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Vielschichtige Chronik der Finanzkrise

Hans-Werner Sinn, Chef des Ifo-Instituts, stürzt sich in seinem Buch "Die Target-Falle" auf die Zahlen und Fakten, die das ökonomische Fundament der EU bilden. In den Verrechnungssalden zwischen den Notenbanken hat er eine weitere Schuldenlawine ausgemacht. In ihnen, so seine These, stecke der Tod des Euro.

Von Volker Finthammer | 15.10.2012
    Nach dem erfolgreichen Aufschlag "Kasino Kapitalismus" klingt der Titel des zweiten Krisenbuchs von Hans Werner Sinn, "Die Target Falle", nach schwerer Kost. Statt Bankenschelte und Kritik an der Finanzmarktpolitik konzentriert sich der Münchner Ökonom diesmal auf die Verwerfungen, die durch das interne Verrechnungssystem der europäischen Zentralbanken entstehen und weist damit auf einen folgenreichen Konstruktionsfehler der Währungsgemeinschaft hin.

    "Ich habe den Begriff "Target-Falle" als Buchtitel gewählt, um die Pfadabhängigkeit der Politik zu beschreiben, die ich hier sehe. Erst stellt die EZB scheinbar unbegrenzte Target-Kredite ins Schaufenster, die das System vordergründig stabilisieren. Doch dann stellen sich wegen der niedrigen Zinsen strukturelle Probleme ein. Privates Kapital zieht sich zurück, und das Geld der EZB wird tatsächlich genommen. Der Kapitalbedarf der Krisenländer ist aber so riesig, dass selbst der EZB Zweifel kommen. Sie sieht sich gezwungen, nach dem Einsatz der Rettungsschirme durch die Politik zu rufen. So rutscht Europa immer tiefer in den Schuldensumpf."

    Dabei wurde das Target-System der europäischen Zentralbank eigentlich nur als internes Verrechnungssystem des Währungsverbundes ins Leben gerufen, um grenzüberschreitende Geschäfte schnell und einheitlich abwickeln zu können. In guten, also krisenfreien Zeiten sorgt es dafür, dass die Geld- und Vermögensströme zwischen den europäischen Handelspartnern über den im Hintergrund wirkenden Verbund der Zentralbanken verrechnet und damit ausgeglichen werden. Dieses eigentliche Nullsummenspiel ist mit der Krise jedoch aus dem Gleichgewicht geraten. Vor allem die Kapitalflucht aus den südeuropäischen Krisenländern Griechenland, Portugal, Spanien und Italien hat zu einer drastischen Verschiebung der Bilanzen der jeweiligen Notenbanken geführt und die Deutsche Bundesbank würde auf einem Großteil der bislang aufgelaufenen Forderungen von rund 1000 Milliarden Euro sitzen bleiben.

    "Die Bundesbank ist bei diesen 1000 Milliarden Euro mit 700 Milliarden Euro dabei. Und das ist ein Kredit, den sie den anderen europäischen Ländern gegeben hat indem sie für sie Zahlungen durchgeführt hat. Zahlungen um Güter hier zu kaufen. Zahlungen um Schulden zu tilgen. Zahlungen um Vermögensobjekte zu erwerben, was auch immer."

    Hans Werner Sinn war der erste Ökonom, der auf diesen Sachverhalt aufmerksam machte. Er selbst, so schreibt Sinn, sei in einem Gespräch mit dem früheren Präsidenten der Bundesbank Helmut Schlesinger auf diese Drift aufmerksam geworden. Seit den ersten Aufsätzen, die Sinn im Frühjahr 2011 dazu veröffentlichte, steht er unter Beschuss. Selbst Finanzminister Wolfgang Schäuble sprach einmal von Milchmädchenrechnungen, die der Ökonom da aufmache. Deshalb man merkt dem Buch auch an, dass hier ein Wissenschaftler Rechnung ablegen und seine Thesen untermauern will. Da im europäisches Währungsverbund anders als in den USA ein Ausgleichsmechanismus fehlt, der diese Salden wieder bereinigt, wirken die Target-Salden derzeit wie eine Fortsetzung der Politik des billigen Geldes für die Südländer und verhindern damit die Strukturreformen, die eigentlich notwendig wären, um die Länder wieder wettbewerbsfähig zu machen.

    "Die erforderlichen Preissenkungen sind ja ausgerechnet worden von Goldman Sachs. Portugal müsste die Preise um 35 Prozent senken, Griechenland um 30 Prozent, Spanien um 20 Prozent, Frankreich um 20 Prozent, Italien um zehn bis 15 Prozent und Irland nicht mehr. Das sind in einigen Fällen riesige Prozentsätze. Es fällt schwer sich vorzustellen, wie das jemals gehen kann."

    Der Target-Mechanismus erlaubt den Krisenländern den ungleich bequemeren Weg zu gehen und mit der Notenpresse für dauerhaft billiges Geld zu sorgen, um die Defizite zu finanzieren.

    "So gesehen ist mit den Target-Krediten eine riesige Vermögensumschichtung im Euroraum verbunden. Den Ländern des Südens gelingt es, im Austausch für niedriger-zinsliche Target-Schulden ihre alten Schulden los zu werden und stattdessen marktfähige Vermögensobjekte im Ausland zu erwerben. (Griechische Investoren kaufen unter anderem Immobilien in London, Berlin oder München)."

    Solche Passagen markieren die populistische und Angst einflößende Seite des Buches. Denn bei genauer Nachfrage, muss auch Hans Werner Sinn zugeben, dass das griechische oder spanische "Fluchtkapital" nur den geringsten Teil der Salden ausmacht.

    "Also die Hauptsache ist, dass unsere Banken selber zurück fliehen. Das Kapital bleibt sozusagen im Heimathafen."

    Mann kann es auch anders sagen: Die Banken und Finanzunternehmen Nordeuropas, die mit ihrer Geschäftspolitik für die Aufblähung der südeuropäischen Kreditblase im vergangenen Jahrzehnt gesorgt haben, fliehen über das Target-System zurück in den Norden und laden die möglichen Verluste einmal mehr den Steuerzahlern auf. Die Einbeziehung der Target-Schulden führt deshalb nur das gesamte Ausmaß der europäischen Kreditblase vor Augen.

    "Die Abschreibungsverluste aus den früheren Immobilienkrediten fallen den Banken jetzt auf die Füße, und die Frage ist, wer sie übernimmt. Selbstverständlich wird man sobald die gemeinsame Bankenregulierung notdürftig steht, sofort damit beginnen, dem ESM die Abschreibungsverluste zu übertragen, um die Eigentümer und Gläubiger der Banken zu schützen."

    Eine Banklizenz für den ESM würde diesen Rettungsmechanismus vollends abrunden. Dass sich Hans Werner Sinn vor diesem Hintergrund für eine weitreichende Gläubigerbeteiligung ausspricht, und das mit dem gemeinsamen Aufruf der Ökonomen vom Juni dieses Jahres bereits öffentlich getan hat, kommt in diesem Buch leider zu kurz. Diese zentrale Frage erscheint fast als Nebenkriegsschauplatz. Stattdessen fokussiert sich der Blick des Nationalökonomen auf die provokanten These des temporären Austritts Griechenlands aus der Eurozone.

    "Die Mitgliedschaft im Euro beinhaltet nicht das Recht durch Transfers gestützt zu werden, wenn man nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Nur der Austritt und die Abwertung bieten schnelle Möglichkeiten, die Wettbewerbsfähigkeit ohne Aufstände und Unruhen wiederherzustellen."

    Hans-Werner Sinn fordert deshalb eine "offene Währungsunion", die den Status einer assoziierten Mitgliedschaft mit einer Rückkehroption kennen sollte, damit die Krisenländer sich im Wettbewerb neu aufstellen könnten. Auch wenn ökonomisch vieles für diesen Weg spricht, so ist es doch bedauerlich, dass diese Debatte stärker die öffentliche Auseinandersetzung bestimmt, als das nach wie vor zentrale Problem der Krise: Die fehlende Verantwortung der Gläubiger.

    Trotz aller Detail-Besessenheit für die Target-Salden hat Hans Werner Sinn ein lesenswertes Buch geschrieben. Eine vielschichtige Chronik der Finanzkrise, die auch das Dilemma der Politik offenbart. Eine Politik, die alles dafür tut, den Crash der gemeinsamen Währung abzuwenden und sich dadurch letztlich den Interessen des großen Geldes fügt. Eine Politik die tatsächlich in der Falle sitzt.

    Hans-Werner Sinn: Die Target-Falle: Für unser Geld und unsere Kinder.
    Carl Hanser Verlag, 417 Seiten, 19,90 Euro
    ISBN: 978-3-446-43353-3