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Verzweifelte Suche nach Gerechtigkeit

"Das Ausmaß der Verbrechen ist so groß, dass selbst ein funktionierendes Rechtswesen an der Zahl der Fälle scheitern würde", so heißt es wörtlich in dem gestern veröffentlichten UN-Bericht über die Menschenrechtsverletzungen während des Kongokrieges.

Von Marc Engelhardt, Nairobi | 02.10.2010
    Im Kongo existiert allerdings, auch sieben Jahre nach dem offiziellen Ende des Bürgerkrieges, kein Rechtswesen. Und so bleiben die Opfer von Folter, Vergewaltigung, Massaker und Misshandlungen ungesühnt. Von Zehntausenden Täter ist die Rede, während die Zahl der Opfer in die Hunderttausende gehe. Die meisten waren Hutu, Frauen, Alte und Kinder, die der mit Ruanda verbündeten Miliz im Osten des Kongos zum Opfer fielen. Die heutige Lage vor Ort:

    Unter der roten Erde im Osten Kongos liegen die Geheimnisse der Vergangenheit begraben. Mit Schaufeln, Flatterband und Pinseln ist die Sondereinheit von Kommissar Amée Byamungu angerückt. Die erst kürzlich zu Forensikern ausgebildeten Beamten sollen nach mehr als 15 Jahren Bürgerkrieg in der Region helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

    "Bis heute fehlt hier der politische Wille zur Aufklärung"
    , beklagt Byamungu:
    "Wir als Polizisten jedenfalls sind bereit, den Opfern der Vergangenheit beizustehen – und für Gerechtigkeit zu sorgen."

    Es ist keine einfache Aufgabe. Gerechtigkeit steht hier im Herzen Afrikas nicht hoch im Kurs.

    Die jüngste Tragödie beginnt 1994. Im nahen Ruanda ermorden Hutu-Extremisten mehr als 800.000 Tutsi. Auch moderate Hutu geraten ins Fadenkreuz: Manche fliehen in den Osten Kongos, andere werden umgebracht. Nach 100 Tagen gelingt es Tutsirebellen unter der Führung von Paul Kagame, den Völkermord zu beenden. Die Extremisten fliehen, wie zuvor ihre Opfer, in den Osten Kongos.

    Zwei Jahre später, 1996, marschiert Ruandas neue Armee im Osten Kongos ein. Die neuen Soldaten sind die ehemaligen Tutsi-Rebellen. Ex-Rebellenführer Paul Kagame ist inzwischen Ruandas Verteidigungsminister. Wenn es stimmt, was Menschenrechtler im Auftrag der Vereinten Nationen zusammengetragen haben, dann mordet die ruandische Armee gemeinsam mit kongolesischen Tutsi-Truppen ähnlich gewissenlos wie einst die Hutu-Extremisten in Ruanda. Zehntausende Hutu, Männer und Frauen, Kinder und Alte, werden dem Bericht zufolge gewissenlos abgeschlachtet. Das Fazit der UN: Im Osten Kongos hat sich womöglich ein zweiter Genozid abgespielt.

    Auf Gerechtigkeit warten die Bewohner von Kiringa seit dem 30. Oktober 1996. Die Toten jenes Tages liegen versteckt im dichten Dschungel.

    Mehr als 350 Leichen sollen hier in einem anonymen Massengrab verscharrt sein.

    "Sie haben die Dorfbevölkerung mit Stricken zusammengebunden und die Hände gefesselt"
    , erinnert sich Fabien Bibyumuramu, ein Bauer aus Kiringa:
    "Dann haben die Soldaten ihre Opfer zu dem Loch geführt, dass sie vorher ausgebuddelt hatten. Die gefesselten Dörfler wurden mit Prügeln bewusstlos geschlagen und in die Grube geworfen. Manche lebten noch, als sie das Loch mit Erde zugeschüttet haben."

    Auch der Bauer Desiré Balyanishavu erinnert sich genau an die Überfälle. Er ist sicher, dass es sich bei den Tätern um ruandische Soldaten gehandelt hat:
    "Vier Tage lang kamen sie immer wieder und haben gemordet. Sie haben die Leute aus der ganzen Gegend zusammen geholt. Versammlung, Versammlung, haben sie gerufen. Und als alle versammelt waren, haben sie die Bauern umgebracht. Niemand hatte damit gerechnet."

    Mehr als 100 solcher Fälle dokumentiert der UN-Report. In manchen Dörfern wurde die Bevölkerung auf dem Dorfplatz zusammengerufen, dann wurde das Feuer eröffnet. Die am meisten eingesetzte Waffe aber war der Hammer: Den Opfern wurden die Schädel zertrümmert. Von den getöteten Hutu, so sagen die Bewohner, waren die wenigsten flüchtige Völkermörder. Manche waren kongolesische Hutu, andere waren jene Moderaten, die selbst vor den mordenden Hutu-Milizen in Ruanda geflohen waren.

    Experten der UN fanden das Massengrab in Kiringa erst neun Jahre nach dem Massenmord. Der Fund dieses Massengrabs und kurz darauf zweier weiterer war der Anstoß für die Untersuchung, deren Ergebnisse die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte gestern in Genf vorgestellt hat. Jahre lang hatten die Bewohner von Kiringa geschwiegen. Aus gutem Grund, sagt Desiré Balyanishavu:

    "Wenn wir den Mund aufgemacht hätten, wem hätten wir uns schon anvertrauen können? Die Verbündeten derer, die damals gemordet haben, sind an der Regierung. Erst als die UN kamen, haben wir uns getraut, etwas zu sagen."

    Als er von den Ergebnissen des Berichts hörte, hat der Bauer Balyanishavu kurz an Gerechtigkeit geglaubt. Doch Gerechtigkeit, das ist für jeden etwas anderes. Ruandas Regierung ist über den Vorwurf empört, ruandische Truppen wären an einem solchen Massenmord beteiligt gewesen. Der UN-Report sei eine "Beleidigung der Geschichte". Ex-Rebellenführer Paul Kagame, inzwischen Ruandas Präsident, droht den UN kurzzeitig sogar mit dem Abzug eigener Blauhelm-Soldaten:

    "Wenn Sie mir sagen, im Osten Kongos sind Hutu gestorben und deshalb habe sich dort ein Völkermord ereignet – wie kommen Sie zu diesem Schluss? Das war ein Krieg und ja, wer kämpft, stirbt. Hutus sind gestorben, und andere auch. "

    Der Vorwurf, Ruandas heutige Regierung könnte eines Völkermordes schuldig sein, erschüttert ihr Selbstverständnis bis ins Mark. Kagame sieht sich und seine Rebellen als Befreier. Die Tutsi waren 1994 die Opfer – die Hutu Täter. Dass die Opfer zu Tätern geworden sein könnten, passt nicht ins Bild. Als manipuliert bezeichnet Kagames Regierung den UN-Bericht deshalb, vor allem auf Gerüchten basierend und methodisch unzureichend.

    Von Vergangenheitsbewältigung, einem konstruktiven Umgang mit der Geschichte gar, ist man noch weit entfernt. Vielleicht auch deshalb, weil die Gegenwart zu blutig ist. Der Osten Kongos ist bis heute Bürgerkriegsgebiet, in dem verschiedenste Gruppen ihr Unwesen treiben. Jeden Tag gibt es Tote. Ganze Dorfgemeinschaften werden vergewaltigt, ohne dass es Außenstehende mitbekommen. Tutsi-Rebellen, die noch vor einigen Jahren brutal mordeten, sind inzwischen Teil von Kongos Armee. Wie die Hutu-Extremisten, so terrorisieren auch sie die Bevölkerung. Eric Ndayisenga hat für die ruandischen Hutu-Extremisten gekämpft. Er fühlt sich zu Unrecht verurteilt:
    "Man muss verstehen, wie viele Interessengruppen es hier gibt. Es gibt Mai-Mai-Gruppen aus dem Kongo, burundische Rebellen und uns. Wir waren es gar nicht, die die schlimmsten Verbrechen verübt haben, das waren die anderen."

    In einem solchen Umfeld nach den Spuren der Vergangenheit zu graben, ist ein schweres Unterfangen. Immer wieder stoßen die Forensiker auf neue Überreste des Grauens, viele nicht einmal Wochen alt.

    "In unserem Land gibt es so viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit"
    , sagt die Kriminalkommissarin Chantal Banye:
    "Besonders oft sind Frauen die Opfer, für die möchte ich mich mit meiner Arbeit besonders einsetzen."

    Chantal Banye gräbt für mehr Gerechtigkeit. Dass unter der roten Erde des Ostkongos noch viele Leichen liegen, daran zweifelt niemand hier