Donnerstag, 18. April 2024

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Virologin zur Pandemie-Bekämpfung
"Ich fürchte, es geht nur, wenn es europaweit läuft"

Die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung hält eine Lockerung der Corona-Maßnahmen erst bei einer Inzidenzzahl von zehn Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern für sinnvoll. Dringend nötig sei zudem eine einheitliche Eindämmungsstrategie in Europa.

Melanie Brinkmann im Gespräch mit Philip May | 29.12.2020
Virologin Melanie Brinkmann steht am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung HZI
Die Virologin Melanie Brinkmann (Julian Stratenschulte/dpa)
Seit dem Wochenende haben auch in der EU die Corona-Schutzimpfungen begonnen. Langfristig könnte sich so die Situation verbessern. Kurzfristig sieht es dagegen eher düster aus. Die Infektionszahlen steigen in ganz Europa, die Intensivkapazitäten sind zunehmend ausgelastet. Melanie Brinkmann, Virologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, gehört zu den 300 Wissenschaftlern, die in einem Positionspapier deshalb einen harten, europaweit koordinierten Lockdown gefordert haben.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Philip May: Sie gehören zu den über 300 Wissenschaftlern, die zusammen einen koordinierten europäischen harten Lockdown fordern. Muss das sein?
Melanie Brinkmann: Dieses Positionspapier, von dem Sie sprechen, ist ja in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift erschienen. Das Ganze wurde koordiniert von Viola Priesemann am Max-Planck-Institut in Göttingen, und sie hat da tatsächlich ganz viele Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Fachdisziplinen auch vereint, die ein gemeinsames Papier unterzeichnen. Man hat dabei gemerkt, wie groß die Einheitlichkeit da ist, dass wir nämlich alle fordern, dass wir niedrige Fallzahlen brauchen. Und warum brauchen wir die, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa? Weil es eigentlich nur Vorteile gibt von niedrigen Fallzahlen. Hohe Fallzahlen sind ein großes Problem für unser Gesundheitssystem und natürlich auch für unsere Wirtschaft, denn der Lockdown ist ja immer nur eine Notbremse, das ist nicht etwas, was wir noch ein drittes Mal haben wollen. Eigentlich hätten wir gerne den zweiten Lockdown schon vermieden und haben uns auch viel früher schon gewünscht, im September, Oktober, dass Maßnahmen angezogen werden, um diesen Wahnsinnsanstieg der Fallzahlen überhaupt zu verhindern. Das ist leider nicht passiert, und jetzt sind wir über die Weihnachtszeit mit diesen sehr hohen Zahlen konfrontiert und haben dadurch natürlich viele Probleme. Da müssen wir wieder hin, dass die Zahlen niedrig sind.

"Bei niedrigen Fallzahlen geht es auch der Wirtschaft gut"

May: Nur die Frage ist, über welchen Zeitraum reden wir denn jetzt? Wie lange brauchen wir den Lockdown, um wieder zu den von Ihnen geforderten niedrigen Fallzahlen – ich glaube, im Raum steht eine Inzidenz von 10 pro 100.000 Menschen –, wie lange brauchen wir dafür? Das wird ja bis zum 10. Januar sowieso nicht zu schaffen sein, wird das im März erreicht oder im April, das ist ja auch eine gute Aussicht.
Brinkmann: Ja, das ist erst mal im Moment schwer zu sagen, weil wir dadurch, dass wir in den Weihnachtstagen liegen, natürlich weniger testen, es wird weniger gemeldet, und die Modellierer können im Moment mit den Zahlen nicht wirklich vorhersagen, wie es in ein oder zwei Wochen aussieht mit den Zahlen. Das ist gerade eine schwierige Situation, aber ich geben Ihnen recht, am 10. Januar werden wir noch nicht da sein, wo wir hin müssen, dass wir wirklich deutschlandweit eine niedrige Inzidenz haben, und ich fürchte auch, dass wir weiterhin Maßnahmen ergreifen müssen. Wie genau die aussehen, das kann ich Ihnen nicht beantworten, aber es ist so – und das ist ein ganz wichtiger Punkt –, wenn die Reproduktionszahl auf einem niedrigen Wert ist, weit unter 1, ungefähr bei 0,7, dann reduzieren sich die Fallzahlen um einen Faktor 2 pro Woche. Genauso wie die steigen, können die natürlich auch fallen. Dann haben wir in einem Bereich von einer 200er-Inzidenz nach einer Woche nur noch 100, nach einer weiteren Woche 50, und nach vier Wochen haben wir ungefähr 12, und da sind wir ja schon fast bei den 10. Also könnte man ungefähr davon ausgehen, dass man so lange benötigt, und wie genau man da hinkommt, kann ich Ihnen nicht genau beantworten. Aber das wäre ein Bereich, wo wir schon einmal waren und wo wir ausreichend Testkapazitäten haben, dass wir wirklich schnell testen können, denn es zählt immer die Schnelligkeit – wie schnell können wir dem Virus den Weg abschneiden. Wir können bei einer niedrigen Inzidenz auch die Kontaktnachverfolgung gut durchführen, und wir haben natürlich auch viel weniger Menschen, die in Quarantäne sind, wenn die Zahlen niedrig sind. Das hilft natürlich auch der Wirtschaft. Außerdem sind Menschen ja auch ängstlich, wenn sie wissen, in meiner Region ist die Inzidenz gerade unheimlich hoch. Also die Wahrscheinlichkeit, dass ich im Supermarkt jemanden treffe, der infiziert ist, ist hier gerade sehr hoch, dann gehe ich eher nicht vor die Tür, und auch das ist schlecht für die Wirtschaft. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Botschaft. Bei niedrigen Fallzahlen geht es auch der Wirtschaft gut.
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May: Ich höre raus, den Januar, den müssen wir uns mindestens gedulden, wenn wir jetzt einfach mal vier Wochen nehmen. Funktioniert das nur, wenn es tatsächlich europaweit läuft, oder geht auch ein Alleingang?
Brinkmann: Ich fürchte, es geht wirklich nur, wenn es europaweit läuft, wenn wir unsere Grenzen geöffnet haben wollen, und das wollen wir natürlich, wir haben ja unheimlich viel Austausch mit unseren Nachbarländern. Aber das ist ein ganz wichtiges Ziel, was wir verfolgen sollten, dass wir eine einheitliche und synchronisierte Eindämmungsstrategie verfolgen innerhalb Europas, und das braucht eine sehr starke Koordination zwischen den Ländern. Ja, das ist jetzt dringend erforderlich, dass man sich klar sagt, was ist unser Ziel, denn sonst habe ich natürlich die Gefahr, dass ein Land ein niedrige Inzidenz hat, das Nachbarland hat eine hohe, und es kommt wieder zur Einschleppung. Das ist wie beim Tischtennis, der Ball geht immer mal wieder über die Grenze. Das Virus kennt ja keine Grenzen.

"Es wurde immer weiter zugeschaut, dass die Zahlen steigen"

May: Da tun sich jetzt natürlich rein praktisch Fragezeichen auf, wenn man sieht, wie die Corona-Pandemiebekämpfung in Deutschland allein gelaufen ist. Das föderale Deutschland, das schafft es ja selbst nur hin und wieder mit Mühe, sich auf gemeinsame Maßnahmen zu einigen. Ist es da nicht gerade in so einer Sondersituation vergebene Liebesmühe und Zeitverschwendung, auf 27 EU-Staaten zu warten? Österreich will seine Skigebiete nicht schließen beispielsweise, Deutschland nicht die Grundschulen und so weiter.
Brinkmann: Man muss sich einfach überlegen, was einem wichtig ist. Möchte man in Europa in den dritten Lockdown laufen oder bekommt man es hin, eine gemeinsame Strategie zu formulieren und die dann auch mit der Bevölkerung zu kommunizieren, denn das ist ja auch ein ganz wichtiger Punkt. Regierung, was Sie gerade gesagt haben, man hat den Eindruck, die Regierung ist zerstritten, sie weiß eigentlich selber nicht so recht, was sie tut, der Eindruck besteht ja so ein bisschen, auch in anderen Ländern natürlich. Das gilt es zu verhindern, denn dann bricht mir die Unterstützung der Bevölkerung weg. Wenn ich aber ein klares Ziel formuliere, hier wollen wir gemeinsam hin aus dem und dem Grund, kann man das, glaube ich, erreichen. Man muss seine Ziele schon hochstecken, wir haben es hier mit einer Pandemie zu tun, und die erfordert klares Vorgehen und gemeinschaftliches Vorgehen. Ich bin ja immer dafür, Ziele hochzustecken. Ich möchte noch mal kurz betonen: Die Inzidenz von ungefähr 10 auf 100.000, das ist unser Ziel, das ist nicht die Obergrenze. Die Obergrenze sollte sein, die 35 oder 50, und es muss klar kommuniziert werden, was passiert denn, wenn wir bei einer höheren Inzidenz sind, und das ist genau das, was nicht passiert ist letztes Jahr. Es ist nichts passiert, als wir die 50 erreicht haben. Es wurde immer weiter zugeschaut, dass die Zahlen weiter steigen, und das ist nicht gut.
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May: Wenn Sie sagen, Sie sind für höhere Ziele, heißt das dann, dass die Maßnahmen Ihrer Meinung nach noch einmal verschärft werden sollten oder reichen die jetzt aus, so wie sie jetzt sind?
Brinkmann: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, es gibt schon noch viel Luft nach oben, vor allem auch in einzelnen Betrieben, dass Hygienekonzepte da wirklich umgesetzt werden. Man kann das nicht alles kontrollieren, und das ist gerade das Wichtige, dass wir das klar kommunizieren, das Ziel ist das und das. Dann wissen ja auch Betriebe, okay, da müssen wir hin, vorher können wir nicht richtig operieren, bis dahin müssen die Menschen im Homeoffice sein. Wenn ich aber dieses Ziel erreicht habe, dann können wir wieder normaler leben, und das erlaubt uns ja viel mehr Freiheiten, diese niedrige Inzidenz, da ist das Leben fast normal wieder möglich. Natürlich werden wir weiterhin Masken tragen, aber vieles wird deutlich einfacher sein. Wenn die Betriebe das auch verstehen, dann werden sie ihre Hygienekonzepte auch wirklich konsequent durchsetzen. Da müssen wir hin, dass jeder wirklich mitmacht. Wie gesagt, ich glaube, es ist einfacher, wenn das Ziel klar und transparent kommuniziert ist.

Ziele müssen klar formuliert werden

May: Ketzerisch formuliert, es klingt so ein bisschen, als könnten wir einen dritten Lockdown nur durch einen dritten Lockdown verhindern sozusagen.
Brinkmann: Nee, ich glaube, wir müssen erst mal ganz klar sagen, wohin müssen die Zahlen durch diesen zweiten Lockdown kommen. Und wenn die niedrig genug kommen, kann ich diesen dritten Lockdown sehr wohl verhindern, da bin ich fest überzeugt von. Das Problem ist aber, wenn ich jetzt zu früh wieder lockere, die Zahlen also noch zu hoch sind, dann habe ich wirklich auch die Sorge, dass wir in den dritten Lockdown reinkommen, denn wir werden im Frühjahr noch nicht genügend Menschen geimpft haben in Deutschland, dass wir diese Herdenimmunität auch nur ansatzweise haben. Ich schätze mal, im April haben wir fünf Millionen geimpft, das reicht noch lange nicht. Wir brauchen eher eine 80- bis 85-prozentige Durchimpfung der Bevölkerung.
May: Frau Brinkmann, wie sehr erschwert mittlerweile auch in Deutschland das nachgewiesene, offenbar noch ansteckendere Version, die Mutation des Coronavirus jetzt diesen Weg, den Sie vorgeschlagen haben?
Brinkmann: Das erschwert es nicht, das sagt eigentlich noch viel klarer, dass wir das Virus unter Kontrolle bekommen müssen durch die Maßnahmen, die wir alle schon kennen.
Mutiertes Virus könnte Impfstrategie "deutlich angreifen"
May: Aber Sie gehen auch davon aus, dass es ansteckender ist?
Brinkmann: Ja, die Berichte, die ich jetzt gelesen habe, die haben mich mittlerweile auch überzeugt, dass man da sehr genau hinschauen muss. Man sollte jetzt nicht in Panik verfallen, aber es sollte wirklich ein Weckruf sein, der uns klar sagt, das Virus laufen zu lassen oder hohe Fallzahlen zu haben, ist absolut keine Option, denn je mehr Infektionen wir zulassen, desto mehr geben wir dem Virus ja auch die Gelegenheit, dass sich Veränderungen, die es durchläuft, auch weiter verbreiten können. Genau deshalb ist unsere Strategie, die wir in diesem Positionspapier fordern, noch mal viel, viel wichtiger geworden, denn es kann gut sein, dass es Varianten gibt von diesem Virus, die auch die Impfstrategie irgendwann mal deutlich angreifen, sag ich mal.
May: Weil dann tatsächlich Mutationen da sind, die dann nicht mehr ansprechen auf die Impfung sozusagen.
Brinkmann: Es kann passieren, die Wahrscheinlichkeit besteht. Sie ist nicht sehr groß, man weiß auch nicht, wann das eintritt, aber es kann eintreten.
May: Jetzt hab ich noch eine Frage: Sie sprechen am Anfang von ganz großer Einheitlichkeit unter den Forschern, aber es gibt ja immer noch, auch in Ihrer Zunft, ernst zu nehmende Stimmen, die das immer noch anders sehen. Klaus Stöhr beispielsweise wird ja öfter mal in den Medien zitiert beziehungsweise meldet sich zu Wort, ehemaliger Leiter des SARS-Forschungsprogramms der WHO, der zum Beispiel sagt, es ist ein Irrweg zu glauben, man könnte mitten in der Erkältungssaison mit einem Lockdown die Fallzahlen massiv senken, die Pandemie sei nun mal ein Naturereignis, das man nicht aufhalten könne. Hat er keinen Punkt für Sie?
Brinkmann: Ja, die Stimmen gibt es, aber jetzt muss man ja schon mal ganz klar sagen, der Lockdown funktioniert sehr wohl in anderen Ländern. In Irland hat er sehr gut funktioniert, und da waren wir auch schon in der Wintersaison, und die haben sehr gut gezeigt, dass es möglich ist. Auch hier wird es möglich sein. Das Problem ist, wenn man das Vertrauen der Bevölkerung verliert und die Unterstützung der Bevölkerung, die eben nicht genau einsehen, warum eigentlich das Ganze, das ist das Problem. Ich glaube, das ist ziemlich schiefgelaufen in diesem Jahr, dass wir da nicht klar kommuniziert haben, was ist denn unsere Strategie in Deutschland und Europa. Das ist hier nie wirklich klar kommuniziert worden, und ich glaube, das fällt uns gerade auf die Füße.

Impfung: "Gut kommunizieren, dass die Menschen mitmachen"

May: Maximal eine Frage beziehungsweise Antwort haben wir noch, können wir noch mal ganz kurz auf die Impfungen zu sprechen kommen: Wann, glauben Sie, wären wir dann so weit, dass wir mit den Impfungen wieder so etwas wie totale Normalität erreichen können?
Brinkmann: Das kommt natürlich jetzt erst mal drauf an, wie viele Impfdosen haben wir zur Verfügung, und die Bereitwilligkeit der Bevölkerung, sich impfen zu lassen, ist natürlich ein ganz anderer wichtiger Aspekt dabei. Um wirklich diese Herdenimmunität zu erreichen, ich denke, dass wir da schon anstreben sollten, 80 Prozent der Menschen zu impfen. Da werden wir eine Herdenimmunität wirklich spüren, und wir werden auch einen Effekt auf die Pandemie schon vorher spüren, wenn wir 50, 60, 70 Prozent geimpft haben. Da ist es jetzt natürlich auch ganz wichtig, die Akzeptanz zu fördern, zu erklären, dass dieser Impfstoff sicher ist, dass die Nebenwirkungen sehr überschaubar sind. Das ist jetzt die wichtige Aufgabe der Regierung und auch aller Beteiligten, das gut zu kommunizieren, dass die Menschen mitmachen. Das ist genau das Gleiche wie bei den niedrigen Fallzahlen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.