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Vertical Farming
Pflanzen vom Fließband

Agrartechnik. - In nur wenigen Jahrzehnten werden zwei Drittel der Menschheit in dicht bebauten Städten leben. Sie wie bisher durch Landwirtschaft vor den Toren der Stadt zu ernähren, wird nicht funktionieren. Daher werden Konzepte für den Anbau in Ballungsräumen entwickelt. Eins davon nennt sich "vertical farming". Am University Technical College in Wigan bei Manchester läuft eine Pflanzenfabrik, integriert in eine Schule, die urbane Landwirtschaft praktizieren und weiterentwickeln soll.

Von Lydia Heller | 04.09.2014
    Im Erdgeschoss des University Technical College riecht es nach Tomatensoße.
    "Hey Sarah, hi Michael!"
    "Hi!"
    Es ist Mittwoch-Vormittag, für Sarah Movena und Michael Porter beginnt der Unterricht heute in der Küche von Steve Muffets. Auf dem Stundenplan: Rezepte entwickeln.
    "Wir machen heute Minestrone. Also – Möhren putzen, Zwiebeln schälen. Wir nehmen auch ein paar Kräuter von oben."
    Mit dem Küchenmesser deutet Muffets an die Zimmerdecke. Genau über ihnen, im zweiten Stock des frischsanierten Gründerzeitgebäudes, bauen die College-Studenten seit rund einem Jahr ihr eigenes Gemüse an. In der "vertical farm": einem nur 16 Quadratmeter großen Raum mit einer hohen Fensterfront, in dem Förderbänder stehen, die bis in die nächste Etage reichen. An ihnen sind breite, übereinander angeordnete Pflanzschalen aus Metall befestigt. Lägen sie nebeneinander, würden sie eine Fläche von 36 Quadratmetern bedecken. Alles ist blitzsauber, Laboratmosphäre.
    "Wir haben hier zwei vertikale Fließbänder. Sie rotieren und brauchen für eine Runde circa eine halbe Stunde. Die Pflanzen fahren hoch zur nächsten Etage und wieder runter. Wir wollen das Sonnenlicht so gut wie möglich ausnutzen, um Energie zu sparen. Wenn die Sonneneinstrahlung nicht ausreicht, nutzen wir künstliches Licht – nachts zum Beispiel."
    6000 Quadratmeter Anbaufläche auf 16 Quadratmeter Grund
    Auf diese Weise kann hier im Raum im Jahr dieselbe Menge produziert werden, wie auf rund 6000 Quadratmetern Ackerfläche im Freien. Sagt Robert Houghton, Masterstudent für Pflanzenproduktion, der die Anlage betreut. Draußen gibt es schließlich nur einen Anbauzyklus – hier wird jeden Tag gesät, gepflanzt, geerntet.
    "Zwölf Monate im Jahr. Es ist eine Fließbandproduktion, man tut auf der einen Seite Samen rein und hinten kommen Pflanzen raus."
    Der junge Mann trägt weiße Laborkleidung.
    "Gemüseanbau wird immer weniger ein Beruf, bei dem man sich die Hände schmutzig macht. Es wird immer wissenschaftlicher."
    Seit zwei Stunden schon ist Houghton hier, hat nach den Pflanzen geschaut, die Anlagen geprüft und Samen in Schwämme aus Torf und Borke gesteckt. In einem Extra-Raum werden sie zu neuen Setzlingen gezogen – und später, in den Pflanzschalen, in ein Hydrokultur-Granulat gepflanzt. Dem werden alle nötigen Nährstoffe zugeführt – Fruchtpflanzen werden manuell mit einem Pinsel bestäubt. Erde braucht man hier nicht mehr, Tages- und Jahreszeiten spielen keine Rolle.
    "Im Moment haben wir Pak Choi, Koriander und Basilikum. Außerdem Rotkohl, Chilis, Paprika und Sellerie."
    Und zwar pestizid- und gentechnikfrei, erklärt Houghton. Besonders gut wachsen Blattgemüse und Kräuter, Erbsen und Bohnen. Populär ist die Idee vor allem in den Mega-Cities Asiens – und in Japan, wo nach der Fukushima-Katastrophe viele landwirtschaftliche Nutzflächen unbrauchbar geworden sind.
    "Eine Vertical Farm funktioniert ähnlich wie ein Gewächshaus. Mit dem Unterschied: Wir orientieren uns nach oben – und brauchen dadurch viel weniger Platz. Das ist wirklich urbane Landwirtschaft, die in großen Städten möglich ist."
    Inzwischen ist es Mittag, Steve Muffet wartet auf sein Basilikum. Studenten aus dem Abschlussjahrgang sind in die Farm gekommen, um bei der Ernte zu helfen.
    "Weißt du, wie du es schneiden musst?"
    "Nein."
    Während die Studenten Basilikum ernten, sitzt Robert Houghton in seinem Büro am PC. Die Vertical Farm ist ein selbstregulierendes System: Sensoren messen Raumtemperatur, Luftfeuchtigkeit, Lichtintensität. Erreicht ein Wert eine kritische Größe, werden Fenster automatisch geöffnet oder geschlossen oder künstliches Licht zugeschaltet. Auch die Düngerzufuhr wird per Computer reguliert, die Bewässerungsmengen und -intervalle. Rückstände und Abwässer gibt es so gut wie keine.
    "Morgens pumpen wir Wasser in Gießbehälter und lassen es verteilt über sechs Stunden in die Pflanzschalen fließen. Die Pflanzen ziehen sich heraus, was sie brauchen – das Abwasser führen wir wieder in den Kreislauf zurück. Wir verbrauchen rund 90 Prozent weniger Wasser als in der traditionellen Landwirtschaft."
    Bernards Edmunds betritt das Büro - ein Geschäftsmann, der sich am College um die Finanzen und Öffentlichkeitsarbeit kümmert. Rund eine Viertelmillion Euro hat das Technical College in die Farm investiert, erzählt er, über Sponsorenverträge mit Supermarktketten soll jetzt ein Teil des Geldes zurückfließen.
    "Wir hatten schon ein paar Vertreter hier, sie sagten: 'Superidee - aber wir kommen nächstes Jahr wieder, wenn ihr mehr über Kosten und Erträge sagen könnt.' Wenn wir nachweisen können, dass die Farmen wirtschaftlich arbeiten können, dann kann man sich vorstellen, dass in zehn bis zwanzig Jahren Mini-Farmen auf den Dächern von Supermärkten Gemüse direkt vom Dach ins Regal liefern. Keine langen Lieferwege mehr, super für die Klimabilanz. Und: frischer geht es doch nicht!"