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Vibrierende Leidenschaft

Berlin, zu Beginn der Nazizeit: Ein Arbeiter hat einen Revolver gekauft, um sich das Leben zu nehmen. Seine früheren Genossen sind zu den Faschisten übergelaufen oder halten still – heute soll sein letzter Tag sein.

Ein Beitrag von Sabine Peters | 30.11.2010
    Und heute zeigt sich das Leben von seiner schönen Seite: Der Abfall in den Rinnsteinen leuchtet, die Luft duftet nach Benzin, und die Pflastersteine verlocken dazu, ihnen die Hände auf die "Schädeldecken" zu legen. Das Leben ist schön, - und es lügt, sagt sich der Mann: Denn auch Schaftstiefel glänzen, auch die Farben von Uniformen leuchten im Sonnenlicht. Er gerät in eine wartende Menschenmenge, und dann fährt in einem offenen Wagen Hitler vorbei; ganz nah sieht der Mann sein Gesicht. Er bekommt Herzrasen, es würgt ihn, ihm wird schwindlig, er fasst den Revolver in der Hosentasche, taumelt, lässt die Waffe fallen.

    Das ist der mehrdeutige Inhalt einer der Kurzgeschichten Wolfdietrich Schnurres; der an Faulkner und Hemingway geschulte Autor bildete in der Form der short story sehr bald einen eigenen, unverwechselbaren Stil aus. Seine Texte kommen schnörkellos und knapp daher, setzen Schlaglichter, arbeiten aber auch mit Andeutung oder Auslassung. Schnurre wirft Fragen auf, ohne sie eindeutig zu beantworten. Dabei ist die Temperatur seiner Geschichten immer entweder heiß oder kalt – lau ist sie niemals.

    "Funke im Reisig" – dieser soeben erschienene, 400 Seiten umfassende Band enthält Kurzgeschichten und Erzählungen aus den Jahren 1945 bis 1965. Der spätere Büchnerpreisträger Schnurre, der von 1920 – 1989 lebte, thematisierte die Verantwortung des Einzelnen in der Nazizeit und die restaurativen Tendenzen in der nachfolgenden Bundesrepublik; auch hier wieder zeigte er Unterwerfungsbereitschaft und Autoritätshörigkeit.

    Warum soll man das heute lesen? Zum Einen aus Interesse an jüngerer Zeitgeschichte, die konsequent aus der Perspektive von "kleinen" Leuten geschildert wird – aber vor allem, weil Schnurre sich als ein herausragender Literat erweist; seine Sprache setzt keinen Staub an: Sie ist stark rhythmisiert; neben weit ausholenden, langen und musikalischen Satzpassagen finden sich gehetzt wirkende Einwortsätze, die den Texten ihr Tempo geben. Die Dialogfetzen sind pointiert und sitzen, sie zeigen manchmal einen spröden Witz. Und die Beschreibungen von Küchen und Kellern, Ruinen und Straßenzügen, Wäldern und Seen sind derartig plastisch, dass der Leser mit allen Sinnen mit dabei ist.

    Schnurre zählte zu den Mitbegründern der legendären Gruppe 47, die nach '45 den radikalen Neubeginn wollte, was dem Verständnis der Autoren zufolge allerdings gerade die Verpflichtung einschloss, das Erbe der deutschen Verbrechen anzunehmen. Als einer der Repräsentanten der "Kahlschlagliteratur" mochte er nicht in hohem Ton auf ein vom Himmel gefallenes Schicksal verweisen. Nüchtern und exakt beschreibt er, wie der Faschismus die Einzelnen in Schuld verstrickt, wie er humanes Verhalten vereitelt, und wie dünn der Zivilisationslack über einer virulenten, massiven Gewaltbereitschaft ist. Der Realismus, dem er huldigt, bleibt erstaunlicherweise nicht immer mit beiden Beinen auf der Erde stehen.

    Die längere Erzählung "Das Haus am See" schildert eine beinahe traumhafte Situation: In einem Dorf rüstet sich alles für das letzte Aufgebot, den Volkssturm; Waffen werden ausgegeben, Frauen und Kinder werden zu Verteidigungsarbeiten herangezogen. Nur der Fischer Tobias beschließt, sich und seine Familie der Geschäftigkeit zu entziehen. Seiner Frau, die wie alle anderen vom Bürgermeister schon zum Gräbenausheben abkommandiert ist, sagt er: Bist du mit mir verheiratet oder mit dem Bürgermeister? Die Frau geht mit ihm. Als einer den Sohn holen will, er werde im Dorf gebraucht, sagt Tobias: Und ich brauch ihn zum Abendbrot. Ob er schon mal von Feigheit vor dem Feind gehört habe? Nein, nie gehört. Während am Waldrand schon Panzer rollen, sucht Tobias Regenwürmer für den nächsten Fischzug, bittet seine kleine Tochter, die Hühner zu beruhigen, und als zuerst die "eigenen", Stunden später die "fremden" Soldaten das Haus betreten, verwickelt der offensichtlich ornithologisch interessierte Tobias sie in Gespräche über Haubentaucher und Rohrdommeln.

    Eine absurde, dabei konsequente und schließlich sogar geglückte Verweigerung. Ein schönes Märchen? Nein. Der provokative Gehalt dieser Geschichte ist nicht zu unterschätzen: Man hört den Aufschrei der Leser, die mit realistischen Einwänden aus eigener Erfahrungen antworten könnten; dieser Widerspruch mündet zuverlässig in den Satz, man habe nichts tun können.

    Der Begriff der "Kollektivschuld" spielte in den Jahren nach ´45 eine wichtige Rolle, auch wenn er umstritten war: Einerseits forderten die Deutschen eine Entlastung vom Vorwurf der kollektiven Schuld, den so allerdings es in der Realtität kaum gab. Auf der anderen Seite konnte man sich in der Behauptung einer kollektiven Schuld auch ganz gut einrichten – "wir alle" setzen uns in Tränen nieder und sind Sünder allzumal. Dabei unterschlägt die Kollektivschuldthese, dass es ja auch durchaus einen Widerstand gab, der mal politisch aufgeklärt, mal "einfach" - einfach? - human war.

    Wolfdietrich Schnurre war kein dezidiert politischer Autor; er war ein pathosfreier Moralist, ein Aufklärer, und seine Texte enthielten reichlich Sprengstoff, sofern sie zu bedenken gaben, dass der Einzelne einen wie immer begrenzten Handlungsspielraum hatte – und dass er eben lange Zeit durchaus ein Nutznießer des Nazisystems war.

    "Funke im Reisig", diese Kurzgeschichten und Erzählungen sind im Duktus kühl und diszipliniert – darunter allerdings vibriert es vor Leidenschaft. Schnurre verdient auch heute eine breite Leserschaft.

    Wolfdietrich Schnurre: "Funke im Reisig. Erzählungen von 1945 – 1965". Berlin-Verlag, 412 Seiten, Euro 24,90