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Vesa Siréns: "Finnlands Dirigenten"
Pultstars mit Schlagseite

Sessions in der Sauna, bierselige Probenzusammenkünfte, schwankende Gestalten am Dirigentenpult: In Vesa Siréns Buch "Finnlands Dirigenten" werden viele gängige Klischees bestätigt. Es ist jedoch weit mehr als eine Anekdotensammlung.

Von Johannes Jansen | 10.07.2017
    Der finnische Dirigent und Komponist Leif Segerstam
    Der finnische Dirigent und Komponist Leif Segerstam (dpa/ picture alliance/ Hermann Wöstmann)
    Rezensent erschlagen! Das könnte das Fazit dieser Buchbesprechung sein. Erschlagen von der Lektüre eines über zwei Kilo schweren Buches, das zu drucken vermutlich mehr als einen Baum aus Finnlands Wäldern verschlungen hat. Bäume und alles was es braucht, um daraus Papier zu machen, sind Finnlands Exportartikel Nummer 1. Die Telekommunikation, vor wenigen Jahren noch des Landes größter Stolz, ist dagegen stark zurückgefallen. Ganz weit vorn aber behauptet sich das Erziehungswesen.
    Sibelius und Kajanus: Väter des finnischen Dirigentenwunders
    Speziell wenn es um Orchester-Erziehung geht, muss man von einem echten Exportschlager sprechen. Salonen, Saraste, Segerstam sind nur drei von vielen finnischen Pultgrößen im internationalen Musikbetrieb. Wie es dazu kam, dass es ihrer so viele sind und Klassik-Agenten bei "Made in Finland" besonders gern zugreifen, ist das Thema dieses Buches. "Suomilaiset Kapellimestarit" heißt es, auf Deutsch: Finnlands Dirigenten. Geschrieben hat es Vesa Sirén, Musikhistoriker und -kritiker sowie Autor zweier Bücher über Jean Sibelius. Nicht weil Sibelius selbst ein so überragender Pultakteur gewesen wäre, muss man ihn als Ausgangspunkt des finnischen Dirigentenbooms betrachten. Die Tatsache aber, dass er zum meistgespielten Sinfoniker des 20. Jahrhunderts wurde, war für viele finnische Dirigenten die Eintrittskarte ins internationale Geschäft. Ihnen mit den Weg bereitet hat der Sibelius in freundschaftlicher Konkurrenz verbundene Robert Kajanus. Als Komponist stand er hinter dem Rivalen und Zechbruder zurück, als Dirigent war er ihm überlegen.
    Unter den finnischen Dirigenten der nächsten Generation, die ins Blickfeld der großen Orchester rückten, sticht der vor fünf Jahren verstorbene Paavo Berglund hervor, als letzter derjenigen, die noch persönlichen Kontakt mit Sibelius hatten. Tatsächlich haben sie sich nur ein einziges Mal getroffen. Aber in Sibelius' Partituren kannte sich Berglund vermutlich besser aus als der Meister selbst.
    Musik: Jean Sibelius, Tapiola
    Alkohol oft ein großes Thema
    Wer von Sibelius und seinen Interpreten spricht, kommt am Thema Alkohol nicht vorbei. Welche Tragweite es hatte, illustriert eine der vielen von Sirén beiläufig erzählten Anekdoten. Es geht um einen Tuba-Spieler, der durch Volltrunkenheit die Uraufführung von Sibelius' "Krönungskantate" ruinierte. So jedenfalls erinnerte sich später der Komponist, der seinerzeit selbst am Pult gestanden hatte. Eine Tuba kommt allerdings in der Kantate gar nicht vor ... Vesa Sirén schlachtet dergleichen nicht genüsslich aus, sondern fügt es gewissenhaft in sein insgesamt wohltuend nüchternes Mosaik des finnischen Dirigentenmythos ein. So inspirierend auch für ihn vielleicht "Der Mythos vom Maestro" war, das hinreißend süffisante Enthüllungsbuch des BBC-Journalisten Norman Lebrecht aus dem Jahr 1991, so wenig färbt dessen Gestus auf Sirén ab.
    Akribisch belegt ist alles, was er schreibt, nachdem er Jahre investiert hat, um zu sammeln und zu sichten, was an Material, sei es in Europa, Amerika oder gar Australien nur irgend erreichbar war. Abgeschmeckt ist das Resultat des Fleißes mit ein paar Spritzern Nationalstolz und auch persönlichen Wertungen, gerade genug, um die Darstellung vor Fadheit zu bewahren und zu zeigen, dass sich die Liebe des Autors zur heimischen Musiktradition nicht unterschiedslos auf alles und jeden erstreckt. An der deutschen Fassung haben verschiedene Übersetzer mitgewirkt und insbesondere bei Kraftausdrücken im Kapitel über Leo Funtek einige Kreativität bewiesen. Anderes gibt Rätsel auf, zum Beispiel wenn es über Susanna Mälkki heißt, sie sei "eine Ausputzerin sogar der komplexesten Partituren".
    Der Ruf Leo Funteks ist zu seinen Lebzeiten über Finnland kaum hinausgedrungen. Aber er war der Lehrer von Jorma Panula und als solcher einer der Väter des finnischen Dirigentenwunders. Es hat viel mit effizienter Schlagtechnik zu tun. Funtek lehrte die Taktstockschwinger, erinnert sich Panula, ein Fortepiano so zu schlagen, dass sich drei Finger der Schlaghand öffnen – einfach, aber anschaulich. Die linke Hand hingegen benutzte er kaum, anders als Panula, dessen dirigentisches Credo lautet: Sag es mit den Händen, denn mit Erklärungen verlierst Du einfach zu viel Zeit! Die videogestützte Ausbildung bei ihm ist freilich alles andere als non-verbal. Das beweist die Bemerkung, dass zwischen ihm und dem heutigen Superstar Esa-Pekka Salonen wie auch all den anderen, die er groß gemacht hat, nie ein Lehrer-Schüler-Verhältnis bestanden habe. Sie seien einfach nur gleich verrückt nach Musik gewesen, sagt Panula, und hätten pausenlos über nichts anderes geredet: im Unterricht, in der Kneipe, in der Sauna.
    Multitalent und Polterer Leif Segerstam
    Zu den erstaunlichsten Dirigentengestalten unserer Zeit gehört der kolossale Leif Segerstam, Panulas Nachfolger an der Sibelius-Akademie in Helsinki, Ehrendirigent der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, Chef-Emeritus des einst von Robert Kajanus gegründeten und heute von Susanna Mälkki geleiteten Philharmonischen Orchesters Helsinki, Schöpfer von inzwischen mehr als 300 Sinfonien und ehemals einer der besten Geiger seines Landes. Alles in einer Person.
    Musik: Leif Segerstam, Trompeten-Konzert
    Eine Neigung zum Exzess und poltrige Umgangsformen werden Segerstam nachgesagt, aber kein Kontrollverlust am Pult. Als Herkules von Helsinki mit überschießenden Hormonen hat ihn die englische Presse charakterisiert. Bringt uns sein Beispiel dem Erfolgsgeheimnis finnischer Dirigenten näher? Wer Siréns Beobachtungen folgt, macht sich ungefähr diesen Reim: Echte Musikbegeisterung, grundsolide Technik und eine im Umgang mit Klangkörpern, die lange Zeit nur etwas bessere Liebhaberorchester waren, gestählte Tradition setzen auch unter widrigen Bedingungen – alkoholbedingte Teil-Ausfälle und andere Disziplinlosigkeiten inbegriffen – erstaunliche Energien frei. Hinzu kommt ein schon seit Jahrzehnten etabliertes System der Talentsichtung und -förderung sowie in Ergänzung zur klassisch-romantischen Standardliteratur ein diesseits des 55. Breitengrades noch kaum erschlossenes skandinavisches Orchester-Repertoire als Tummelplatz für gemeinschaftliche Klang-Erkundungen. Das ist das Klima, das manchen jungen Baum buchstäblich in den Himmel wachsen lässt.
    Vesa Sirén: Finnlands Dirigenten. Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen.
    Bad Vilbel: Scoventa Verlag 2017. 992 S., div. s/w-Abb., 49,90 EUR (ISBN 978-3-942073-42-4)