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Violaine Huisman: "Die Entflohene"
Eine mütterliche Naturgewalt

Depressionen sind die Volkskrankheit unserer Zeit. Das Thema spiegelt sich auch in der Literatur wider. Die Französin Violaine Huisman setzt in ihrem Debütroman ihrer bipolaren Mutter ein bewegendes literarisches Denkmal.

Von Dina Netz | 31.07.2019
Buchcover: Violaine Huisman: „Die Entflohene“
"Die Entflohene" ist der Debütroman von Violaine Huisman (Foto: picture alliance/dpa/Foto/AFP, Buchcover: S. Fischer Verlag)
Depressionen sind die Volkskrankheit unserer Zeit. Die Zahl der Arbeitnehmer, die aufgrund von psychischen Erkrankungen ausfallen, steigt seit Jahren kontinuierlich. Entsprechend mehren sich die literarischen Auseinandersetzungen mit dem Thema. Thomas Melle hat mit "Die Welt im Rücken" einen Aufsehen erregenden Bericht über sein Leben mit einer bipolaren Störung vorgelegt. Die Französin Ghislaine Dunant hat in "Ein Zusammenbruch" ihren depressionsbedingten Aufenthalt in der Psychiatrie literarisch verarbeitet.
Violaine Huisman erzählt in "Die Entflohene" nun die Lebensgeschichte einer bipolaren Frau aus einer ungewöhnlichen Perspektive: nämlich nicht aus der der Kranken, sondern aus der der Tochter, die mit den schwankenden Stimmungen der Mutter aufwächst. Huisman hat in Interviews kein Geheimnis daraus gemacht, dass der Roman autobiographisch grundiert ist, sogar sehr deutlich – ihre Erzählerin nennt sie Violaine.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert: In Teil eins erzählt die Tochter von dem emotionalen Orkan, als der die Mutter über ihre beiden Töchter hinwegfegt. In Teil zwei schreibt sie die Biographie der Mutter auf. Und in Teil drei nimmt sie Abschied von ihr, die mit Anfang 60 Selbstmord beging.
Bipolar aus der Sich eines Kindes
Der erste Teil von "Die Entflohene" ist der bei weitem stärkste. Weil er aus einer Perspektive geschrieben ist, die man so noch nicht häufig lesen konnte: aus der Perspektive eines Kindes, das die Krankheit nur indirekt erlebt, das von ihren Auswirkungen aber unmittelbar betroffen ist. Diese emotionale Unmittelbarkeit macht Huismans Bericht bewegend und erschütternd. Denn die Mutter war für ihre Töchter nicht berechenbar. Sie litt an einer bipolaren Störung, würde man heute sagen. Zu ihrer Zeit nannte man sie manisch-depressiv. In ihren manischen Phasen richtete sie große Kindergeburtstage und rauschende Feste aus. Catherine war eine Naturgewalt:
"Maman war eine der schönsten Frauen der Welt. Das sagten alle, die sie zu ihren Glanzzeiten erlebt hatten, und ihre Schönheit war für sie selbst mindestens genauso fatal wie für die Männer und Frauen, die ihr verfielen. Wir wunderten uns nicht, wenn Maman fuhr wie ein Rowdy und die Straßenverkehrsordnung für reine Theorie hielt, die in die Praxis umzusetzen grotesk wäre."
Die Mutter der Erzählerin ist ein energetischer Vulkan, dem Männer und Frauen gleichermaßen zu Füßen liegen – sie kommt allein auf fünf Ehen. Catherine lebt wie die sprichwörtliche Kerze, die an beiden Seiten brennt. Und sie verzehrt sich dabei: Violaine ist zehn, als ihre Mutter zum ersten Mal "verschwindet", für einige Monate zwangseingewiesen wird. Die Krankheit wird verstärkt durch massiven Alkohol-, Nikotin- und Medikamentenmissbrauch.
Die emotionalen Abgründe sind zu ahnen
Violaine Huisman erzählt von ihrer Kindheit und Jugend in einem scheinbar leichten, jugendlichen Parlando, hinter dem sich aber die emotionalen Abgründe erahnen lassen, in die die Mädchen tagtäglich fallen. Die Schwestern wachsen über weite Strecken bei Eltern ihrer Freundinnen auf, finden immer wieder Ersatzfamilien. Sie geben sich gegenseitig Halt auf dem sinkenden heimischen Boot und nehmen dabei erwachsene Rollen ein, für die sie eigentlich viel zu jung sind. Zum Beispiel flehen sie immer wieder ihre Mutter an, die Nacht zu überleben, oder lernen, sie zu reanimieren.
Über die Konsequenzen einer Kindheit, die abrupt und zu früh endete, schweigt die Autorin, wie sie auch sonst mit ihrer eigenen Person und der ihrer Schwester diskret umgeht. Das Buch ist Huismans Schwester gewidmet. Erzählerisch verschmelzen sie zu einer Doppel-Person: Die Autorin nimmt häufig die Wir-Perspektive beider Töchter ein.
Vor allem in den depressiven Phasen der Mutter brauchen die Kinder einander. Denn dann werden sie zur Zielscheibe für den Frust der Mutter:
"Seht zu, wie ihr zurechtkommt!, das war der ewige Refrain ihrer Litaneien, sie sagte, wir sollten uns verpissen und nicht dauernd angeschissen kommen, wir sollten mal damit aufhören, auf die ganze Welt zu scheißen, wir sollten endlich kapieren, dass sie sich einen Scheiß für die Fragen und Sorgen verhätschelter fauler Gören interessierte. Seht zu, wie ihr zurechtkommt, ihr kotzt mich an mit euren bescheuerten Problemen! Das war aber nicht das Ende von Mamans Beschimpfungen, in der Regel fingen sie so erst an."
Im zweiten, weniger intensiven Teil von "Die Entflohene" erzählt Violaine Huisman die Lebensgeschichte ihrer Mutter. Diese Passagen sind zugleich eine Spurensuche nach dem Auslöser für die fatale Krankheit. Catherine selbst gibt ihrem zweiten Mann die Schuld, dem Vater ihrer Töchter, der sie für eine andere verlässt. Doch die Erzählerin vermutet die Wurzeln des Übels viel tiefer, nämlich schon vor Catherines Geburt: Sie war das Resultat einer Vergewaltigung, Catherines Mutter hat die Tochter immer abgelehnt. Sie kam mit einer Behinderung zur Welt und verbrachte ihre ersten Jahre im Krankenhaus. In der fehlenden Liebeserfahrung als Kleinkind sieht die Erzählerin den Auslöser für die spätere Krankheit der Mutter – ein ständiges Buhlen um Aufmerksamkeit und Liebe.
Das persönliche, intime Porträt der Mutter
Denn obwohl sie recht erfolgreich eine Tanzschule eröffnet, einen Ehemann findet, der sie auf Händen trägt, wird Catherine nie zur Ruhe kommen. Sie wird Ehemann eins verlassen, um Ehemann zwei zu heiraten, der in den besseren Kreisen verkehrt und mit Geld um sich wirft, der sie aber auch permanent hintergeht und erniedrigt. Und der – bittere Pointe für die Töchter – nicht einmal zu Catherines Beerdigung kommen wird. Huisman hat sich erkennbar mit dem Krankheitsbild ihrer Mutter auseinandergesetzt. Sie zitiert aber nur sehr vereinzelt wissenschaftliche Literatur. Ihr Roman ist ein sehr persönliches, intimes Porträt dieser einen Person, die ihre Kindheit und Jugend bestimmt hat.
Violaine Huisman beschönigt und entschuldigt nichts: nicht die Abwesenheit des Vaters, nicht die heftigen Stimmungsschwankungen der Mutter. Ihr Bericht ist schonungslos, aber ohne Bitterkeit, selbst wenn sie davon erzählt, wie sie als Kinder mit Schlaftabletten zur Ruhe gebracht wurden. Zum Teil erwächst aus den skurrilen Situationen, die die Kinder mit ihren dysfunktionalen Eltern erleben, sogar ein herrlich abgründiger schwarzer Humor. Und trotz aller Defizite, die sie hatte, ist "Die Entflohene" ein Denkmal für die Mutter, die ihre Kinder durch alle Dramen hindurch doch immer geliebt hat. Genau wie umgekehrt:
"Wir liebten sie über alles, und dieses Versprechen genügte, damit sich ihre Stirn glättete und ihre Stimme wieder sanfter wurde. Ja, wir liebten sie, und sie liebte uns. Das Gewitter ging vorbei mit einem Streicheln über den Rücken, einem schmatzenden Kuss auf den Hals, einem ganzen Regen von Küssen, Küssen und Küssen und Küssen."
Auf Distanz in New York
Der Roman ist auch ein Plädoyer für Toleranz gegenüber Menschen, die sich in das Räderwerk unserer durchstrukturierten und -optimierten Arbeitswelt nicht einfinden wollen oder können.
Violaine Huisman ist sich der Gefahr durchaus bewusst gewesen, über die Frau zu schreiben, die, wie sie es in einem Interview genannt hat, für sie "über allem steht". Das hätte auch pathetisch oder peinlich enden können. Doch Huisman ist früh auf Distanz gegangen: Mit 19 zog sie nach New York, wo sie bis heute lebt und wo sie offenbar auch emotional Distanz gewonnen hat. Huismans Bericht ist zum Teil atemlos, sie segelt durch hohe emotionale Wogen, hält jedoch literarisch immer Kurs und erzählt eindringlich von einer stürmischen Mutter-Tochter-Liebe.
Violaine Huisman: "Die Entflohene"
Aus dem Französischen von Eva Scharenberg
Verlag S. Fischer, Frankfurt a.M., 256 Seiten, 22 Euro.