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Versuch der Selbsterklärung

In den 90er Jahren wurde Einar Schleef mit seinen skandalträchtigen Inszenierungen am Berliner Ensemble und dem Wiener Burgtheater einem breiten Publikum bekannt. Sein Tagebuch mit dem Titel "Ostberlin" gibt Zeugnis von den Schwierigkeiten, die der ungebärdige, leicht reizbare und von Krankheiten gezeichnete Schleef als junger Mann in der DDR hatte.

Von Matthias Eckoldt | 31.08.2006
    "Ich sehe meine Sinnlosigkeit, so stark, Magenschmerzen und nervös. Wenn ich an den vorigen Sommer denke - ich war die ganze heiße Zeit hier und sie war schrecklich. Ich kann schon gar nicht mehr aufrichtig sein beim Schreiben, affektiert. Es ist kaum noch Suche, kaum Ich, sondern Lüge. Jedes Wort. Mehr oder weniger muss ich eingestehen: Ich bin kaputt. Endgültig. Zu lange gefackelt."

    Diese trübsinnigen Gedanken notiert der 25-jährige Einar Schleef in seinem Tagebuch, zwei Tage vor Silvester 1969. Schleef, dem als Maler, Bühnenbildner und Regisseur in der DDR viele Steine in den Weg gelegt wurden, konnte erst nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1976 durchstarten. In den 90er Jahren wird er mit seinen skandalträchtigen, von genialischer Wut getriebenen Inszenierungen am Berliner Ensemble und dem Wiener Burgtheater einem breiten Publikum bekannt. Sein im Suhrkamp Verlag erschienenes Tagebuch mit dem Titel "Ostberlin" gibt Zeugnis von den Schwierigkeiten, die der ungebärdige, leicht reizbare und von Krankheiten gezeichnete Schleef in der DDR hatte.

    Das Buch startet 1964. Schleef verlässt nach dem Abitur seine Heimatstadt Sangerhausen in Richtung Ostberlin, wo er einen der äußerst raren Studienplätze an der Kunsthochschule bekommen hat. Doch schon am Ende des ersten Semesters wird er exmatrikuliert wegen "Disziplinlosigkeit und mangelhaftem studentischem Gesamtverhalten". Erstaunlicherweise finden sich zu diesem einschneidenden Vorgang nur wenige Notate, was Schleef in einem Kommentar von 1999 mit den Worten kommentiert:

    "Mit keinem Wort beschreibe ich die tatsächliche Situation, ich fahre einfach weiter in meinem mir verordneten Kulturkonsum fort, als sei das der Protest, überhaupt nichts zur Kenntnis zu nehmen. Wiederholt frage ich mich, ob die Aufzeichnungen nicht einfach verschwanden."

    Die Kommentarebene fügte Einar Schleef von 1998 an bis zu seinem Tod im Jahr 2001 in die Tagebücher ein. Sie nimmt etwa ein Drittel der eng gesetzten 429 Seiten ein und gibt dem Text eine zusätzliche Dimension. Der Leser wird Zeuge eines Ringens um Erinnerung, das zugleich ein verzweifelter Versuch der Selbstklärung ist.

    Schleef leidet an allem. Zuerst an sich selbst und an seinen Ansprüchen, die ihm sein außerordentliches Talent aufzubürden scheint, aber auch an seinem Vater, der ihn für einen Versager hält. Ebenso lässt ihn die Verlogenheit und Doppelmoral des DDR-Sozialismus im Allgemeinen und die der Staatskünstler im Besonderen verzweifeln. Doch das ist noch längst nicht alles. In Schleefs Notaten nehmen seine körperlichen Gebrechen - Kopfschmerzen, Erschöpfung und Sprachstörungen - großen Raum ein, die zum Teil wohl auf einen Eisenbahnunfall zurückzuführen sind, den Schleef in seiner Kindheit erlitt. Und noch ein weiteres existentielles Motiv durchzieht sein Tagebuch: die Einsamkeit.

    "Ich befinde mich in einer eigenartigen Situation, das Übliche, Einsamkeit. Ich bin einsam, weil ich nicht lieben kann, keinen liebe. Die Menschen, nach denen ich mich sehne, entziehen sich mir, scheinen unerreichbar. Bin ich kalt, gefühllos? Wie kann ich lieben? Indem ich Sachen von mir verschenke? Ich sehe keine Möglichkeiten. Wem? Was tun?"

    Bei den Frauen sucht er Trost und Liebe, aber findet nur Streit, Verzweiflung und Gewalt. Schleef schlägt, Schleef brüllt, Schleef hasst. Er empfindet die so ersehnte Nähe schließlich als Bedrohung.

    "Wie oft glaubte ich, auch jetzt mit Ursel - der Name ekelt mich schon - zu einer Lösung gekommen zu sein. Einsichtiges Ende - bitte."

    Im Textverlauf ist es spannend nachzuvollziehen, wie Schleef, der sich stets kraftlos und verzweifelt am Ende wähnt, doch immer weiter macht. Nach mehreren Petitionen darf er sein Studium wieder aufnehmen, wird erneut exmatrikuliert, darf trotzdem seinen Abschluss machen, wird Meisterschüler des Bühnenbildners Karl von Appen und legt erste eigene Arbeiten - zusammen mit B.K. Tragelehn - am Berliner Ensemble vor. Ihre Produktion "Fräulein Julie" wird auf Druck der Parteileitung abgesetzt. Eine geplante Macbeth-Aufführung nach der Neuübersetzung von Heiner Müller kommt nicht zur Premiere. Bei einer Bühnenbild-Arbeit am Rostocker Theater wird Schleef vorzeitig suspendiert. Er befindet sich in einem Dauerkonflikt mit Theater- und Parteileitungen, aus dem er schließlich die Konsequenzen zieht.

    Ende Oktober 1976 fährt Schleef zu Gesprächen über eine geplante Inszenierung am Burgtheater nach Wien und kehrt nicht mehr in die DDR zurück. Sein letzter Gruß ist ein Forderungskatalog an das Kulturministerium, in dem er seine Bedingungen für eine Weiterarbeit in der DDR stellt:

    "Honecker: Alle Fragen offen diskutieren!
    Ich will in der DDR leben und arbeiten, nicht vergammeln.
    Fester Vertrag mit dem Berliner Ensemble als Bühnenbildner und Regisseur (1800 Mark monatlich).
    Öffentliche Diskussion meiner Arbeitsergebnisse, statt Absetzung.
    Veröffentlichung und Ausstellung meiner Arbeiten im Überblick.
    Ich bin kein Einzelfall. Hier geht es um eine Generation, um die Generation, die in der DDR aufgewachsen ist.
    Bitte um Aussprache in Wien! Einar Schleef."

    Der Brief blieb unbeantwortet. - Schleef ist kein Tagebuchschreiber vom Rang eines Ernst Jünger, der seine eigene Person als Experimentierfeld für ein philosophisches Weltverständnis sah. "Ostberlin 1964-1976" liest sich eher wie ein Psychogramm einer überspannten, egomanen Persönlichkeit, die nie gelernt hat, mit ihren Verletzungen umzugehen. Und so stehen leider auch die ästhetischen Reflexionen des provokanten Künstlers im Schatten der Nöte und Bedrängnisse des Menschen Schleef. Die vage Hoffnung bleibt, dass sich im vom Suhrkamp Verlag bereits geplanten dritten Band der Tagebücher dieses Verhältnis umkehrt.