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Vierte Amtszeit für die Kanzlerin?
"Merkel wird das Wort Obergrenze in den Mund nehmen müssen"

Für Hans-Hermann Tiedje steht fest: Angela Merkel braucht die Zustimmung von CSU-Chef Horst Seehofer, will sie 2017 erneut als Kanzlerkandidatin antreten. "Ohne Seehofer geht es nicht", sagte der ehemalige "Bild"-Chefredakteur im DLF. In der entscheidenden Flüchtlingsfrage habe dieser seine Partei hinter sich - sowie die Mehrheit der Gesellschaft.

Hans-Hermann Tiedje im Gespräch mit Dirk Müller | 29.08.2016
    Ein Mann in mittleren Jahren schaut grübelnd, das Kinn in die Hand gestützt, in die Kamera. Er ist ein massiger Typ und trägt Jacket und Krawatte.
    Hans-Hermann Tiedje, Ex-BILD-Chef, Unternehmens- und Politikberater (dpa / Karlheinz Schindler)
    Seehofer bestimme "im Grunde genommen das Datum", an dem Merkel ihre Kandidatur bekannt geben könne, so Tiedje. "Ohne ihn kann sie es alleine versuchen, doch das wird sehr schwer." Denn, so der Journalist und ehemalige Berater von Helmut Kohl, auch viele CDU-Mitglieder stünden beim Thema Einwanderungspolitik hinter den Positionen der Schwesterpartei. "Das Problem liegt vor der Haustür von Merkel, nicht der von Seehofer."
    Angesichts der Tatsache, dass auch die "Mehrheitsgesellschaft" die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ablehne, werde Merkel "das Wort Obergrenze in den Mund nehmen müssen", glaubt Tiedje.
    "Knäuel von Problemen"
    An der Frage, wer die Unionsparteien im nächsten Jahr in den Bundestagswahlkampf führt, hänge ein "Knäuel von Problemen". So erwartet Tiedje mit der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern einen "Donnerschlag", nämlich einen Erfolg von mehr als 20 Prozent Zustimmung für die AfD - und damit ein "AfD-Problem" für Merkel.
    Seehofer selbst sei zwischen seinen engen Beratern - den ehemaligen CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber und Theo Waigel - hin- und hergerissen; der eine (Stoiber) sei gegen, der andere (Waigel) für die Politik Merkels. Würde sich Seehofer selbst für eine Kandidatur entscheiden, stelle sich zudem die Frage seiner eigenen Nachfolge in Bayern.
    Als einizigen weiteren möglichen Unionsbewerber für das höchste politische Amt in Deutschland neben Seehofer sieht Tiedje nur noch Finanzminister Wolfgang Schäuble. Dieser sei "kanzler- und präsidentenfähig" - würde allerdings "als Preuße" nicht gegen Merkel opponieren.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Will sie sich erst im kommenden Frühjahr entscheiden, oder vielleicht dann doch im Dezember, Angela Merkel, entscheiden darüber, ob sie weitermacht, ob sie noch einmal kandidiert als Regierungschefin, als Parteichefin, als die Politikerin, die wie keine zweite die CDU, vielleicht die ganze Union völlig auf den Kopf gestellt hat, die Flüchtlingspolitik völlig neu definiert hat, die Europa in turbulentes Fahrwasser aufgrund dessen gebracht hat, die Politikerin, von der die meisten trotzdem nie so richtig wissen, wofür sie politisch steht. Das sagen jedenfalls die Kritiker.
    Die Debatte ist da, ganz frisch seit diesem Wochenende, weil die Kanzlerin sich zu dieser Frage nicht klar äußert. - Am Telefon ist nun Politik. Und Unternehmensberater Hans-Herrmann Tiedje, viele Jahre Chefredakteur der "Bild"-Zeitung. Guten Morgen!
    Hans-Herrmann Tiedje: Guten Morgen, Herr Müller!
    Müller: Soll Angela Merkel es besser bleiben lassen?
    "Ohne Seehofer geht es nicht"
    Tiedje: Da können wir beide drüber murmeln, oder Ihre Hörer. Aber das ist ja nicht der Punkt. Der Punkt ist: Sie hat die Zustimmung von Seehofer offenkundig nicht, und die braucht sie, wenn sie in den Ring geht und sagt, ich will wieder Kanzlerin werden. Ohne den geht es nicht.
    Müller: Das haben wir jetzt gehört als eine der Begründungen, dass Seehofer sich Zeit lässt, sich Zeit nehmen will, dann darüber zu entscheiden. Ist das wirklich so?
    Tiedje: Ja! Dies ist ein Knäuel von Problemen, das da zusammenhängt. Das ist ganz schwierig. Da geht es um Fakten, um Befindlichkeiten, da hängen alle möglichen Fragen miteinander zusammen bis hin zur Frage, wer künftiger Bundespräsident wird.
    Lassen Sie mich ganz kurz anfangen mit Folgendem: Seehofer hat seine Partei hinter sich in der zentralen Frage, der Flüchtlingsfrage. Frau Merkel hat ihre Partei nicht hinter sich. Es gibt sehr viele CDU-Abgeordnete, die auf CSU-Kurs sind, die es nur nicht sagen. Das weiß die Merkel auch. Seehofer weiß, dass sie am Faden hängt. Sie hat Probleme in der Außenpolitik an jeder Ecke: Orbán, Erdogan, Putin. Das wissen Sie ja alles, das haben Sie alles zusammengeführt. Und die Wahrheit ist: Er bestimmt im Grunde das Datum. Wenn er sagt, wir tragen Dich als Kanzlerkandidat nicht mit, Angela - ich glaube, die beiden duzen sich ja -, dann kann sie es alleine versuchen. Aber das wird dann sehr schwer.
    Müller: Sie sagen, Seehofer wird entscheiden, ob er unterstützt oder nicht. Das heißt, die CSU als Kanzlermacher. Und dann haben Sie gesagt, viele in der CDU sehen das eigentlich genauso, haben auch diese Skepsis, diese Fragen, ob sie weitermachen soll.
    Tiedje: Das ist so!
    Müller: Ja, liest man auch immer wieder. Und dann sagen Sie, sagt aber keiner. Steht das im Parteiprogramm der CDU, dass man eigentlich nichts sagt, wenn einem was stinkt?
    "In der CDU sind sehr viele auf CSU-Kurs"
    Tiedje: Ja! Das hängt zusammen wahrscheinlich mit Charakteren von Abgeordneten. Die CSU ist eine Mehrheitspartei, das ist ihr Gen. Die CDU ist eine Koalitionspartei, das ist so. Und in der CDU sind sehr viele auf CSU-Kurs. Mir hat ein Abgeordneter vor ein paar Tagen gesagt, dass die Fraktionssitzungen ihn oft an Totenmessen erinnern. Ich glaube auch, dass es so ist, weil die wissen natürlich alle, was dann kommt.
    Erst mal kommt am kommenden Sonntag ein Donnerschlag. Der kommt aus Mecklenburg-Vorpommern.
    Müller: Ist jetzt schon für Sie klar?
    Tiedje: Ja! 20 Prozent plus, irgendwo zwischen 20 und 25 Prozent. Das wissen Sie doch auch! Da die Leute bei Umfragen, wenn es so ein bisschen in die rechte Ecke geht, nicht ganz die Wahrheit sagen. Wenn die Umfragen jetzt bei 20 sind? Ich gehe davon aus, 22, 23 Prozent kriegen die. Und am Montag gucken sich dann alle an und sagen, wer ist schuld daran. Seehofer nicht! Das ist das Erste und dann geht es ja immer weiter.
    Dann ist die nächste Frage, die die CDU/CSU sprengt: Welche Leute in Bayern sollen eigentlich, wenn sie doch fast alle gegen Merkel sind, für Merkel Wahlkampf machen?
    Die dritte Frage ist: Mir sagen CSU-Leute, wir haben Schwierigkeiten, die Leute zu gewinnen, hier auf die Dörfer zu gehen und da zu kleben. Kann ja sein, dass ein Machtwort von Herrn Seehofer da hilft. Aber dann kommt noch eine Frage, die völlig ausgeklammert ist. Wenn wir die Wahlergebnisse von heute nehmen, angenommen heute wären Wahlen, dann wäre die Union, die Fraktion nicht mehr bei 311 Abgeordneten, sondern etwa bei 240 bis 250. Und die 60, 70, die dann rausfliegen aus dem Bundestag, sind alles CDU-Leute, weil die CSU-Leute gewinnen ihre Mandate ja fast alle direkt. Das Problem liegt direkt vor der Haustür von Frau Merkel, nicht vor der Haustür von Seehofer.
    Müller: Aber war es in der Vergangenheit nicht häufig so? Wir brauchen ja gar nicht bis Franz-Josef Strauß zurückzudenken. Das können Sie besser als ich, ich habe das nicht ganz so aktiv noch damals mitverfolgen können. Aber die CSU hat immer viel Trara gemacht, hat immer viel Tohuwabohu gemacht, und wenn es dann darauf ankam, hat sie doch gekniffen.
    "Wie einigt man sich über die Präsidentenfrage?"
    Tiedje: Ja! In Ihrer Frage liegt viel Wahrheit. Sie haben recht, so war es. In letzter Sekunde sind sie dann doch immer zurückgezuckt. Aber hier kommt noch ein vierter Punkt hinzu, nämlich die Frage der Bundespräsidentschaft: Will die Merkel das mit den Grünen versuchen? Will sie das mit Kretschmann machen? Wer wird da Kandidat? Vielleicht hält Seehofer sich ja sogar selbst für geeignet. Ich höre in der CSU, dass die keinen Kandidaten haben, außer Seehofer, den hat keiner gefragt bisher. Das eine ist: Wie einigt man sich über die Präsidentenfrage? Das wird ja auch in Vorgesprächen entschieden. Wie geht es dann weiter? Ich glaube nicht, dass die Bundeskanzlerin im Dezember auf dem Bundesparteitag sagen wird, ja, ich kandidiere wieder, ohne dass vorher Seehofer ja gesagt hat, weil ich vermute, wenn sie sich das traut, dass er danach extra Nein sagt.
    Müller: Ich habe ein bisschen Schwierigkeiten heute Morgen mit der Transferleistung, nicht so gut geschlafen. Sie haben eben gesagt, wer ist schuld daran. AfD - das war ja unser Thema -, da haben Sie gesagt, über 20 Prozent. Schuld daran ist nicht Horst Seehofer?
    Tiedje: Nee.
    Müller: Schuld daran ist Angela Merkel?
    "Jeder Flüchtling, der hier bleibt, belastet die Politik von Merkel"
    Tiedje: Ja! Die Umfragen sind doch völlig klar. Stabil sind zwei Drittel der Deutschen der Meinung, dass Deutschland nicht das Weltfluchtaufnahmelager Nummer eins wird. Sie wird die ganzen Flüchtlinge und Schutzsuchenden in Europa nicht los. Die Spanier nehmen ihr niemanden ab, die Franzhosen nicht. Also letztlich bleibt es dabei, dass die Leute, die hier sind, im Wesentlichen auch hier bleiben. Und jeder, der hier bleibt, obwohl er gar kein Asylrecht hat, belastet die Politik von Angela Merkel. Das ist einfach so! Es gibt da viele Wohlmeinende und Gutmeinende, die freuen sich über die Ankunft von Flüchtlingen. Aber eine Mehrheitsgesellschaft will das nicht und das wird sich in den Wahlergebnissen ausdrücken und auch im Verhältnis der Unions-Parteien untereinander, aber ganz massiv.
    Müller: Der kluge Politikwissenschaftler, der ohne Emotionen auf diese ganze Entwicklung schaut und der politisch in der Mitte behaftet ist, sagen wir es einmal so, wenn der analysiert, dann ist der nicht sauer auf die AfD, sondern dann ist der sauer auf Angela Merkel, weil sie das alles zugelassen hat?
    Tiedje: Ich glaube, dass die Bürger in ihrer Mehrheit so denken. Wie der kluge Politikwissenschaftler denkt, weiß ich nicht.
    Müller: Die Mehrheit der Bürger, die denkt so. Die sind klug genug?
    "Dann ist auf einmal das AfD-Problem für die Unions-Parteien riesengroß"
    Tiedje: Ja das weiß ich auch nicht. Aber ich gehe davon aus, dass am kommenden Montag, heute in einer Woche, die Diskussion völlig neu geführt wird, weil dann ist auf einmal das AfD-Problem für die Unions-Parteien riesengroß.
    Müller: Aber hatten wir nach Baden-Württemberg ja auch, war auch schon klar: Oh, oh, oh, da wird das alles nicht so weitergehen können. Hat sich was geändert?
    Tiedje: Nein, es hat sich nichts geändert, auch insofern nicht, als bei Seehofer in den Karten alles drin ist. Das ist ja nun auch wieder das Prä für Frau Merkel, dass Seehofer unberechenbar ist und auch völlig überraschend dann wieder zurückzuckt und alle denken, aha, jetzt kommt er, und dann auf einmal ist er doch nicht da. Das ist alles sehr, sehr schwierig. Das ist ein Knäul mit vielen Fäden und es ist schwer, das zusammenzuführen. Aber ich würde mich jetzt schon mal vorbereiten auf nächsten Montag.
    Müller: Wenn wir beide jetzt jemanden suchen müssten, der den Laden übernimmt und eine klare Zukunftsperspektive hat, fällt Ihnen da ein Name ein?
    "Schäuble ist kanzlerfähig. Aber der ist eben auch preußisch"
    "Frau Merkel wird das Wort Obergrenze in den Mund nehmen müssen"
    Tiedje: Ja, mir fiele schon einer ein, aber der hat das Problem: Er ist auch schon recht alt. Das ist Wolfgang Schäuble. Der kann jederzeit, wenn es da um Kopf und Kragen geht. Schäuble ist kanzlerfähig, das ist völlig außer Frage, das weiß auch jeder. Der ist auch präsidentenfähig. Aber der ist eben auch preußisch. Und da der nichts macht, nichts gegen Frau Merkel, und da Seehofer seine Truppen zusammen hat im Wesentlichen, und da Seehofer dann auch wieder - das kommt auch noch hinzu - im Grunde zwei enge Freunde hat, die ihn beraten - das eine ist Edmund Stoiber, der von Frau Merkel den Kragen voll hat, und das andere ist Theo Waigel, der nach wie vor von ihr eine gute Meinung hat, ist Seehofer auch hin und hergerissen.
    Dann kommt noch die Frage: Wenn er jetzt Kanzlerkandidat würde, wenn er sich selbst ernennen würde, was ich nicht glaube, oder wenn er sich dazu machen ließe, was wird dann mit Söder? - Es ist wie ein Puzzle und es ist nicht erkennbar, was rauskommt am Ende, außer Frau Merkel wird, davon gehen Sie mal aus, irgendwann das Wort Obergrenze in den Mund nehmen müssen. Sonst wird sie nicht wieder Kanzlerin.
    Müller: Sie sagen, Schäuble. Der ist ja, glaube ich, jetzt schon 70.
    Tiedje: Drüber!
    Müller: Drüber. - Und der wird Preuße bleiben. Da gehen Sie ja auch von aus. Das heißt, der sagt, nee nee, ich mach da keinen Sturz mit. Haben die auch schon mal versucht. Söder haben Sie jetzt genannt, aber das ist ja eine CSU-interne, bayerninterne Geschichte erst einmal. Haben Sie noch einen Namen, mit dem wir operieren können?
    Tiedje: Nee, habe ich nicht. Wenn ich ehrlich bin: Nein, habe ich nicht.
    Müller: Das ist gut für Angela Merkel.
    Tiedje: Ja! Aber die Frage ist, und das kennen Sie ja in der öffentlichen Diskussion: Wenn Frau Merkel nicht mehr da ist, wer soll es denn dann machen? Na gut, wenn wir in dem Stadium angekommen sind, dass eigentlich nur Frau Merkel das Land führen kann, dann sieht es nicht so gut um für dieses Land.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der Politik- und Unternehmensberater Hans-Herrmann Tiedje. Danke für die offenen Worte, noch einen schönen Tag.
    Tiedje: Ich grüße Sie und Ihre Hörer. Tschüss, Herr Müller.
    Müller: Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.