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Virtuoses Spiel auf der Klaviatur postmoderner literarischer Scherze

Funfundzwanzig Jahre nachdem der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin mit "Die Schlange" die literarische Bühne betrat, erschien nun sein Roman "Zuckerkreml" auf Deutsch. Dieser enthält die inzwischen gewohnte Menge an lustvoll und detailliert geschilderter Gewalt, Pornografie und Drogenklamauk.

Von Uli Hufen | 09.12.2010
    "Genosse, wer ist der letzte in der Schlange?"

    Mit diesen Worten betrat der 30-jährige Vladimir Sorokin 1985 die literarische Bühne. Das ist lange her. "Die Schlange" wurde zunächst in Frankreich auf Russisch veröffentlicht, die erste deutsche Übersetzung erschien 1990, die erste Publikation in der Heimat 1992, ein Jahr nach dem Ende der Sowjetunion.

    "Die Schlange" ist ein klug komponierter, komischer Roman, der komplett aus den unkommentierten Dialogen einer Gruppe von Menschen besteht, die in irgendeinem Moskauer Vorort vor einem Kaufhaus anstehen, weil angeblich etwas Rares verkauft wird. Was das ist und ob die Ware reichen wird, bis sie dran sind, wissen die Leute nicht. "Die Schlange" hatte, anders als fast alle Sorokin-Romane danach, ein romantisches Happy End. Sie war auch das letzte Buch, in dem Sorokin ohne Vergewaltigung, Kannibalismus, Analkopulation zwischen Generalsekretären, Verstümmelung, Auspeitschung oder homosexuellen Gruppensex auskam.

    Fünfundzwanzig Jahre später ist Vladimir Sorokin neben Viktor Pelewin und Viktor Jerofejew der renommierteste lebende russische Schriftsteller. Sein soeben auf Deutsch erschienener Roman "Zuckerkreml" enthält die inzwischen gewohnte Menge an lustvoll und detailliert geschilderter Gewalt, Pornografie und Drogenklamauk. Er enthält auch ein Kapitel mit dem Titel "Die Schlange", das komplett aus den unkommentierten Dialogen einer Gruppe von Menschen besteht, die in irgendeinem Moskauer Vorort vor einem Kaufhaus anstehen, weil angeblich etwas Rares verkauft wird. Das Kapitel beginnt so:

    "Wer ist der Letzte, ihr guten Leute?"

    Es folgen fünfzehn Seiten Text, die zum großen Teil wortwörtlich aus "Die Schlange" übernommen sind. Das Erstaunliche ist nun nicht, dass Sorokin sich selbst zitiert. Der Meister spielt von jeher virtuos auf der Klaviatur postmoderner literarischer Scherze, schon die Original-Schlange enthielt mehrere komplett unbedruckte Seiten. Erstaunlich ist, dass Sorokin die Szene kopiert, obwohl sein neuer Roman nicht nur nicht in der sowjetischen Vergangenheit spielt, sondern auch nicht in der russischen Gegenwart.

    "Der Zuckerkreml" spielt im Jahr 2028. Es ist die Fortsetzung des Romans "Der Tag des Opritschniks", in dem viele Rezensenten vor zwei Jahren eine tief pessimistische, orwellsche Antiutopie lesen wollten. Im Russland von 2028 herrscht Monarchie, das Land hat sich durch eine hohe Mauer abgeschottet und wird zusammengehalten von Religion und Gewalt. Der "Tag des Opritschniks" erzählte einen Tag aus dem Leben des Opritschniks Komjaga. Unter dem Namen Opritschnina operierte im 16. Jahrhundert für sieben Jahre eine Art staatlich sanktionierte Todesschwadron in Russland. 2027 war sie wieder da.

    Bloß: War Sorokins Roman wirklich eine Antiutopie oder doch eher eine Parodie auf eine Antiutopie? Warnte Sorokin oder machte Sorokin sich lustig über die ewigen Warnungen? Sollt man sich gruseln? Oder sollte man kichern, wie viele der Besucher auf Sorokins damaliger Lesung in Köln?

    "Der Zuckerkreml" liest sich nun, als habe Sorokin all das, was nach der Arbeit am "Tag des Opritschniks" noch auf seinem Schreibtisch lag, zusammengesammelt und zwischen zwei Buchdeckel getan. Das Buch besteht aus fünfzehn inhaltlich nicht miteinander verbundenen Erzählungen, in denen uns in impressionistischer Manier die übrigen Bewohner des seltsamen Imperiums vorgestellt werden: Hofnarren, Henker, Zwangsarbeiter, Bettler, Krüppel, Kinder, Dissidenten, Polizisten, Nutten, Reiche und Irre. Es herrscht eine schwere Wirtschaftskrise, die Mauer, die Russland vor Feinden schützen soll, ist noch immer nicht fertig, die Lebensmittel sind knapp. Zwischendurch prügelt jeder jeden: Die Eltern die Kinder, die Aufseher die Arbeiter und die Männer ihre Frauen. Und die Polizei, die prügelt sowieso. Zusammengehalten wird die bunte Gewaltorgie von aus Zucker gefertigten Kreml-Figuren, an denen sich das Ganze irre Personal labt, ungeachtet aller sozialen Differenzen.

    Schließlich hatte der Papa das Hämmerchen geholt und den Kreml akkurat in seine Einzelteile zerlegt - jeden Turm für sich. Und Marfuscha verteilte die Kremltürme an ihre Familienangehörigen. Den Borowitzki-Turm bekam der Vater, den Nikolausturm die Mutter, den Kutafjaturm der Großvater, den Dreifaltigkeitsturm die Großmutter. Den Rüstkammerturm beschloss der Familienrat bis zur Geburt von Marfuschas Brüderlein aufzuheben: Sollte es ihn getrost aufschlecken, auf dass es groß und stark würde wie ein Recke ... Die Kremlmauern aber und auch die Kirchen und den Glockenturm, die hatten sie gleich alle miteinander zum Tee verputzt. Während Marfuscha die Augen zufielen, schob sie sich den Doppelkopfadler in den Mund, legte ihn auf die Zunge und lutschte. ... So schlief sie ein und hatte einen schönen Traum. Sie träumte vom Gossudaren auf seinem Silberschimmel - schneeweiß und aus Zucker.

    Was immer das ist, es ist mit Sicherheit keine todernste politische Antiutopie, die vor einem Abgleiten Russlands in eine finstere totalitäre Diktatur warnt. Vielleicht liegt das tatsächlich daran, dass der Begriff totalitärer Staat in Russland eine Tautologie ist, wie ein russischer Kritiker bemerkte. Was soll man sich groß aufregen, wenn alles so ist wie immer? Wer mag, kann die Lage in Russland darum für noch viel aussichtsloser halten als befürchtet und Sorokins Zukunftsvision für noch viel finsterer, als die seiner Vorgänger von Orwell bis Huxley. Aber wie gesagt: Es spricht auch einiges dafür, dass "Der Tag des Opritschniks" und "Der Zuckerkreml" Parodien sind. Immerhin sind Parodien Sorokins Hauptgeschäft.

    Beide Bücher liefern einen virtuos aufgefädelten grotesken Reigen aus bewährten Sex&Crime-Gags, angereichert mit allerhand orthodoxem Budenzauber, einigen Brocken Chinesisch und ein paar lässig eingestreuten Hightech-Gadgets. Wer noch nie einen Sorokin gelesen hat, kann gut mit dem Zuckerkreml anfangen. Besser als die zuletzt veröffentlichte Eis-Trilogie ist das Buch allemal. Viel besser. Wer aber nach Antworten sucht auf die Frage, weshalb Vladimir Sorokin als großer Schriftsteller gilt, der muss zu älteren und ganz alten Büchern greifen. Am besten zur "Schlange" aus dem seligen Jahr 1985.


    Vladimir Sorokin: "Der Zuckerkreml"
    Kiepenheuer&Witsch 2010, 238 Seiten, 18.95 Euro
    aus dem Russischen von Andreas Tretner