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Versuchter antisemitischer Anschlag
Die Bombe, die nicht zündete

Vor 50 Jahren wäre im West-Berliner Haus der Jüdischen Gemeinde fast eine Brandbombe explodiert. Zunächst wurde ein rechtsextremes Motiv vermutet, dann stellte sich heraus: Dieser Antisemitismus kam von Linksextremen. Bislang wird an die Tat kaum öffentlich erinnert.

Von Carsten Dippel | 07.11.2019
Jüdisches Gemeindehaus in Berlin-Charlottenburg
Jüdisches Gemeindehaus in Berlin Charlottenburg (imago images / Schöning)
Der große Saal des Jüdischen Gemeindehauses in der Fasanenstraße, das über den Trümmern der einst stolzen Synagoge im Berliner Westen errichtet worden war, war voll besetzt an diesem 9. November 1969. Die gut 250 Anwesenden gedachten der Opfer der Shoah und erinnerten an die Pogromnacht 1938. Spitzen aus der Politik waren anwesend, die Jüdische Gemeinde kam zusammen, darunter Überlebende des Naziterrors. Sie ahnten nicht, in welcher Gefahr sie waren. In der Garderobe, vor den Türen des Saals, versteckt in einem Mantel, tickte eine Brandbombe. Doch sie zündete nicht. Ein kleiner, verrosteter Draht verhinderte die Katastrophe.
Die 2014 verstorbene Ruth Galinski, Shoah-Überlebende, Witwe des damaligen Berliner Gemeindevorsitzenden und späteren Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, war an jenem Abend dabei. Sie erinnert sich im Jahr 2008 in einem Gespräch mit der Journalistin Regina Leßner, die zu dem versuchten Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus vor zehn Jahren ein Radiofeature produzierte. Leßner traf damals die maßgeblichen Akteure, unter anderem den Bombenleger Albert Fichter.
"Wir wollten denen mal ein Feuerwerk machen"
In der Radiodokumentation hört erinnert sich Ruth Galinski: "Ich gehe zu jeder Gedenkfeier und manchmal denke ich auch daran, was vor fast 40 Jahren geschehen sollte."
Abi Fichter erzählt: "Mir wurde das so vom Dieter erklärt: Die Zionisten machen ein Treffen dort und wir wollen denen mal ein Feuerwerk machen."
Ruth Galinski: "Man wollte Menschen umbringen." Fichter und seine Mittäter waren keine Rechtsextremisten, wie damals die Polizei zunächst annahm und wie es wohl auch zu vermuten gewesen wäre. Sondern sie kamen aus einer zur äußersten Gewalt bereiten linken Splittergruppe im Umfeld des SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, den sogenannten "Tupamaros" West-Berlin. Es war ein antisemitisch motivierter Anschlag von links. Die Autorin Regina Leßner:
"Es ging darum, dass ich mir nicht wirklich einen antisemitischen Anschlag von links vorstellen konnte. Das ist mir erst im Laufe der Recherche bewusst geworden. Das hat mich schockiert."
Die "Tupamaros" West-Berlin benannten sich nach einer kommunistischen Guerillagruppe in Uruguay, die den bewaffneten Kampf gegen die verhasste Staatsmacht mit Anschlägen, Raubüberfällen, Entführungen und auch Ermordungen führte. Gründer und Wortführer der "Tupamaros" West-Berlin war Dieter Kunzelmann, der berühmte Kopf der legendären "Kommune 1" in West-Berlin. Kunzelmann ließ sich, gemeinsam mit anderen, wie auch dem Bombenleger Albrecht "Abi" Fichtner, von der Fatah im Guerillakampf ausbilden.
Der bewaffnete Arm der PLO betrieb dafür eigens Lager in Jordanien und im Libanon. Leßner schildert in ihrer Dokumentation auch eine Begegnung zwischen Kunzelmann und PLO-Chef Yassir Arafat, der selig davon sprach, dass nun endlich eine deutsche Speerspitze im Kampf für die Sache der Palästinenser gefunden sei. Als ersten Akt ihres "anti-imperialistischen", "antizionistischen" Kampfes, wie sie ideologisch geschult ihre Aktion verbrämten, erkoren die "Tupamaros" das Jüdische Gemeindehaus als Ziel. 31 Jahre nach der Pogromnacht, in der die einstige Synagoge in der Fasanenstraße in Flammen aufgegangen war.
Der "Judenknax"
Micha Brumlik ist Senior Professor am Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Er sagt: "Das war ein Teil der Auseinandersetzung jener undogmatischen Linken, zu der ich mich gezählt habe, mit Gruppen wie den "Tupamaros" Westberlin, insbesondere mit tristen Gestalt von Kunzelmann, der gegen den "Judenknax" agitiert hat."
Dieter Kunzelmann hatte in der "Agit 883", einer linksradikalen West-Berliner Zeitung geschrieben: "Palästina ist für die BRD und Europa das, was für die Amis Vietnam ist. Die Linken haben das noch nicht begriffen. Warum? Der Judenknax."
Judenknax – das meint die Schuldgefühle wegen der Shoah. Micha Brumlik erklärt:
"Da konnte man sehen, dass diese Generation von Linksradikalen sich doch sehr viel weniger von ihrer Elterngenration gelöst haben, als sie wohl selbst geglaubt haben. Schon alleine die Gleichsetzung der Verbrechen mit vielleicht noch so kritisierbarer Politik des Staates Israel gegen die Palästinenser stellt eine Geschichtsklitterung sondergleichen dar."
Regina Leßner hat für ihre Dokumentation im Jahr 2008 mit Bombenleger "Abi" Fichter gesprochen. Der lebte mittlerweile in Schweden. Eine schwierige Begegnung, erinnert sie sich. Er sagte:
"Antisemit, das bin ich nicht, das weiß ich, aber die Distanz zum Zionismus ist immer noch da. Aber gleichzeitig versuche ich mich ja auch zu entschuldigen bei der Gemeinde, dass es mir unglaublich leidtut, dass ich damals bereit war, eine antizionistische Aktion zu machen. Aber niemals ne antisemitische. Ich wusste gar nicht, dass die Kristallnacht war, der Zusammenhang."
Bis in die Mitte der Gesellschaft
In diesem Rechtfertigungsversuch, die Fichter hier im Interview mit Regina Leßner bietet, steckt noch immer das eigentliche Problem: Die Unterscheidung zwischen Antisemitismus und vermeintlich neutraler Kritik an der Politik des israelischen Staates, am Zionismus. Er findet sich heute bis weit in die Mitte der Gesellschaft. Leßner sagt:
"Das war so das letzte, wenn er sagt, er wolle sich bei der Jüdischen Gemeinde entschuldigen und das ist ja auch gar kein antisemitischer Anschlag gewesen. Da muss ich ganz ehrlich sagen, da kann ich doch von Reue nichts empfinden und dann habe ich das Ruth Galinski vorgespielt, und dann brach das aus ihr heraus."
"Was ist das für ein Mensch, der so etwas tun kann? Man kann gar nicht glauben, dass Kinder der Täter so etwas tun. Das Gift scheint immer noch drin zu sein, " sagt Ruth Galinski in dem Radiofeature.
Die Geschichte des Attentats ist auch ein Lehrstück über die Lebenslüge der extremen Linken, über deren Antisemitismus, wie er etwa bei der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof zum Tragen kam.
Ähnlich wie der Anschlag von Halle, aber auch anders
Das versuchte Attentat vom 9. November 1969 hat die damalige Jüdische Gemeinschaft der Bundesrepublik zutiefst geschockt. Ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg, in einer Gesellschaft, die sich gerade erst mühsam sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte, waren Juden wieder ins Visier geraten. Und doch spielte es in der Erinnerungspolitik später fast keine Rolle. Es geriet schnell in Vergessenheit.
Im Rückblick auf das, was vor wenigen Wochen in Halle geschah, erinnert manches in der Choreographie an das Attentat 50 Jahre zuvor: Eine Ideologie, eine gewaltbereite Szene und zum Äußersten bereite Täter. Wenn auch die politischen Vorzeichen andere waren, in beiden Anschlägen auf jüdische Einrichtungen steckt unverhohlener Judenhass. Micha Brumlik verweist aber auch auf einen entscheidenden Unterschied:
"Vor dem Hintergrund dessen, was in Halle passiert ist, ist mir im Vergleich zu dem Anschlag aufs Gemeindehaus bewusst geworden, dass der Anschlag von Halle seit langem das erste antisemitische Verbrechen gewesen ist, das nicht von israelbezogenem Antisemitismus gezehrt hat. Diesmal bedurfte es offensichtlich nicht mehr des Vorwandes, gegen Israel zu sein, sondern nur noch gegen jüdische Menschen und das Judentum gerichtet."
Eine unmittelbare Folge des Bombenanschlags in der Fasanenstraße war die Bereitstellung von Personenschutz für Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde und Schutz jüdischer Einrichtungen. Es war ein notwendiges Signal, das aber auch eine traurige Erkenntnis markierte: Juden sind in Deutschland wieder gefährdet.
Keine Akten des Verfassungsschutzes mehr vorhanden
Der Bombenleger Abi Fichter konnte ab 1979 wieder in die Bundesrepublik einreisen. Die Tat war verjährt. Dieter Kunzelmann, der gegen den "Judenknax" agitiert hatte und sich im Guerillakampf hat ausbilden lassen, kandidierte 1983 als Spitzenkandidat der West-Berliner Alternativen Liste. Ohne, dass er je für seine Verwicklung in das versuchte Bombenattentat von 1969 belangt worden wäre.
Bis heute ungeklärt bleibt die Rolle des West-Berliner Verfassungsschutzes. Der Autorin Regina Leßner beschied der Verfassungsschutz auf Anfrage, dass keine Akten mehr vorhanden seien.
"Es ist einfach so, obwohl diese Bombe Geschichte gemacht hat, ist sie einfach verdrängt worden, aus dem Gedächtnis verschwunden. Vielleicht aus Scham, dass sowas in Deutschland wieder passieren konnte. Ich weiß es nicht."