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Verzicht auf realistische Erzählweisen

Juan José Millás, 1946 in Valencia geboren und in Madrid aufgewachsen, hat sich als Dramaturg, Erzähler und Romancier einen Namen gemacht. In "Meine Straße war die Welt" schreibt Millás über seine Kindheit unter Franco - und über das engmaschige Netz der Bespitzelung und Erniedrigung.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 07.06.2010
    Ich war verpflichtet, die Geschichte der Welt zu erzählen, das heißt, die Geschichte meiner Straße, denn in diesem Moment begriff ich, dass meine Straße eine Imitation, ein Abbild, eine Kopie, vielleicht eine Metapher der Welt war.

    Zu dieser Erkenntnis kommt Juanjo, die Hauptfigur des Romans, auf einer Taxifahrt zu jenem Stadtviertel am Rand von Madrid, in dem sich die Straße seiner Kindheit, die Calle de Canillas befindet. Als Jugendlicher wollte er das ärmliche Viertel hinter sich lassen, die Gefühlskälte seiner Familie, die soziale Ausgrenzung, das engmaschige Netz der Bespitzelung und Erniedrigung. Als Erwachsener wird er als erfolgreicher Schriftsteller auf Lesereisen in New York, Quito oder Bogotá von Erinnerungen an diese Straße heimgesucht. Sie wird zur zentralen Metapher einer Kindheit und Jugend unter dem Franco-Regime (1939-1975), das in ganz Spanien Duckmäuser und Jasager hervorbrachte, die Opposition knebelte, Linke, egal, ob Kommunisten oder Anarchisten, als potenzielle Staatsfeinde beschattete und bespitzelte.

    Juanjo hatte mit seinen Eltern und neun Geschwistern in der Calle Canillas in einem heruntergekommenen Haus gelebt, nachdem die Familie 1952 von Valencia nach Madrid umgezogen war. Der Vater war ein talentierter Tüftler, der sich neben dem Haus eine Werkstatt für elektromedizinische Geräte eingerichtet hatte, die Mutter war tablettensüchtig und manisch depressiv.

    Doch was unterscheidet diesen Roman von denen eines Juan Goytisolo, Juan Marsé und anderen namhaften Schriftstellern, die bereits viel früher ihre Kindheit unter Franco beschrieben hatten? Der weitgehende Verzicht auf realistische Erzählweisen, die Vorliebe für Situationen und Empfindungen, die eine umfassendere Wahrnehmung begünstigen, die Konzentration auf die Pathologien und Auswüchse einer beklemmenden und beengten Normalität, wie sie Juanjo in der öden Madrider Vorstadt erlebte. Für Juan José Millás ist das, was man gemeinhin unter Realität versteht, nur eine weitere Fiktion, da unsere sich ständig verändernde Wahrnehmung vom Blickwinkel des Betrachters abhängt, der körperlichen und seelischen Verfassung. Er selbst hält sich an die Maxime, dass man grundsätzlich alles ebenso gut aus der umgekehrten Perspektive betrachten und beschreiben kann. Sein Hauptaugenmerk gilt den Tücken, Stolpersteinen, ja den Abgründen, die sich unversehens im Alltag auftun. Seine Romanfiguren leiden an einem Körper, der von einem auf den anderen Moment nicht mehr wie gewohnt funktioniert. Sie werden von Atemnot, Herzrasen, Müdigkeit und Kälte geplagt. Diese Körperempfindungen führen zu Panik und Paranoia, klaustrophobischen Zuständen und Halluzinationen. Gelegentlich auch zu einer Art Fieberwahn, den Juan José Millás wie folgt beschreibt:

    Das Wort Fieber ist das Schönste der Sprache (Fieber, Fieber, Fieber) Keine der Drogen, die ich später im Lauf meines Lebens ausprobierte, verschaffte mir die halluzinogenen Erfahrungen des Fiebers. Es müssten fiebererzeugende Tabletten im Handel sein. Nicht sehr hohes Fieber – die acht oder neun Zehntelgrade, die uns der Wirklichkeit entfremden. Ich erinnere mich an jedes einzelne Mal, da mich die Welt durchs Fieber hindurchgesehen hat. Natürlich habe ich jeweils von der Angina Fieber bekommen, aber ebenso vom Lesen bestimmter Bücher.
    Der Roman ist gespickt mit tiefschürfenden Reflexionen über die Funktion und Wirkung von Literatur, die der erwachsene Juanjo, der erfolgreiche Schriftsteller anstellt. Der weiß sehr wohl, dass er nur dank seiner Vorstellungskraft die Distanz zur Straße seiner Kindheit vergrößert hat, ohne sich je völlig von ihr zu lösen. Seine Neugier und Fantasie bewahren ihn vor Resignation und Konformismus. Schon als Junge war er regelrecht süchtig nach einem anderen Blick auf die Straße seiner Kindheit. Heimlich stahl er seinem Vater ein bisschen Geld aus dem Portemonnaie und zahlte damit den Eintritt, den sein geschäftstüchtiger Freund vitaminreich für den Zutritt zum Keller seines Hauses verlangte. Durch das Gitter des Kellerfensters konnte man den vorübergehenden Mädchen unter die Röcke schauen, was im erzkonservativen Spanien schon eine kühne Annäherung an das andere Geschlecht war. Juanjos schüchterne Annäherungsversuche an María José, seine gescheiterte Jugendliebe, der er später in Madrid und New York wieder begegnete, beschreibt Juan José Millás in diesen Worten:

    Eines Tages versuchte ich unterwegs zu unserer Straße, ihre rechte Hand zu berühren. Die Entscheidung, mit der rechten zu beginnen, hatte ich getroffen, weil ich dachte, für sie als Linkshänderin sei es die periphere, weniger sensible oder wichtige Hand als die linke. Logischerweise sträubte sie sich und behauptete, was ich da mit ihr zu tun versuche, sei eine Todsünde. Und zu meiner Verwirrung fügte sie hinzu, von den ersten Exerzitien an habe sie zu leben gelernt, als stürbe sie in der nächsten Minute. Wenn man sich daran gewöhnte, so zu lieben, als stürbe man in der nächsten Minute, änderten sich sämtliche Vorlieben (heute würden wir sagen Prioritäten).
    Mindestens ebenso problematisch, wie diese verklemmte Jugendliebe wird für Juanjo der Umgang mit der Asche seiner verstorbenen Eltern. Ihrem Letzten Willen entsprechend soll sie am Strand von Valencia verstreut werden. Allerdings wird am Madrider Flughafen aus diesem an und für sich simplen Vorgang aufgrund der rigorosen Sicherheitskontrollen ein aberwitziges, zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, sodass er die Asche mit dem Auto nach Valencia bringen muss. Diese und ähnlich absurde Szenen gehören zu den Juwelen des Romans. Überhaupt kommen bei Juan José Millás die Liebhaber von Sprachspielereien, schwarzem Humor, grotesker Situationskomik und parodistischer Übertreibungen voll auf ihre Kosten. Mit der gleichen Präzision wie Juanjos Vater einst das elektrische Skalpell ansetzte, um die Heilung schwärender Wunden einzuleiten, hat Juan José Millás
    Sprach- und Trauerarbeit geleistet und einen wunderbaren Roman geschaffen.

    Juan José Millás: Meine Straße war die Welt
    aus dem Spanischen von Peter Schwaar
    S. Fischer Verlag, Frankfurt
    19,95 EURO