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Viele Welten

"Der Inhalt der Forschung geht die Forscher an, ihre Auswirkungen alle Menschen." Das berühmte Zitat aus Friedrich Dürrenmatts Drama "Die Physiker" kommt einem bei der Lektüre von Peter Byrnes Biographie von Hugh Everett immer wieder in den Sinn.

Rezension: Ralf Krauter | 14.10.2012
    Der Begründer der Viele-Welten-Theorie war Zeit seines Lebens ein Genie am Abgrund: Blitzgescheit, aber von Alkoholsucht und Depressionen geplagt und unfähig, dauerhafte soziale Bindungen einzugehen. Mit kalter Vernunft kalkulierte Hugh Everett mit Computersimulationen die Opferzahlen eines Atomkriegs – und trug mit seinen Arbeiten entscheidend zum nuklearen Wettrüsten bei. Wie so viele Wissenschaftler, die ihre Expertise während des kalten Krieges in den Dienst des militärisch-industriellen Komplexes stellten, war Hugh Everett ein Zyniker. Als gewissenhafter Regierungsbeamter spielte er das Ende der Welt am Rechner nach - und empfahl dem Pentagon ohne moralische Skrupel auf einen atomaren Erstschlag zu setzen.

    Doch in der Brust des militärischen Geheimnisträgers schlug auch das Herz eines Erkenntnissuchenden, der das faszinierende Wesen der Wirklichkeit ergründen wollte. Hugh Everett stand im regen Austausch mit allen wichtigen Physikern seiner Zeit, er wollte wissen, wie man die Quantentheorie wirklich verstehen kann und entwickelte eine Theorie, die alle gängigen Interpretationen über den Haufen warf. Demzufolge gibt es unendlich viele Welten und alles, was theoretisch passieren kann, passiert auch irgendwo in einer davon. Mit seinem Konzept vom Multiversum war der Experte für Massenvernichtungswaffen seiner Zeit weit voraus. Erst Jahrzehnte später wurde die Viele-Welten-Theorie salonfähig.

    Peter Byrne hat für sein Porträt eines Anti-Helden eine Fülle unveröffentlichten Materials gesichtet, das faszinierende Einblicke in das Leben und Wirken von Hugh Everett liefert. Stellenweise ist dem Autor dabei leider der Überblick abhanden gekommen. Dann reiht er Briefzitate von Geistesgrößen, die mit Hugh Everett korrespondierten, so aneinander, dass es Wissenschaftshistoriker zwar freuen dürfte, Normalsterblichen aber keinen Gewinn bringt. Doch trotz dieser formalen Schwächen: Peter Byrnes Biographie ist ein schillerndes Zeitgemälde über Wissenschaft im Kalten Krieg und die schleichende Militarisierung der Zivilgesellschaft in der McCarthy-Ära. Das Buch veranschaulicht eindrücklich, wie schmal der Grat zwischen Genie und Wahnsinn sein kann – und welche Gefahr droht, wenn eine Generation von Forschern ihn überschreitet und der irrsinnigen Logik der gegenseitigen Vernichtung verfällt.

    Peter Byrne: Viele Welten. Hugh Everett III– ein Familiendrama zwischen Kaltem Krieg und Quantenphysik
    ISBN 978-3-642-25179-5
    Spektrum Akademischer Verlag, 551 Seiten, 29,95 Euro