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Vier auf einen Streich

Das Tetzlaff Quartett und das Arcanto Quartett bestechen durch ihre Gelassenheit: Sie sind keine hauptamtlichen Quartettstreicher und somit finanziell unabhängig. Die einen haben Sibelius und Schönberg, die anderen Debussy, Dutilleux und Ravel eingespielt.

Von Maja Ellmenreich | 24.10.2010
    Es ist ihnen Luxus und Lebensnotwendigkeit zugleich. Vom Quartettspiel müssen die Musiker des Arcanto Quartett ebenso wenig leben wie die des Tetzlaff Quartett: Professuren, Solo-Karrieren und Orchesterstellen sichern ihr Einkommen. Und dennoch ist das Musizieren im Viererverband für sie kein launiger Zeitvertreib. Wie sagte es jüngst der Cellist des Arcanto Quartett Jean-Guihen Queyras? "Wir spielen Quartett, weil wir diese Musik spielen wollen."

    Das deutliche Bekenntnis zum Quartettrepertoire gepaart mit der Gelassenheit, die finanzielle Unabhängigkeit so mit sich bringt - das scheint auch den Erfolg der beiden Quartettformationen zu erklären. Das Tetzlaff Quartett und das Arcanto Quartett haben fast zeitgleich neue CDs herausgebracht: Die einen spielen Sibelius und Schönberg, die anderen Debussy, Dutilleux und Ravel.

    "Jean Sibelius
    1. Satz. Andante aus "Voces Intimae""

    Passender könnte es kaum sein: Die beiden Namensgeber des Tetzlaff Quartett, die Geschwister Christian und Tanja Tetzlaff, er Geiger, sie Cellistin - die beiden eröffnen im innigen Dialog das Spiel. 30 Sekunden dauert die Einleitung zu Jean Sibelius' Streichquartett "Voces intimae" - dann weicht das Zwiegespräch dem Quartettspiel.

    "Jean Sibelius
    1. Satz. Andante aus "Voces Intimae""

    Kaum aufzuhalten ist der Fluss, der sich da entwickelt. Er schwillt an, ebbt ab, doch dauert unaufhaltsam an. Die vier Musiker vom Tetzlaff Quartett eilen nicht, doch es drängt sie. Und diesem Drängen kann man sich als Hörer nicht widersetzen: Man verliert den Halt und wird mitgerissen. Mal schneller, mal langsamer, mal gewaltsamer, mal sanfter geht es unablässig weiter durch den ersten Satz von Sibelius spätem Quartett.

    Für dieses vierte und letzte des finnischen Komponisten haben sich die Musiker vom Tetzlaff Quartett entschieden: "Voces intimae" so der Beiname. Die spätromantischen "intimen Stimmen" aus dem Jahr 1909 eröffnen die Debüt-CD. Ein spätes Debüt ist es, nach 16 Jahren des gemeinsamen Spiels erst tritt das Tetzlaff Quartett auf dem Plattenmarkt in Erscheinung - bei dem auf Kammermusik spezialisierten CD-Label AvI music.

    Christian Tetzlaff und Elisabeth Kufferath, Violine - Hanna Weinmeister, Viola, und Tanja Tetzlaff, Violoncello. Sie haben sich Zeit gelassen, so wie sie auch nur selten im Konzertsaal zu erleben sind: Sieben bis zehn Quartett-Auftritte im Jahr, mehr ist nicht drin bei den übervollen Kalendern der vielbeschäftigten Musiker. Da lässt sich schnell ausmalen, wie schwer es gewesen sein muss, Termine für die Aufnahme zu finden. Von logistischen Herausforderungen sprach Christian Tetzlaff vor Kurzem in einem Interview. Schließlich habe man im Quartett zehn Kinder!

    "Jean Sibelius
    3. Satz. Allegro ma pesante aus "Voces Intimae""

    Das Warten auf die erste Tetzlaff-Quartett-CD hat sich gelohnt. Allein der Sibelius bietet ein Füllhorn an Klangfarben, an -schattierungen und -nuancen. Jeder der fünf Sätze berührt auf seine Weise, denn egal, welche Farbe, welcher Gefühlszustand, welche Haltung gerade gefragt ist - die vier Musiker geben ein Höchstmaß an Emotionalität. Sie erleben und durchleben die Musik gemeinsam. Dass sie auch gemeinsam atmen, das hört man, wenn man die Anlage nur laut genug aufdreht.

    Doch maximale Lautstärke tut dieser - auch technisch hervorragenden - Aufnahme überhaupt nicht gut. Mag man sich als Hörer im Gefühlsrausch des Sibelius-Quartetts vielleicht noch verlieren wollen, so verlangt der frühe Schönberg, sein Quartett Nr. 1, Besonnenheit. Dieses längste der vier Schönberg Quartette ist so dicht, so engmaschig gestrickt, derart kontrapunktisch aufgeladen, dass es einem fast schwindlig wird. Welcher Spur soll man folgen? Hat man eine im Blick, verliert man sie auch schon wieder, denn es drängt sich eine Neue auf. Alles scheint mit allem verknüpft. Dieser Komplexität begegnet das Tetzlaff Quartett mit der heiklen Kombination aus analytischer Durchsichtigkeit auf der einen und hochromantisch-schwüler Leidenschaft auf der anderen Seite. Ihr schlanker Grundklang - Dreiviertel des Quartetts spielt auf modernen Instrumenten von Peter Greiner - dieser homogene schlanke Ton ist dem nur dienlich. Mit dem Schönberg Quartett von 1905 kehrt das Tetzlaff Quartett übrigens zurück zu seinen Wurzeln, denn es war das Erste, das sie gemeinsam erarbeitet haben. Nur konsequent - schließlich handelt es sich um die Debüt-CD.

    "Arnold Schönberg
    2. Satz. Scherzo mit Trio aus Streichquartett Nr. 1 d-moll"

    Ein später Sibelius und ein früher Schönberg. Überraschend ist die Kombination vielleicht, aber Christian Tetzlaff kann gute Gründe dafür anführen: Beide Werke stammen aus derselben Zeit, vom Beginn des 20. Jahrhunderts, beide stehen in d-moll, beide sind extrem persönlich und vielschichtig, erklärte er im Interview mit der Zeitschrift "Fono Forum".

    Augenfälliger ist dagegen die Werkzusammenstellung auf der neuen CD des Arcanto Quartett, frisch erschienen bei harmonia mundi. Die vier, die ebenso wenig wie die Tetzlaff-Musiker hauptamtliche Quartettstreicher sind, sie haben sich für französisches Repertoire entschieden. "Quatuors à cordes" steht denn auch auf dem Cover der neuen CD, und ein Bild des Impressionisten Maximilien Luce gibt bereits die Richtung vor. Aus dem nicht gerade üppigen Angebot an französischer Kammermusik hat das Arcanto Quartett die Impressionisten Claude Debussy und Maurice Ravel ausgewählt. Beide haben jeweils nur ein einziges Streichquartett geschrieben; und diese beiden impressionistischen Werke umrahmen eine Komposition jüngeren Datums: Henri Dutilleux' "Ainsi la nuit" ist in den 1970ern entstanden. An die sieben Jahrzehnte Musikgeschichte liegen also zwischen den Zeitgenossen Debussy und Ravel auf der einen und unserem Zeitgenossen Dutilleux auf der anderen Seite. Das Booklet zur neuen Arcanto-CD liefert Gründe für die Kopplung, indem es auf Gemeinsamkeiten der drei Komponisten verweist. Sie alle seien Meister der Orchestration, hätten zwar nur wenig Kammermusik geschrieben, aber seien an klanglichen Neuerungen interessiert gewesen. Eine griffige Erklärung, eine nützliche Hilfestellung für's Hören ist das. Und schon der Beginn von Debussys Opus 10 in der Arcanto-Interpretation liefert den Beweis. Wirklich nur ein Streichquartett ist da am Werk, nicht ein ganzes Streichorchester?

    "Claude Debussy
    1. Satz. Animé et très decidé aus Streichquartett g-moll, op. 10"

    Klangfülle, auch wenn noch so grazil musiziert wird, Klangfülle ist ein Erkennungszeichen des Arcanto Quartett. Es schöpft aus dem Vollen und macht gleichzeitig seinem Namen alle Ehre. "Arcanto" - eine Fantasie-Wortschöpfung, die so viel bedeutet wie "singende Bögen".

    "Claude Debussy
    1. Satz. Animé et très decidé aus Streichquartett g-moll, op. 10"

    Zum Singen und Auskosten zahlreicher Melodien haben die vier Arcanto-Streicher immer wieder Gelegenheit bei Debussy. In bester Impressionisten-Manier tauchen die Melodien aus dem Nichts auf und verschwinden dorthin wieder. Doch sie kehren zurück, stark verwandelt zum Teil, aber mit wachem Ohr wieder zu entdecken.

    "Claude Debussy
    1. Satz. Animé et très decidé aus Streichquartett g-moll, op. 10"

    "Animé et très décidé" steht über dem ersten Satz des Debussy-Quartettes. "Belebt und sehr entschieden" spielt das Arcanto Quartett - und zwar nicht nur Debussy. Die Geiger Antje Weithaas und Daniel Sepec, die Bratschistin Tabea Zimmermann und der Cellist Jean-Guihen Queyras, sie haben - ganz entgegen ihrer entschiedenen Musizierweise - das gemeinsame Quartettspiel beinahe zögerlich begonnen. Erst einmal in aller Heimlichkeit geprobt, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie haben die Quartettformation zunächst ausprobiert, bevor sie 2004 ihr Ensemble der Öffentlichkeit präsentierten. Die Karrieren der vier Streicher waren zu dem Zeitpunkt schon fortgeschritten, jeder von ihnen hatte etwas erreicht, was es nicht aufs Spiel zu setzen galt. Nachdem man sich schließlich als festes Streichquartett zu erkennen gegeben hatte, ließ der Erfolg nicht lange auf sich warten. Eine erste CD mit Bartók-Quartetten, eine Zweite mit Brahms folgte - die Fachpresse jubelte, die Konzertveranstalter fragten an, das Publikum war begeistert.

    "Henri Dutilleux
    Paranthèse 4. V. Constellations aus "Ainsi la nuit"

    Faszinierend auch die Bilder, die das Arcanto Quartett in Henri Dutilleux' "Ainsi la nuit" entwirft. Selten genug in der Kammermusik: ein Werk mit programmatischem Titel. Doch auch wenn Dutilleux nicht Programmmusik im eigentlichen Sinne geschrieben hat, setzen die Klänge beim Zuhörer Stimmungen und Assoziationen in Gang. Mal blitzen Sterne auf, dann ist die Nacht wieder tiefschwarz, vage Schatten huschen vorbei, unerklärliche Geräusche klingen von Ferne. Die sieben kurzen Sätze fügen sich ohne Pause aneinander und wirken wie ein Streifzug durch die Nacht. Nach Debussy scheint der Kontrast zuerst gewaltig, doch schnell wird deutlich: Auch Dutilleux hat zutiefst sinnliche Musik komponiert, weiß, mit dem Instrumentarium eines Streichquartetts eine ganze Welt entstehen zu lassen.

    "Henri Dutilleux
    Paranthèse 4. V. Constellations aus "Ainsi la nuit""

    Und dann wäre da noch Ravel - nicht zu vergessen! Mit seinem F-Dur-Streichquartett schließt sich der Kreis der Arcanto-Quartett-CD, denn Ravels großes Vorbild war Debussy und dessen Streichquartett gewesen. Diese beiden Werke auf einer CD miteinander zu kombinieren, das ist keine originelle Idee des Arcanto Quartett. Wenn Debussy, dann auch Ravel - dieser Faustregel folgen viele Ensembles. Das aber soll die Begeisterung für die Arcanto-Interpretation überhaupt nicht schmälern. Auch Ravel lassen sie blühen. Bei ihnen klingt seine Musik, als würde sie gerade erst erfunden - so spontan und aus dem Moment heraus musiziert.

    "Maurice Ravel
    4. Satz: Vif et agité aus Streichquartett F-Dur"

    Streichquartette von Ravel, Dutilleux und Debussy hat das Arcanto Quartett aufgenommen - ihre CD ist jüngst bei harmonia mundi erschienen. Davor habe ich Ihnen die Debüt-Platte des Tetzlaff Quartett vorgestellt - mit Sibelius' "Voces Intimae" und Schönbergs d-moll-Quartett, Opus 7. Eine Aufnahme von dem Label AvI music. Zwei großartige neue Platten.

    "Tetzlaff Quartett "String Quartets Sibelius - Schönberg"
    Jean Sibelius: Streichquartett d-moll, op. 56 "Voces Intimae"
    Arnold Schönberg: Streichquartett Nr. 1 d-moll, op. 7
    Avi music 8553202, LC 15080"

    "Arcanto Quartett "Quatuors à cordes. Debussy - Dutilleux - Ravel"
    Claude Debussy: Streichquartett g-moll, op. 10
    Henri Dutilleux: "Ainsi la nuit" für Streichquartett
    Maurice Ravel: Streichquartett F-Dur
    harmonia mundi HMC 902067, LC 7045"