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Victor Margueritte: "La Garçonne"
Die Zwanzigerjahre in Paris

Victor Marguerittes wiederentdeckter Roman erzählt von einer jungen Frau, die mit bürgerlichen Konventionen bricht und ein emanzipiertes Leben führt - nicht zufällig im Paris der wilden Zwanzigerjahre. "La Garçonne" überzeugt noch heute durch seine Liberalität und Menschenfreundlichkeit.

Von Dirk Fuhrig | 24.04.2020
Der französische Schriftsteller Victor Margueritte, Autor des Buchs "La Garçonne"
"La Garçonne" verursachte bei der Veröffentlichung einen Skandal - und machte den Schriftsteller Victor Margueritte reich (imago stock&people)
Victor Marguerittes Roman spielt in einer Zeit der Umbrüche. Der Erste Weltkrieg hatte nicht nur die politische Ordnung in Europa durcheinander gebracht. Nach der militärischen Katastrophe orientierte sich die Gesellschaft neu. Auch viele gesellschaftliche Konventionen wirkten auf die nachwachsende Generation hohl und abgestanden. Alte Gewissheiten und Tabus zerbrachen, neue Freiheiten für Frauen und Homosexuelle taten sich gerade in Paris auf - und nicht nur im legendären Berlin der Zwanziger-Jahre.
"La Garçonne" schildert in befreiender Offenheit, wie sich eine junge Frau aus den Fesseln der familiären Zwänge befreit und ihre Sexualität nach eigenem Gusto auslebt. Die Romanheldin Monique Lerbier weigert sich, die von ihrem Vater arrangierte Ehe zu schließen. Sie verlässt die Familie und beginnt ein Verhältnis mit einer deutlich älteren Revuetänzerin.
"Seitdem sie mit Niquette eine wilde Ehe, und zwar eine sehr glückliche, führte, hatte Monique oft mit Männern getanzt. Es waren die einzigen Partner, abgesehen von einigen erprobten Freundinnen, die ihr Niquettes Eifersucht gestattete - eine Eifersucht, die Monique gefiel und die sie als Liebesbeweis empfand. Nur ehrliche Leidenschaft konnte eine so ausschließliche Zärtlichkeit hervorbringen."
Bruch mit der Belle Époque
Monique Lerbier lässt sich die "Coiffure à la garçonne" schneiden, also den Bubikopf, der zum modischen Aushängeschild der Zwanziger-Jahre werden sollte, ebenso wie der von Coco Chanel geprägte Kleidungsstil; im selben Jahr, als der Roman erschien, kreierte sie ihr legendäres Parfum mit der Nummer 5 - eine Koinzidenz, aber Symbol für einen neuen Zeitgeist: der Bruch mit der alten Welt der Belle Époque.
Monique sprengt im konkreten und übertragenen Sinn das einschnürende Korsett und besteht auf dem Ausleben ihrer Sexualität. "Garçonne" war auch eine damals geläufige Bezeichnung für Lesben. Monique vergnügt sich aber mit Männern und Frauen, sucht sich Liebhaber selbst aus, raucht Opium und nimmt an Orgien in Bordellen teil. Männer benutzt sie wie Wegwerfartikel.
"Diese Umkehrung der üblichen Rollen - denn Monique ließ die Männer über ihre nebensächliche Bedeutung nicht im Zweifel - erweckte in ihnen das Gefühl der Demütigung und eine Empörung, die sie nur schwer verbergen konnten. Sie mussten sich der Partnerin gegenüber, die sich ihnen entzog, geschlagen geben und der verlorenen Beute nachtrauern. Eine kleine Rache, die anfangs Moniques tief sitzenden Männerhass befriedigt hatte."
Weibliche Selbstermächtigung
Stärker noch als um die sexuelle Befreiung geht es in dem Roman um die grundsätzliche Selbstermächtigung der jungen Frau. Nachdem sie sich von ihrer großbürgerlichen Fabrikantenfamilie losgesagt hat, wird sie selbst eine erfolgreiche Geschäftsfrau - sie bestimmt also nicht nur über ihren Körper selbst, sondern auch über ihre wirtschaftliche Existenz. Sie fährt Auto und emanzipiert sich fast komplett von ihrer Herkunft:
"Was die Leute dazu sagen werden, meinst Du, nicht wahr? Die Konsequenzen? Darauf pfeife ich! Die Gesellschaft? Die lehne ich ab. Ich breche mit ihr, um unabhängig und nur nach meinem eigenen Gewissen zu leben. Um als Frau das zu sein, was du zum Beispiel niemals sein wirst: ein anständiger Mensch! Adieu!"
Unanständig - das sind in diesem Roman die Männer (und auch Frauen), die in den überkommenen Strukturen denken. Victor Margueritte lässt seine Heldin die Revolte in ihrer eigenen Entwicklung durchmachen: Zunächst träumt Monique von ewiger Liebe und einer klassischen Ehe. Sie verliert ihre mädchenhaften Illusionen, als sich ihr künftiger Ehmann als Schürzenjäger herausstellt, der sich wie selbstverständlich nebenher Geliebte hält.
"Angesichts dieser tragischen Entblößung einer zur Verzweiflung getriebenen Seele (…) blickte er mit einigem Entsetzen in den Abgrund seines eigenen Herzens. Er begriff dunkel, wie gefährlich und sündhaft die Ausnutzung der Privilegien war, die man dem Manne schon in seiner Kindheit einredet. Aber sofort verdunkelte die gekränkte Eitelkeit diesen schwachen Lichtschein wieder."
Wie in einem Roman von Balzac
Moniques Ehe wird vom Vater aus geschäftlichen Gründen vorangetrieben. Sein Unternehmen steckt in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Hier wähnt man sich noch in der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, deren Geschacher um Mitgift und Pensionen Balzac in seinen Romanen so erbarmungslos und detailreich beschrieben hat.
Auch Marguerittes Buch "La Garçonne", das im französischen Original den Untertitel "roman de mœurs" trägt - also "Sittenroman" oder "Sittenbild" - ist voller scharfer, spitzer Beobachtungen; etwa die Schilderung einer Pariser Abendgesellschaft in den besseren Kreisen:
"Die Herren im Frack, die Damen in tief ausgeschnittenen Roben. Und auf dem blühenden Teint der Jugend wie auf der überreifen Haut der Älteren - Perlenregen und Diamantentau. Die reizlosesten Körper wie die bestgebauten präsentierten sich von der Achsel bis zur Hüftlinie in tief ausgeschnittenen duftigen Kleidern. Man hätte glauben können, auf einem Sklavenmarkt böten sich all diese Reize den erfahrenen Blicken der Liebhaber und Händler feil. Sie prüften abschätzig die Rundungen der Körper, die freudig entblößten Arme, die Brüste, die unverhohlen dargeboten wurden."
Nachfolgerin von Emma Bovary
Moniques Weigerung, sich der Tradition zu fügen und stattdessen ihren sexuellen Bedürfnissen und ihrem Freiheitsdrang zu folgen, macht sie zu einer Art Nachfolgerin von "Madame Bovary" - nur dass Monique im Gegensatz zu Emma Bovary den emanzipatorischen Ausbruch schafft. Und so wie Flauberts Roman 1856 wegen Sittenwidrigkeit zeitweise verboten wurde, so verursachte "La Garçonne" ein Dreiviertel Jahrhundert später ebenfalls einen Skandal.

Der Schriftsteller Victor Margueritte wurde durch den Erfolg der "Garçonne" reich. Er veröffentlichte anschließend zwei weitere, weniger beachtete Romane, die "Frauen im Aufbruch" zeigten - ebenfalls geschrieben, um die Gleichberechtigung der Geschlechter voranzutreiben.
Man mag sich an den mitunter etwas eindimensional gezeichneten Charakteren in diesem Buch stören. Auch sprachlich ist "La Garçonne" nicht durchgängig von erster Qualität; mitunter ist es allzu eingängig geschrieben. Der Weg Monique Lerbiers in die Unabhängigkeit und in eine von ihr frei gewählte Beziehung zu einem Mann ist jedoch packend und stimmig erzählt. Der Verlag hat die etwas angestaubte Übersetzung behutsam überarbeiten lassen, so dass Marguerittes frischer Ton sich gut vermittelt. Der Roman ist ein beeindruckendes Plädoyer für sexuelle Selbstbestimmung und Gleichberechtigung - es ist wunderbar und wichtig, dass dieses von Liberalität und Menschenfreundlichkeit durchzogene Werk jetzt wieder auf Deutsch verfügbar ist.
Victor Margueritte: "La Garçonne"
Aus dem Französischen von Joseph Chapiro
Neu bearbeitet von Sophia Sonntag
Verlag Ebersbach & Simon, Berlin, 304 Seiten, 22 Euro.