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Verteilung von Flüchtlingen
"Kein EU-Land außer Malta erfüllt seine Quote"

Der Rechtswissenschaftler Bert van Roosebeke hält die Kritik von EU-Ratspräsident Donald Tusk an den Flüchtlingsquoten für ehrlich. Unstrittig sei in der Union einzig, "dass die Flüchtlinge gehindert werden sollen, nach Europa zu kommen". Eine Gemeinsame Asylpolitik durchzusetzen sei enorm schwierig, sagte er im Dlf.

Bert van Roosebeke im Gespräch mit Dirk Müller | 14.12.2017
    Flüchtlinge durchqueren Mazedonien
    Flüchtlinge durchqueren Mazedonien (dpa / picture alliance / Georgi Licovski)
    Dirk Müller: Wir wollen reden mit dem Finanz-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaftler Bert van Roosebeke vom Forschungsinstitut Centrum für Europäische Politik. Guten Tag!
    Bert van Roosebeke: Guten Tag, Herr Müller.
    Müller: Herr van Roosebeke, ist es ehrlicher, beim Thema Flüchtlinge das Ganze einfach zu streichen?
    van Roosebeke: Ehrlich ist das, was Herr Tusk macht, auf jeden Fall. Er hat letztlich in ein Wespennest gestochen, wovon eigentlich auch jeder wusste, dass das ein Wespennest ist. Daher finde ich das eigentlich auch ehrlich und transparent von Herrn Tusk. Ich denke, dass bei der EU, mindestens bei Herrn Tusk, vielleicht noch nicht unbedingt bei der Kommission, die Erkenntnis gereift ist, dass es schwierig sein wird, die Ungarn, Polen oder auch Tschechien dazu zu verpflichten, diese Flüchtlinge aufzunehmen, obwohl sie natürlich rechtlich dazu verpflichtet wären. Aber wie will man das faktisch machen.
    Müller: War das Ganze von Beginn an kontraproduktiv?
    van Roosebeke: Das wird sich zeigen. Die Bewegung, die wir langsam sehen, auch aus Osteuropa ist, dass man auch da letztlich einen Kompromiss finden will. Die Signale, die wir von dort hören, sind, dass man dann vielleicht auf die tatsächliche Aufnahme von Flüchtlingen verzichten will und dafür irgendwelche Gelder hin und herschiebt. Sprich, salopp gesagt dafür bezahlt, dass man keine Flüchtlinge aufnehmen will. Ob die anderen Länder, auch Deutschland und die anderen westeuropäischen Länder, da mitmachen wollen, das wird heute sicher sehr kontrovers diskutiert werden. Aber dass die Diskussion stattfindet, das ist, glaube ich, mehr als notwendig.
    "Tusk stellt nur den Aspekt der Quoten als Unterteil des ganzen Systems in Frage"
    Müller: Herr van Roosebeke, wir haben vor Wochen hier in der Redaktion auch Zahlen gefunden, wonach ganz viele Länder, auch Deutschland, aber erst recht Frankreich, Spanien, Portugal, dass sich kein Land bislang an diese Quotenregelung hält – dahingehend, dass alle ihre zugesagten Kontingente erfüllt haben. Täuscht jeder?
    van Roosebeke: Das ist richtig. Malta erfüllt die Quote, die anderen Länder nicht. Daher ist sicher wie gesagt diese Diskussion nicht ganz ehrlich. Auch Deutschland erfüllt die Quote nicht, wobei es noch mal eine Diskussion darüber gibt, welche dieser über 100.000 Flüchtlinge dann tatsächlich von der Quote betroffen sind. Da gibt es noch mal eine sehr technische Diskussion. Aber lange Rede, kurzer Sinn: Mit Ausnahme Maltas – kein Land der EU erfüllt heute seine Quote. Auch deswegen ist es wirklich nur ehrlich von Tusk zu sagen, so kann es nicht weitergehen. Das bestehende Programm läuft aus, ja. Jetzt müssen wir darüber sprechen, ob wir das Programm erneuern, noch mal das gleiche Spiel durchführen. Und bevor wir uns wieder zwei Jahre in die Tasche lügen, wäre es vielleicht doch sinnvoll, einfach offen und transparent zu reden, wie wollen wir das jetzt wirklich künftig lösen.
    Müller: Ein Asylsystem, was europaweit gleichrangig, gleichberechtigt funktioniert, ist das realistischer?
    van Roosebeke: Das wird auf jeden Fall sehr umstritten sein. Man muss Tusk auch zugutehalten, dass er das nicht ablehnt. Es wird manchmal so dargestellt, als ob Tusk jetzt sagt, das Problem sollten alle Nationalstaaten der EU alleine lösen. Das macht er nicht. Er sagt, er steht zur Notwendigkeit eines gemeinsamen EU-Asylsystems. Er stellt nur diesen Aspekt der Quoten als Unterteil dieses ganzen Systems in Frage. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es auch enorm schwierig sein wird, gemeinsame Kriterien zu finden, wie man eine EU-Asylpolitik durchsetzen will. Schon in Deutschland haben wir eine Besonderheit, indem das letztlich in unserem Grundgesetz steht, was in anderen Ländern natürlich nicht der Fall ist.
    Müller: Wenn wir das aber jetzt seit Jahren hören, dass die Europäer solidarisch sein sollen – die Europäer selbst sagen das ja, die Staats- und Regierungschefs -, wir sollen helfen, sagt jetzt die Europäische Kommission, den Italienern und vor allem auch den Griechen, dementsprechend die Flüchtlinge zu versorgen, die Flüchtlinge adäquat unterzubringen. Und da passiert seit zwei Jahren so gut wie gar nichts, bis auf diesen Beschluss, über den wir gerade geredet haben, lügen die sich alle selbst in die Tasche?
    van Roosebeke: Da ist schon was passiert. Wir haben ein bisschen Grenzschutz in die Wege gebracht etc. Aber letztlich ist Solidarität natürlich eine Floskel. Jeder Mitgliedsstaat der EU ist da sehr egoistisch und hat hier auch seine eigenen Interessen und seine eigene Wählerschaft und richtet sich danach. Solidarisch ist man vor allem dann, wenn man Hilfe bekommt. Das war schon immer so in der EU und das wird auch immer so bleiben. Deswegen, glaube ich schon, sollten wir uns da nicht allzu viele Illusionen machen.
    "Unstrittig, dass Flüchtlinge daran gehindert werden sollen, nach Europa zu kommen"
    Müller: Sie sind da völlig nüchtern und sagen, das dauert jetzt noch jahrelang, im Grunde wird das nicht gelöst?
    van Roosebeke: Ich sehe, dass man versuchen wird, die Flüchtlinge überhaupt daran zu hindern, zu uns zu kommen, so dass sich diese Verteilungsfrage nicht in dem Ausmaß stellt, wie sie sich gestellt hat.
    Müller: Das ist das einzige, was offenbar unstrittig ist, dass die Flüchtlinge im Grunde daran gehindert werden sollen, nach Europa zu kommen.
    van Roosebeke: Ja, aber das wird durchaus einige Euros kosten. Und die Frage ist auch, wie diese Lasten verteilt werden können, und auch da wird sich zeigen, in welchem Ausmaß verschiedene Länder, auch unterschiedliche wirtschaftliche Stärken bereit sind, sich an diesen Kosten des Fernhaltens zu beteiligen.
    Müller: Und dieses umstrittene, so fragwürdige Abkommen mit der Türkei steht aufgrund dessen, wie Sie es gerade beschrieben haben, überhaupt nicht zur Disposition? Das heißt, das wird nach wie vor Milliarden kosten und wir werden die auch weiterhin gerne aufbringen?
    van Roosebeke: Danach sieht es im Moment aus. Das zeigt auch ein bisschen, wie soll man sagen, die Unehrlichkeit der Debatte. Wir reden jetzt hier lange über die Verteilung von Flüchtlingen. Das sind natürlich Zahlen, die nicht unerheblich sind. Aber wenn man sich die gesamte Thematik anschaut, ist das nicht das Entscheidende. Es wäre wichtiger, wenn wir wirklich bei den anderen Fragen, gemeinsame Asylpolitik, Rückführung von Flüchtlingen etc., wenn wir da weiter vorankommen würden und da auch eine gemeinsame Meinung finden würden in der EU.
    Müller: Herr van Roosebeke, jetzt müssen wir beide auch noch über Brexit reden. Das steht auch heute und morgen wieder ganz oben auf der Tagesordnung. Dort hat es auch verschiedene Entwicklungen gegeben: Einerseits ein bisschen Optimismus, dass London einlenkt, dass London auf Brüssel zugeht. Andererseits durch die Entscheidung im britischen Parlament gestern, wonach sämtliche Entscheidungen der britischen Regierung wieder unter Vorbehalt stehen, unter Parlamentsvorbehalt, wenn wir das so einmal interpretieren wollen. Das macht die ganze Sache wieder komplizierter. Bekommen wir den Brexit so wie vorgesehen hin?
    van Roosebeke: Ich glaube, dass passieren wird, dass wir jetzt heute die zweite Phase anfangen werden, und dass wir dann sehr schnell verhandeln werden über ein Übergangsabkommen. Da wird man sich zwei Jahre Ruhe verschaffen. Ich denke, dass wir schon beim Gipfel im Oktober 2018 eine Einigung über das Übergangsabkommen finden werden. Das muss dann in allen Staaten der EU, nicht nur in Großbritannien, aber in allen Staaten der EU ratifiziert werden. Dann hätten wir zwei Jahre mehr oder weniger Fortsetzung der bisherigen Situation.
    Brexit: "Briten haben sich in extrem ungemütliche Lage manövriert"
    Müller: Ist das gravierend?
    van Roosebeke: Das wird nicht so ganz einfach sein, in Großbritannien das zu verkaufen. Es wird heißen, dass die Briten weiterhin in den EU-Haushalt einzahlen werden müssen, aber an keiner einzigen Entscheidung im Europäischen Ministerrat, sprich EU-Gesetzgebung sich wirklich beteiligen können. Und das wird der Preis sein, den die Briten bezahlen müssen, um zwei Jahre lang kein Cliff-Szenario zu haben.
    Müller: Und Sie glauben wirklich, dass das die Engländer mitmachen?
    van Roosebeke: Ich glaube, ja. Ich glaube, die Briten haben gesehen, dass sie sich in eine Lage manövriert haben, die einfach extrem ungemütlich ist. Und entweder stürzt die britische Regierung, oder die derzeitige Regierung wird das irgendwie durchsetzen im britischen Parlament.
    Müller: Aber auch die deutsche Seite beispielsweise kann ja kein ernsthaftes Interesse daran haben, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zum Vereinigten Königreich schlechter werden.
    van Roosebeke: Schlechter werden werden sie auf jeden Fall.
    Müller: Auf jeden Fall?
    van Roosebeke: Die werden auf jeden Fall schlechter werden. Wir werden die wirtschaftlichen Bindungen zu Großbritannien nicht aufrecht erhalten können, so wie sie derzeit sind. Das ist völlig unmöglich. Aber auch Deutschland hat ein enormes Interesse daran, auch die deutsche Wirtschaft, erst mal zwei Jahre lang ein klares Szenario zu haben und zu wissen, okay, der Warenhandel, der Dienstleistungshandel mit Großbritannien kann zumindest zwei Jahre lang fortgehen, so wie es bis jetzt der Fall ist. Was danach ist, das steht auf einem ganz anderen Blatt, und darüber wird man sich richtig intensiv streiten. Aber das ist heute, über zwei Jahre nach dem Referendum, immer noch zu früh, um wirklich zu sagen, in welche Richtung es dort gehen wird.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.