Dienstag, 23. April 2024

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"Viel zu viel Zeit ist untätig verstrichen"

Rasches und entschlossenes Handeln fordert der Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Angel Gurria. Dazu gehöre eine schnelle Freigabe der Finanzhilfen für Griechenland. Nur dann könne eine weitere Verschlechterung der Marktlage verhindert werden.

Angel Gurria im Gespräch mit Gerwald Herter | 28.04.2010
    Gerwald Herter: Die griechische Tragödie hat längst noch kein Ende gefunden. Bei der Rettungsaktion kommt es ganz besonders auf Deutschland an. Die Linie der Bundesregierung ist, dass die größte Volkswirtschaft der Eurozone zwar helfen will, aber nur unter Bedingungen. Im Ausland wird das schon kritisiert. Heute wird sich Bundeskanzlerin Merkel mit den Chefs führender internationaler Organisationen in Berlin treffen, um über die Griechenland-Hilfe zu sprechen.

    Internationaler Währungsfonds, Weltbank, Welthandelsorganisation, auch der Generalsekretär der OECD, Angel Gurria, wird ins Kanzleramt kommen. Mit dem Mexikaner habe ich vor der Sendung darüber gesprochen, ob Griechenland überhaupt noch zu retten ist. Gurria kennt sich mit solchen Fällen aus. Während der lateinamerikanischen Schuldenkrise war er mexikanischer Finanzminister. – Good morning, Mr. Gurria!

    Angel Gurria: Good morning!

    Herter: Wie viel Zeit bleibt, um Griechenland zu retten?

    Gurria: Griechenland hat es verstanden, Geld auf dem Markt aufzutreiben, wenn auch zu Zinsen, die ständig steigen. Einige wesentliche Rückzahlungen werden im Mai fällig gestellt. Der IWF und die EU werden hoffentlich bis dahin ihr Hilfspaket geschnürt haben. Der IWF hat sich ganz entschieden dafür ausgesprochen, dass er bis dahin seine Hilfe bereit stellen wird. Ich meine, die Frage ist nicht, wie viel Zeit bis zur Bereitstellung der Hilfe vergehen wird, sondern wie viel Zeit bereits vergangen ist. Viel zu viel Zeit ist untätig verstrichen. Wir hätten bereits vor drei oder vor zwei Monaten einschreiten müssen. Die Märkte haben sich seither unnötig zum Negativen entwickelt. Wir müssen deshalb jetzt rasch und entschlossen handeln.

    Herter: Kritisieren Sie hier die EU und die Bundesregierung? Viele Fachleute sagen, die Bundesregierung sagt zwar ja, aber unter Bedingungen. Reicht das aus?

    Gurria: Hier geht es nicht darum, offen gestanden irgend jemandem den Schwarzen Peter zuzuschieben. Ich habe es immer gesagt: Griechenland ist ja auch Mitglied der OECD, und ich habe bereits im frühen März auf eine Beteiligung des IWF gedrungen. Ich bin dann Mitte März nach Griechenland gefahren. Ich habe dieses Anliegen öffentlich gemacht. Ich habe auch ausführlich mit dem Premierminister und mit dem Finanzminister gesprochen. Ich habe vor der Gefahr eines plötzlichen Umkippens der Märkte gewarnt. Ich habe gesagt, diese Sache darf sich nicht ausbreiten.

    Ich bin ja noch ein erprobter Krieger aus den alten Zeiten dieser Schuldenkrisen. Ich bin wohl einer der wenigen Überlebenden aus jenen Tagen, als wir umfangreiche Rettungspakete für schuldengebeutelte Länder schnürten. Ich erinnere mich noch genau, damals, als die Brasilianer sagten, diese Schuldenkrise, die sich aufbaut, das ist ein mexikanisches Problem, und als sie das aufhörten zu sagen, waren sie schon selbst mitten drin im Schlamassel.

    Wir haben es kürzlich gesehen, wie die Europäer sagten, diese Schuldenkrise ist hausgemacht von den Amerikanern, und als sie das aufhörten zu verkünden, steckten sie bis über beide Ohren selbst mit drin. So etwas dürfen wir nicht zulassen. Es kann nicht darum gehen, mit dem Finger auf die Anderen zu zeigen, sondern man muss handeln. Es ist nie zu spät und jetzt gilt es, fertig zu werden.

    Herter: Die Banken rechnen sich massive Gewinne aus. Wie können wir sicherstellen, dass sie nicht nur an ihre eigenen Interessen denken?

    Gurria: Es kann nicht darum gehen, irgendetwas im Übermaß herzustellen, ob Gewinn oder Verlust. Niemand soll daran profitieren im Übermaß. Die Lösung muss wohl abgewogen sein. Wir können nicht von den Griechen verlangen, den Gürtel enger zu schnallen, um sich anzupassen, nur damit die Banken dann einen größeren Gewinnaufschlag erzielen. Das ist weder nachhaltig, noch vertretbar, und auch wirtschaftlich ist es keineswegs wirkungsvoll, ganz zu schweigen von politischen oder moralischen Erwägungen. Wir können doch von einer Volkswirtschaft nicht verlangen, Überschüsse zu erzielen, nur damit die Gläubiger mehr verdienen. Nein: Überschüsse müssen für die nötigen Entwicklungen und für den Schuldenabbau verwendet werden.

    Herter: Warum sollten Steuerzahler anderer Länder, zum Beispiel Deutschlands, dafür zahlen, dass viele Griechen jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt haben?

    Gurria: Es geht nicht darum, hier moralische Urteile zu fällen. Nein: Es liegt im eigenen Interesse aller Akteure – und ich meine, das gilt für Finanzminister, für Bankiers, es gilt für alle politischen Führungskräfte -, die Beeinflussung des gesamten Finanzsystems durch Griechenland mag nicht so bedeutend erscheinen, und viele haben ja gesagt, das seien nur zwei Prozent der wirtschaftlichen Gesamtleistung in der Eurozone, was in Griechenland anfalle. Das stimmt einerseits, aber auch damals, bei der amerikanischen Hypothekenkrise, wurde gesagt, es seien nur sechs Prozent der gesamten Anlagen, aber genau daraus ist dann die größte Finanzkrise entstanden und daraus eine Wirtschaftskrise und eine Krise auf dem Arbeitsmarkt. Die griechische Frage muss für die Griechen, zu Gunsten Griechenlands entschieden werden. Zugleich aber gilt es zu bedenken, dass das gesamte Finanzsystem beeinflusst ist. Von beiden Seiten gilt es, das Problem anzusehen, und wir müssen eine Ansteckung um jeden Preis vermeiden.

    Herter: Welche Botschaft haben Sie an die Bundesregierung, an Kanzlerin Merkel?

    Gurria: Nun, das richtet sich nicht an Kanzlerin Merkel, oder an irgend jemanden im besonderen. Die europäischen Institutionen sind doch eingerichtet worden unter der Grundvoraussetzung, dass keines der Länder in eine derartig umfassende Krise geraten würde, dass die Krise rechtzeitig erkannt und berichtigt werden würde. Was wir jetzt sehen, ist neben anderen Ursachen auch durch ein massives Problem der mangelnden Offenlegung, der mangelnden Transparenz entstanden. Man muss also davon ausgehen, dass so etwas in jedem Land geschehen kann. Zugleich gilt, dass diese außergewöhnliche Situation mit außergewöhnlichen Maßnahmen geheilt werden kann. Andererseits müssen wir uns auch vor Augen führen, dass die institutionellen Voraussetzungen gemäß dem neuen Europavertrag anders aufgestellt werden müssen. Wir brauchen Werkzeuge, die es uns ermöglichen, unvorhergesehene Situationen besser zu bewältigen, sodass man nicht mit jeder Maßnahme dann den mühsamen Weg zu den nationalen Parlamenten suchen muss.

    Herter: Brauchen wir eine europäische Wirtschaftsregierung?

    Gurria: Offen gestanden, Sie haben bereits eine herausragende Wirtschaftsregierung. Hut ab vor der Art, wie Sie viele politische Maßnahmen koordiniert haben. In Europa fing es an mit Kohle und Stahl, dann ging es weiter zur Atompolitik, zur Wirtschaftsgemeinschaft, jetzt denken Sie über eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik nach. Das ist eine bewundernswerte Leistung, die über die letzten 40 bis 50 Jahre geschafft worden ist.

    Ich meine also, das institutionelle Gefüge bietet genug Raum, um entweder noch anzubauen, oder innerhalb der bestehenden Strukturen die nötigen Maßnahmen zu ergreifen. Es liegt mir nicht nahe, irgendwelche Ratschläge an Sie zu erteilen, aber eines möchte ich doch sagen: Packen wir diese Krise rasch und gemeinsam an in den nächsten wenigen Tagen. Die Anschuldigungen können noch warten, denn eines ist klar: Die Märkte warten nicht. Die Verschlechterung der Marktlage hat wirklich ernste Konsequenzen und wir müssen alles tun, um eine Ansteckung, die sehr, sehr gefährlich wäre, zu vermeiden.

    Herter: Mr. Gurria, thank you very much for the interview.

    Gurria: Thank you very much!

    Herter: Angel Gurria, der Generalsekretär der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa, im Deutschlandfunk-Interview. Zusammen mit Vertretern anderer internationaler Organisationen wird er heute mit der Bundeskanzlerin über Griechenland sprechen.