressionsgene wurden identifiziert, die meisten dann aber wieder verworfen. Die Betroffenen hatten doch zu unterschiedliche Genvarianten. Die Hoffnung auf einen Gentest war damit geplatzt.

    Tierversuche belegen, dass frühkindlicher Stress die Gene dauerhaft so modifizieren kann, dass die Betroffenen im Erwachsenenalter weniger belastbar und häufiger niedergedrückt und antriebsarm sind.

    Der Stoffwechsel im Gehirn funktioniert bei schwer depressiven Menschen oft nicht regelgerecht. Angenommen wird, dass Serotonin, Noradrenalin und andere Botenstoffe aus der Balance sind und dadurch der Informationsaustausch zwischen den Nervenzellen gestört ist.

    Im Blut und Urin lassen sich größere Mengen des Stresshormons Kortisol nachweisen, als das normalerweise der Fall ist.

    Viele Einzelbefunde, aber keine Antwort auf die Frage, ob die biologischen Marker durch den depressiven Stress erst entstehen oder ob sie die Ursache der Depression sind.

    "Tatsächlich ist der gegenwärtige Stand der genomweiten Assoziationsstudien bis jetzt enttäuschend. Wir können nicht aufgrund eines Screens feststellen, ob man nun ein Risiko für Depression hat. Wir sind nicht einmal in der Lage, aufgrund einer solchen Konstellation irgendwelche Vorhersagen zu machen, wie man seinen Lebensstil ändern soll, damit die Depression unterdrückt oder zumindest der Ausbruch verzögert wird."

    Für den Mediziner Florian Holsboer spielt die Veranlagung eine zentrale Rolle. Lebensgeschichtliche Ereignisse und Stress können dann die Depression auslösen. Sein Ehrgeiz gilt der Entwicklung wirksamerer Medikamente, die die biochemischen Mechanismen der Depression schachmatt setzen. Doch ist dieser Weg der richtige?

    "Biologische Psychiatrie - da sind Millionen, Milliarden also reingeflossen, in der Hoffnung, endlich Aufklärung zu finden. Dort, wo Geld rein fließt in die Forschung - dort werden auch Ergebnisse produziert. Wir hören immer jetzt kommt der Durchbruch. Wir stehen immer kurz vor dem Durchbruch. Da wird natürlich auch eine Situation aufrecht erhalten, dass Forschungsgelder weiter akquiriert werden können .. Dadurch wird aber auch ein Bild einer Krankheit aufrecht erhalten, was einseitig biologisch ist."

    Die Anzahl der belastenden Lebensereignisse steigert signifikant das Risiko, an einer Depression zu erkranken, und zwar bei Männern und bei Frauen. Dies fand eine Forschergruppe um den Genetiker Neil Risch in einer Metaanalyse heraus, die 2009 im angesehenen Medizinjournal Jama veröffentlicht wurde. Dagegen zeigte die Studie, die insgesamt 14.000 Menschen einschloss, keinerlei Zusammenhang zu dem Gen 5 – HTTLPR, das als Serotonin Transporter jahrelang als Ursache für Depression gehandelt wurde.

    "Es ist wichtig, dass geforscht wird im Bereich biologischer Risiken für Depressionen, aber das ist nur ein Aspekt. Wo viel zu wenig geforscht wird, das sind psychosoziale Risikofaktoren, Life-event-Forschung, anthropologische Fragestellungen der Wahrnehmung von körperlichen und psychischen Veränderungen."

    Wer leidet in Deutschland an depressiven Seelenqualen? Und was haben die Betroffenen erlebt? Trennung, Krankheit, Gewalt, Einsamkeit, Überforderung am Arbeitsplatz oder Arbeitslosigkeit? All das wissen wir nicht so genau. Die Geschichten vom erfolgreichen Mittelschichtler oder dem Spitzensportler, die in den Medien erzählt werden, verzerren jedenfalls das Bild. Depressionen sind bisher vor allem weiblich. Internationale Studien nennen außerdem Armut und ein fehlendes soziales Netz als wichtige Risikofaktoren. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg sieht die Depression als Ausdruck einer Zeit, die das Ego über alles stellt. Es sei die Erschöpfung des Individuums in der Moderne, wo alles möglich erscheint, wenn man nur will und die Verantwortung für den Misserfolg den sozial Schwachen angelastet wird.

    "Das, was ich als Mensch erlebe an Traurigkeit, an sehnsuchtsvollen Wünschen und so weiter ist etwas, was ich nicht gerne pathologisieren möchte - sondern für mich ist das ein Aspekt des Lebens, das macht den Menschen aus und daran zu arbeiten erlebe ich als Aufgabe der psychotherapeutischen Intervention",

    so die Bonner Psychotherapeutin Gisela Dreyer. Sie versucht gemeinsam mit ihren Klienten zu verstehen, warum sie in eine solche emotionale Blockierung geraten sind.

    "Das ist für mich die Kunst der Therapie, die Balance zu finden zwischen der Bereitschaft zuzuhören und dem Traurigen und Leidvollen einen Raum zu geben, ohne sich darin zu verlieren, der Anspruch Ressourcen zu entdecken, die Lösung zu entwickeln... raus aus dem Tunnelblick. Die Welt ist vielfältig und die Welt ist weit und ihn dahin zu locken - so würde ich mein Therapieverständnis beschreiben."

    "Ich fühle, als ob ich nicht da bin, dass ich neben mir stehe ...als ob ich irgendwo anders bin und gucke zu, wie alles passiert."

    Maggie bekommt seit sechs Jahren Antidepressiva, erst wegen Schmerzen, dann wegen Burnout, dann wegen Depressionen. Fünf verschiedene Mittel hat sie ausprobiert – doch geholfen haben sie ihr jahrelang nicht. Dafür nimmt sie 30 kg zu, wird immer apathischer und weinerlicher.

    "Du kriegst so wahnsinnige Schmerzen in der Brust, im Herzen - das tut so weh im Herzen, als ob wirklich ein Riesenbrocken da drin war, ein Felsen - ganz eckig... Manchmal nenne ich das in meinen Gedichten auch einen Eisberg. Solche Schmerzen hatte ich mir vorher nie vorstellen können, dass die Kehle so zugeschnürt ist, dass du nicht richtig atmen und kaum reden kannst - ich habe auch lange Jahre kaum geredet und dass alles so mühsam ist, so mühsam, dass du dich wirklich manchmal fragst - hat das alles noch einen Sinn?"

    Maggie wird jahrelang von einem Schmerzarzt behandelt. Ihre Versuche, einen Psychotherapeuten zu finden, verlaufen im Sande.

    "Das Problem ist, die Krankenkasse gibt dir eine Liste und du sollst anrufen. Aber wenn du nicht ans Telefon gehst, wie sollst du die Leute anrufen, vor allem fremde Leute und alle haben lange Wartelisten ... neun Monate und ein Jahr - das hat mich auch geschreckt... wenn du so bist und kannst nicht mehr kämpfen, sagst du Dankeschön und Tschüss."

    Als der Medizinische Dienst der Krankenkasse ein psychiatrisches Gutachten anfordert, geht sie zu einer Fachärztin, zu der sie einen guten Draht findet. Die Psychiaterin verschreibt ihr Antidepressiva, die besser helfen. und vermittelt ihr vorübergehend eine gemeindenahe ambulante Hilfe. Die Sozialarbeiterin unterstützt sie bei Behördengängen und anderen lebenspraktischen Dingen. Das nützt. Doch nach wie vor hofft sie, einen Psychotherapeuten in ihrer Nähe zu finden.

    "Dann wäre ich nicht so alleine. Ich habe mich die ganzen Jahre so verlassen u hilflos gefühlt - so wie ein Stück Dreck in der Ecke. Das war furchtbar und das wäre so schön zu wissen, da ist jemand, der zuhört und versteht."

    Wie hilft man Menschen aus ihrer verzweifelten Lage herauszukommen? Darüber streiten seit Jahren die körpermedizinisch ausgerichteten Psychiater mit den Psychotherapeuten. Zwei Strategien stehen im Wesentlichen zur Verfügung: Pillen und Psychotherapie. Die aktuellen "Leitlinien zur Behandlung der unipolaren Depression" haben nun den Streit beigelegt. Sie empfehlen bei leichten Depressionen erst einmal das Gespräch zu suchen und abzuwarten. Bei mittelschweren Depressionen raten sie zu Psychotherapie oder alternativ zu Antidepressiva, je nachdem, wie der Patient gestrickt ist. Menschen mit schwerer Symptomatik sollen am besten beides machen. Denn Studien belegen inzwischen: Psychotherapie kann depressiven Menschen aus dem schwarzen Loch heraushelfen. Dabei kommt es weniger auf die Methode an, sondern ob der Klient zum Therapeuten eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen kann.

    "Menschen verändern ihre Lebensstrategien und ihre Lebensumstände und dann verändert sich auch ihre psychische Befindlichkeit",

    so die Erfahrung des Bremer Psychotherapeuten Hans Schindler. Für ihn ist dabei die Einteilung der Klienten nach Symptomen nicht so hilfreich.

    "Psychotherapeutisches Denken ist eher, depressive Klienten zu versuchen in ihrer biografischen Entwicklung zu verstehen und mit ihnen gemeinsam danach zu suchen, an welchen Ecken und Kreuzungen etwas in eine Richtung gegangen ist, die dazu führt, dass heute das Leben so nicht bewältigt werden kann beziehungsweise, dass die Lebensumstände sich wann wie verändert haben, dass damit mit einer depressiven Symptomatik reagiert wird."

    Gerade in ländlichen Gebieten fehlen aber psychotherapeutische Angebote, ebenso in den neuen Bundesländern. Außerdem überweisen Ärzte generell zu selten an Psychotherapeuten und sind dafür zu schnell mit einem Rezept bei der Hand, obwohl Antidepressiva bei leichten und mittleren Depressionen nicht besser helfen als ein Placebo. Das belegen inzwischen die wissenschaftlichen Studien übereinstimmend. Der Berliner Pharmakologe und Psychiater Bruno Müller-Oerlinghausen:

    "Man muss schon annehmen, dass eine Fülle von Patienten, ich sage es mal salopp, mit irgendwelchen Befindlichkeitsstörungen, mit denen etwa auch der Hausarzt nicht wirklich umgehen kann, versuchsweise oder wenn man es sehr kritisch formulieren will, aus Hilflosigkeit erst mal mit einem Antidepressivum behandelt werden."

    Die Antidepressiva-Verordnungen haben sich in den vergangenen 15 Jahren mehr als verdreifacht. Laut den Daten der BARMER GEK bekamen im Jahr 2009 zehn Prozent der 40-Jährigen und 20 Prozent der 60-Jährigen weiblichen Versicherten Antidepressiva verschrieben. Männer bekommen deutlich weniger Stimmungsaufheller verordnet– allerdings holen sie langsam auf. In der Altersgruppe der 20 bis unter 35-Jährigen haben sich seit 2005 die Verordnungen verdoppelt.

    "Was hier kritisch stimmt, ist die Tatsache, dass wir heutzutage sehr genau wissen: Antidepressiva sind eigentlich schwach wirksame Medikamente, haben aber keineswegs zu vernachlässigende Nebenwirkungen."

    Die Nebenwirkungen der am häufigsten verschriebenen Antidepressiva sind Mundtrockenheit, Magen-Darm-Erkrankungen, Kopfschmerzen, Sexualstörungen und Gewichtszunahme. Dass sie auch die Zahl der Selbstmorde oder Selbstmordversuche in die Höhe treiben, ist bei Jugendlichen belegt. Inwieweit das auch für Erwachsene gilt, ist umstritten.

    "Ich finde das merkwürdig, dass ich gar keine Wut in mir hab, das ist weg. Ich kann mich gar nicht mehr ärgern... das ist absolut weg und das finde ich nicht gesund.... Ob das auch mit den Psychopharmaka zusammenhängt? Wer soll das wissen? Ich nicht. Ich würde sehr gerne davon wegkommen. Aber leider kann man nicht so aufhören. Es ist so, dass du schleichend davon wegkommen musst... ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ich davon wegkomme."

    "Ich möchte wieder ein Teil von der Gesellschaft sein. Ich möchte nicht am Rande so leben, wie eine Aussätzige. Das würde ich mir sehr wünschen, dass ich wieder meinen aktiven Teil spielen oder leben könnte."

    Depressionen treffen viele Menschen. Und sie beeinträchtigen die Lebensqualität wie kaum eine andere Krankheit, so der der Leipziger Psychiater Ulrich Hegerl:

    "Das Problem ist bei uns nicht die Überversorgung, sondern dass ein Großteil der depressiv erkrankten Patienten nicht konsequent behandelt wird."

    Doch wie sieht eine konsequente Behandlung aus? Menschen, die an einer schweren depressiven Krise leiden, brauchen - neben Medikamenten - auch Gespräche und soziale Hilfsangebote. Da versagt aber in vielen Fällen unser Versorgungssystem. Umgekehrt vergeben Mediziner inzwischen schon bei normalen Befindlichkeitsstörungen die Diagnose Depression und behandeln sie medikamentös. Das kritisiert der Psychiater Stefan Weinmann und fordert eine andere Sicht auf die Krankheit Depression.

    "Wenn man die Depression generell eher als gutartige episodenartig verlaufende Erkrankung beschreibt, die in der Regel nicht so schlimm ist, dann ist das Signal auch an den Betroffenen: es geht wieder vorbei, äußere Faktoren spielen da eine Rolle, es verändert sich einiges im Körper. Wenn ich aber signalisiere: da ist ein hohes Rückfallrisiko, vor dem dich Medikamente schützen, ich sollte doch unter Kontrolle bleiben. je mehr Episoden, desto höher das Risiko einer Chronifizierung - dann gehe ich auch anders mit Symptomen um, die auftreten. Die Bewertung der körperlichen und psychischen Veränderungen ist ganz entscheidend auch für den Umgang und den Verlauf der Erkrankung."

    Sie hörten: Verstimmt. Vom Umgang mit der Krankheit Depression. Von Eva Schindele