Freitag, 29. März 2024

Archiv


Vier Kapitel zwischen Erfolg und Scheitern

Das biografisch-poetologische Essay über Thomas Brasch beginnt mit einer Kurzviat - es wird nicht an anekdotischen Details gespart. Wilkes geht auch auf das Schaffen des Autors als Drehbuchautor und Filmregisseur ein

Von Helmut Mörchen | 25.11.2010
    Insa Wilkes biografisch-poetologischer Essay über den "Dichter Thomas Brasch" trägt den Titel "Ist das ein Leben" ohne Ausrufungs- oder Fragezeichen. Der Verzicht akzentuiert die Ambivalenz von Unglück und Glück, die Spannung zwischen Erfolg und Scheitern im Leben des hochbegabten, 2001 an einem Herzversagen früh verstorbenen Autors.

    Während Braschs "Ruhm" zu Lebzeiten vor allem in seinen äußeren Lebensbedingungen, dem spektakulären Wechsel von Ost nach West, gründete, wirbt nun Wilke in ihrer Berliner Dissertation für die literarische Qualität seines Werks, das in Vergessenheit zu geraten droht.

    Deshalb erzählt sie nicht wie viele Biografen das Leben des Dichters chronologisch Station an Station reihend, sondert gruppiert profunde Textanalysen in vier Großkapitel mit den Überschriften "Flaschenpost aus West und Ost", "Widersprüche entzündbar machen", "Unter die Haut und das Hirn" und "Atmen lernen".

    Dabei kommt Insa Wilke ihre Jugend zugute. 1978 geboren konnte sie ja gar nicht mehr in die Gräben des Kalten Krieges geraten, in die Brasch, Jahrgang 1945, und seine gleichaltrigen Leser in Ost und West, ob sie es wollten oder nicht, vor dem Fall der Mauer geraten mussten.
    Als biographische Folie für ihre Interpretationen, die natürlich wichtige oder auch anekdotische biographische Details nicht aussparen, beschränkt Wilke sich im Einleitungskapitel auf eine prägnant formulierte Kurzvita:

    "Als Sohn jüdischer Kommunisten im Londoner Exil wenige Monate vor Kriegsende geboren, aufgewachsen in der DDR, der Vater zeitweilig stellvertretender Minister für Kultur, wegen seiner ‚existentialistischen Anschauungen’ exmatrikuliert, 1968 nach einer Flugblattaktion gegen die Niederschlagung des ‚Prager Frühlings’ verhaftet, verurteilt und auf Bewährung entlassen, 1976 mit der Schauspielerin Katharina Thalbach und deren Tochter Anna nach Westberlin ausgereist."

    Brasch selbst war sich nach der Ankunft im Westen schmerzhaft bewusst, dass er dort vor allem als prominenter Dissident beachtet und bejubelt wurde. Der Medienrummel um die Ausreise im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung hat eine Würdigung des Künstlers Brasch damals eher erschwert. Ob und wieweit sein noch in der DDR geschriebenes, aber erst 1977 im Westen im Rotbuch-Verlag erschienenes Buch "Vor den Vätern sterben die Söhne" damals ein wirklich von vielen gelesener Bestseller war, möchte man nach der Lektüre des Prosabandes heute eher bezweifeln. Denn die elf in drei Gruppen gegliederten Texte bilden kein leicht lesbares Erzählkontinuum, sondern sind verknüpft durch ein Kreisen um den existentiellen Komplex Arbeit und Produktion, das höchste Leserkonzentration verlangt.
    In einem "Spiegel"-Gespräch kurz nach seiner Ausreise, hat Brasch sich gegen jegliche Vereinnahmung vehement gewehrt: "Das Thema eines Schriftstellers ist nicht das Land, in dem er lebt, sondern das Problem, das er hat. Vielleicht unterscheidet mich das von Biermann." Er beschloss das Interview mit dem für ihn programmatischen Satz "Ich stehe für niemand anders als für mich".

    Für die Interpretation von Braschs umfangreichem Werk - Gedichte, Prosa, Theaterstücke und Filme – findet Insa Wilke eine Klammer, die sie davor bewahrt, sich im Disparaten zu verlieren. Sie thematisiert Braschs intensive Beschäftigung, seinen Dialog mit Dichterkollegen, vor allem mit Bertolt Brecht, Isaak Babel und Georg Heym.

    Bei Brecht konzentriert sie sich in ihrer Interpretation des Brasch-Gedichts "Im Garten Eden, Hollywood genannt" auf die Situation des Exilierten. Im Gedicht "Babels Tod" setzt sich Brasch mit der Verfolgung des Dichters in einer Diktatur auseinander. Den Lyriker Georg Heym rückt er in den Mittelpunkt eines Theaterstücks. Das Stück "Lieber Georg" trägt den Untertitel "Ein Eis-Kunst-Läufer-Drama aus dem Vorkrieg". Für Brasch sei Georg Heym ein exemplarischer Vorgänger: in "Lieber Georg" führt er Figuren vor, "die keine Lösung vorzuschlagen, sondern eine Lösung suchen".

    Natürlich geht Insa Wilke in ihrem Buch auch ausführlich auf den Drehbuchautor und Filmregisseur Thomas Brasch ein. Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass seine Filme "Engel aus Eisen", "Domino", "Der Passagier" und "Mercedes" seit Frühjahr 2010 in einer vorzüglich edierten DVD-Box des Suhrkamp Verlags wieder einem breiteren Publikum zugänglich sind.

    Bereits in den Theaterstücken "Lieber Georg" und "Rotter", dann auch in Dreien seiner Filme tritt als Nebenfigur ein Karl Brunke auf, der – ein historischer Kriminalfall – im Jahr 1905 in Braunschweig zwei Mädchen ermordet hat.

    Dieser Brunke rückte in Braschs letztem Lebensjahrzehnt ins Zentrum seines Schreibens. Von den 14.000 vorliegenden Seiten seines Brunke-Projekts wurde nur ein winziger Teil im Umfang von knapp 100 Druckseiten unter dem Titel "Mädchenmörder Brunke" 1999 veröffentlicht. Insa Wilke stand der Nachlass Braschs im Archiv der Akademie der Künste in Berlin zur Verfügung. "Verse, notiert auf Bierdeckeln und Servietten aus Berliner Kneipen, […] Skizzen und Entwürfe für Drehbücher und Theaterstücke", Notizen auf zerrissenen Briefumschlägen und alten Rechnungen – waren für die junge Forscherin eine noch überschaubare Herausforderung im Vergleich zur Sichtung und ersten Bewertung des auch im Nachlass deponierten Brunke-Konvoluts.

    Was sie hier im letzten Kapitel ihres Buchs "Atmen lernen" geleistet hat, ist grundlegend für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk Thomas Braschs. Leser, denen nur der schmale veröffentlichte Text "Mädchenmörder" Brunke zu Verfügung steht, können kaum etwas von diesem Mammutprojekt erfassen. Siegfried Unseld hat, was Brasch sehr schmerzte, dem Drängen seines Autors zu einer umfassenden Publikation nicht nachgegeben. Braschs alle Grenzen sprengender manischer Schreibausbruch ist gleichzeitig Dokument einer in die Figur Brunkes projizierten existentiellen Schreibblockade. Brasch selbst hat sich, wie er in einem Brief an Unseld schreibt, mit dem Brunke-Projekt in sein "Wörtergefängnis versperrt".

    Braschs Werke reich und breit zitierend, aber sehr frei in einem angenehm essayistischen Ton kommentierend, gelang es Insa Wilke, eine für deutsche Verhältnisse bemerkenswert "unakademische" Doktorarbeit zu schreiben. Das ist sicher auch ein Verdienst der Betreuerin der Dissertation, der Berliner Literaturwissenschaftlerin Irmela von der Lühe, bei der sie lernen konnte, wissenschaftlich und verständlich zu schreiben.

    Es ist zu wünschen, dass ihre von Matthes & Seitz wie gewohnt vorzüglich gestaltete Monographie ein neues literarisches Interesse an Thomas Braschs Dichtung weckt. Wer bisher noch keine Zeile von ihm gelesen hat, dem sei zum Einstieg die Lektüre des Prosatextes "Der Zweikampf" aus "Vor den Vätern sterben die Söhne" empfohlen.

    Insa Wilke: Ist das ein Leben. Der Dichter Thomas Brasch, Matthes und Seitz, Berlin 2010. 319 Seiten