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Verwaiste Eltern

Sehr klar und ohne Umschweife setzt Piet Frans Thomése in seinem Buch Schattenkind den Ton seiner Betrachtungen, mit der kurzen Passage Fehlendes Wort:

Von Volkmar Mühleis | 05.01.2005
    Eine Frau, die ihren Mann begräbt, wird Witwe genannt, ein Mann, der ohne seine Frau zurückbleibt, Witwer. Ein Kind ohne Eltern ist eine Waise. Wie aber heißen Vater und Mutter eines gestorbenen Kindes?

    Der sprachliche Freiraum, den der niederländische Schriftsteller sich mit der Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit seiner früheren Romane und Erzählungen erworben hatte, schrumpft in dieser Frage auf die blanke Notwendigkeit einer Antwort. Auch gibt es kein geeignetes Wort, so suchte er doch nach einer angemessenen Beschreibung, seit seine eigene Tochter mit einem Monat verstorben war. In kleinen Abschnitten verfolgte er Spuren, um das schmerzliche Ereignis in Worte fassen zu können - in selbsterlebten Eindrücken, literarischen Vergleichen und philosophischen Meditationen:

    Eine wichtige Hilfestellung war für mich das Wohltemperierte Klavier von Bach. Darin kommen zweimal alle Tonarten in Dur und Moll vor, in 48 Fugen und Präludien. In meinem Buch handeln die Präludien von der Geburt und die Fugen vom Tod. Ich wollte das Schema allerdings nicht völlig übernehmen - also habe ich 49 Texte geschrieben. Eine weitere Anregung war Das periodische System von Primo Levi, wie er anhand der chemischen Elemente Themen aus seinem Leben beschrieb. Sein Buch war ein Versuch, die Zeit in Ausschwitz als Teil seines Lebens zu betrachten, nicht als sein Endpunkt. Ich wollte nicht, dass der Tod unseres Kindes das letzte Wort ist.

    Thomése befragt bekannte Formen und Geschichten auf ihre Aussagekraft für das Persönlichste, das er gestalten will. Findet er bei den Kindertotenliedern von Mahler oder der literarischen Finesse von Nabokov oder Flaubert eine Antwort, wenn sie etwa vom Tod eines Kindes berichten? Nein. Eher stützt er sich auf einzelne Wendungen von Stefan George oder Paul Celan. Gleichermaßen durchwebt er seine Erfahrungen mit vertrauten Schilderungen: Die gehetzte Fahrt mit der Tochter zum Krankenhaus enthält Züge der biblischen Flucht nach Ägypten. Daneben stehen autobiographische Reflexionen, ohne Verweise - was es bedeutete, Vater zu werden, was es hieß, selbst Kind zu sein. Diese schlichten Aufzeichnungen bildeten auch den Anfang von Schattenkind:

    Dieses Buch habe ich vor allem für meine Frau geschrieben, dass sie als Leserin sich darin wieder finden würde. Wenn jemandem so etwas zustößt, wie wir es erfahren haben, dann spricht man darüber nicht mal eben beim Abendessen. Man wagt es nicht einmal auszusprechen, weil wenn man es sagt, scheint es wahr zu sein, und man will nicht, dass es wahr ist. Man schweigt lieber, damit es noch unmöglich erscheint. Schreiben ist dabei eine indirekte Form zu reden. Also habe ich meine ersten Notizen meiner Frau gezeigt, und sie ermutigte mich, weiter zu schreiben. Diese Texte sind eigentlich Briefe an meine Frau - das ganze Buch ist ein schweigend geführtes Gespräch mit ihr.

    Die poetischen Miniaturen, aus denen das Buch besteht, vereinen die bedachtsame Nüchternheit - mit der der Autor sich vergewissert - und die starke Bildlichkeit, in die er das Geschehen überführt. So beschreibt er zum Beispiel den Augenblick, in dem seine Frau nocheinmal das tote Kind hält, in Anlehnung an das Bild der Pietà:

    Und plötzlich waren deine Arme so leer, da hast du den kleinen Leichnam hochgehoben und an dich gedrückt, und so wiegtest du dich selbst zur Ruhe. Währenddessen lernte ich, neben dem kalten, knitterlosen Bettchen sitzend, endlich den Geschmack von Muttermilch kennen. Mandeln, stellte ich fest, und dann noch etwas Schafiges. Bedächtig schluckte ich die Substanz hinunter. Als nähme ich Medizin ein und hoffte, die dazu passende Krankheit zu haben. Willst du es, das Baby, die kleine Tote, das tote Baby? Willst du es jetzt mal halten, fragtest du. Es ist so schwer, es ist so schwer zu tragen. Nein, das sagtest du nicht. Du fragtest: Willst du unser Kleines jetzt mal halten? Unser Mädchen, sagtest du. Willst du unser kleines Mädchen mal halten? Jetzt geht es noch, gleich kommt die Visite, jetzt sind wir noch zusammen.

    Die Gefasstheit beginnt in der Sprache. Das ist die Eindringlichkeit, die dieses Buch vermittelt. Sie zu erlangen, bezieht sich Thomése auf tradierte Gestalten und Geschichten, doch er macht sich nicht abhängig von ihnen, er gewinnt vielmehr eine eigene, unverwechselbare Stimme, die sich ebenso von seinen bisherigen Werken unterscheidet. Wie weit hat dieser Erzählband den 46-jährigen Autor in seinem Schreiben verändert?

    Als junger Mann glaubt man ein Herrscher sein zu können, doch wenn man ein Kind bekommt, wird man zum Diener - man dient dem Leben. Die Demut darin hat etwas sehr Berührendes: Dass man erkennt, es dreht sich nicht alles um einen selbst - solange sieht man auch nicht, was tatsächlich in der Welt geschieht. Dies hat sicher mein Schreiben beeinflusst: die Dinge nicht mehr beherrschen zu wollen. Nietzsche zum Beispiel - mit seiner vehementen, besitzergreifenden Sprache - habe ich immer bewundert. Doch jetzt geht es mir vieleher darum, dem Leser eine Sprache zur Verfügung zu stellen, aus der er selbst schöpfen kann.

    Schattenkind ist ein ungewöhnliches Buch: Es ist eine überaus verdichtete Übung in sprachlicher Trauerarbeit, ein schmaler, unscheinbarer Band, der die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich zieht, entgegen allen Rezepten vermeintlich publikumswirksamer Literatur. Kein anderer Prosaband hat im vergangenen Jahr in den Niederlanden so viel Anerkennung gefunden - bei Lesern, Kritikern und Autoren -, und es überrascht nicht, dass Piet Frans Thomése auch hierzulande nun erstmals größere Beachtung geschenkt wird. In 49 Variationen hat er es vermocht, Kunst und Authentizität in eins zu setzen.