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Videothek im Kasseler Norden
"Mein Laden ist jetzt ein Hobby"

Die Videothek um die Ecke: Vor 20 Jahren ging man dort vorbei, wenn man sich einen gemütlichen Abend machen wollte. Doch heute haben sich nur noch ganz wenige dieser Videotheken gehalten. Eine davon steht nahe des Kasseler Hauptbahnhofs. Ihr Betreiber Eckhard Baum hat längst Kultstatus.

Von Peter Backof | 28.12.2015
    Eine Mitarbeiterin einer Videothek sortiert Filme in die Regale ein.
    Ein Blick in die Vergangenheit: eine Videothek (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
    "Wir sind hier in der Nordstadt und ganz in der Nähe ist das Drogenzentrum, was viele Leute abhält, in diese Gegend abends zu gehen. Die Gegend ist nicht sehr interessant, die meisten Geschäfte stehen leer, einer nach dem anderen geht hier raus, es wird eine Totenstadt hier, die Nordstadt. – aber wir sind noch am Leben!"
    Drei Minuten zu Fuß vom Kasseler Hauptbahnhof entfernt, befindet sich die Videothek von Eckhard Baum an der Ecke einer hübsch-hässlichen Straßenzeile: Nachkriegsarchitektur. Die Filmplakate in den Schaufenstern sind ausgebleicht. Und das ganze aus zehn Räumen und Durchgangsfluren zusammen geschachtelte Interieur hat Patina, als wäre hier in 40 Jahren niemals renoviert worden.
    "So sieht es bei uns aus und das hat uns auch der Videoverband gesagt: Macht nichts dran, lasst es so, wie ihr es aufgebaut habt, die Leute finden es gut, wenn es so ein bisschen Charme hat."
    Ecki – wie sie ihn in der Nordstadt nennen – ist längst selbst Kultfigur, muss sogar manchmal Autogramme geben. Hinter seiner hölzernen Klapptheke wirkt er wie ein Professor, hat 13.000 Filme im Blick und im Kopf und braucht keinen Computer. Das Archiv besteht aus Karteikästen, Quittungen schreibt er mit der Hand und ausgeliehene Filme werden – ist das verschroben oder genial? – mit Büchsengummis um die Hüllen kenntlich gemacht.
    "Nein. Die stecken die wenigsten Kunden ein. Bei den Anhängern, da kann es passieren, dass einer Dienstag kommt, nimmt den Anhänger mit , weil er den Film am Samstag haben möchte. Und dann steht der die ganze Woche unausgeliehen rum."
    Tricks begegnet man am besten mit noch besseren Tricks, sagt Eckhard Baum, der in vier Jahrzehnten Pionier- und Boomzeiten erlebt hat: Das Schlangestehen der Kunden im goldenen Jahrzehnt der Videotheken, 1980 bis 1990, wenn nach drei Monaten Kinolaufzeit ein Blockbuster bei ihm eintraf. Fotos an den Wänden zeigen ihn mit Matte auf dem Kopf, wie sie die WM-Fußballer von 1974 trugen. Mit "Eckis Welt" ist auch ein Dokumentarfilm über ihn entstanden. Bis hin zum engagierten Artikel einer Lokalzeitung mit der Schlagzeile "Ein Baum sieht rot", gegen schlechte Rückgabemoral.

    Jetzt also der Niedergang des Kulturphänomens Videothek, den Eckhard Baum - auf seine Weise - abwickelt. Zwei, drei Kunden kommen pro Stunde an einem Nachmittag unter der Woche. Und die sind oft zugleich Freunde, die nach dem rechten sehen wollen, denn drei Mal ist er in den letzten Jahren im Geschäft von Junkies aus dem Drogenzentrum überfallen worden: Obwohl man doch als Videothekar kaum Geld in der Kasse habe.
    Eckhard Baum betreibt mit seinem "Film Shop" in Kassel laut Guinness-Buch der Rekorde die älteste Videothek der Welt.
    Eckhard Baum betreibt mit seinem "Film Shop" in Kassel laut Guinness-Buch der Rekorde die älteste Videothek der Welt. (Deutschlandraio / Peter Backof)
    "Das trägt gerade so seine Kosten, aber wir müssen ab und zu auch ein paar Euro dazuschießen, damit es weitergeht. Mein Laden ist jetzt ein Hobby. Ich bin lange pensioniert, bin 77 Jahre alt und so lange ich gesund bleibe, mache ich das weiter, weil mir der Laden ans Herz gewachsen ist. Ich hab´ ja auch immer gesagt: ich war der erste und möchte auch ganz gerne versuchen, der letzte zu sein."
    Eine der wenigen stabilen Größen seit 40 Jahren: Pornos gehen immer! Im Filmshop Baum kann man - optional und immer schon - den schweren Stoffvorhang vor der Ü 18-Kabine hinter sich zuziehen. Alte VHS-Cassetten werden für einen Euro abverkauft. Es lohne sich nicht, sie zu erhalten: Es ist kein Retro-Trend wie bei Audiocassetten und Vinyl auszumachen, sagt der Videothekar und wagt die Prognose, dass bereits in fünf Jahren, wenn Filmausleihe nur mehr heißen wird, einen Code als Abspiellizenz zu erhalten, ein Ladenlokal wie seines vollends überflüssig werde. Wozu soll man Filme bevorraten, die greifbar nur noch online existieren?
    "Hier in Kassel gibt es von 75 Videotheken noch 4."
    Aber vielleicht gönnt sich die Geschichte noch einmal eine Volte? Wenn es bei umfassender Vorratsdatenspeicherung sicherer scheint, seinen Filmkonsum doch irgendwie zu verschleiern. Oder wenn Videotheken wieder im Trend liegen werden: als Post-Internet-Filmclubs, wo man sich zusammen mit Gleichgesinnten empören kann: Über diese wabernde Blase von Werbetrailern und anonymen Kundenbewertungen im Netz. Da wären die persönlichen Filmtipps recht, von Eckhard Baum, der 13.000 Filme kennt.