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Visafreiheit für Türken
Schulz droht Erdogan mit Verhandlungsstopp

Im Streit mit der Türkei über die Visafreiheit für ihre Staatsbürger bleibt das Europaparlament hart: Der Vorsitzende Martin Schulz (SPD) sagte im Deutschlandfunk, es werde so lange nicht über das Vorhaben beraten, bis Ankara alle Bedingungen erfüllt habe. Erstaunt zeigte sich Schulz darüber, welche Kompetenzen Staatspräsident Erdogan in Anspruch nimmt.

Martin Schulz im Gespräch mit Thielko Grieß | 11.05.2016
    Der Präsident des Europa-Parlaments, Martin Schulz, am 18.02.2016 in Brüssel.
    Der Präsident des Europa-Parlaments, Martin Schulz. (picture alliance / dpa / Julien Warnand)
    Die ursprünglich geplante Verabschiedung der Visafreiheit für türkische Bürger bis Juli ist de facto vom Tisch. Das machte der SPD-Politiker und Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, im DLF deutlich. Er betonte, es sei "außerhalb jeder Diskussion", dass das Parlament mit den Beratungen beginne, wenn die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt seien. Er habe deshalb von einem weitreichenden Recht Gebrauch gemacht und die Vorlage der EU-Kommission gar nicht erst an den zuständigen Justizausschuss weitergeleitet.
    Die Türkei hat nach den Worten des Parlamentspräsidenten bisher fünf der 72 Bedingungen für die Visabefreiung nicht erfüllt. Dazu zählten neben der Reform der Anti-Terror-Gesetze auch Änderungen im Datenschutzrecht, unterstrich Schulz. Offenbar wolle die Regierung in Ankara zumindest an den Terrorismus-Gesetzen aber nichts ändern. Das hatte in den vergangenen Tagen auch Präsident Recep Tayyip Erdogan deutlich gemacht. Schulz forderte Erdogan zum Einlenken auf: Die Türkei müsse klarstellen, wann sie die Maßnahmen im Parlament beraten wolle. "Dann könnten wir uns überlegen, wie wir unsere Fahrpläne hier anpassen." Für eine Verabschiedung der Novelle im Oktober müsse Ankara unverzüglich mit den Beratungen beginnen.
    Kritisch äußerte sich Schulz auch zur Rolle Erdogans: Es sei zumindest "erstaunlich", dass in der Türkei ein repräsentatives Staatsoberhaupt entscheiden könne, ob und wann sich das Parlament mit dieser Angelegenheit befasse.

    Das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: Der türkische Präsident hatte seinen Landsleuten versprochen, für diesen Sommer, sie könnten dann visafrei in die Europäische Union einreisen. Das lästige Visum beantragen sei dann Vergangenheit. Das ist ein Teil des Paktes zwischen der Türkei und der EU. Aber umgesetzt ist dieser Teil noch lange nicht, denn es gibt einen inzwischen massiven Bremsklotz, den gestern das Europäische Parlament in den Weg gelegt hat. Solange die Türkei sich nicht daran mache, die eigenen Terrorgesetze präziser zu fassen, damit ihnen weniger Ruch von Willkür anhafte, werde sich das Europaparlament mit der Sache nicht weiter beschäftigen.
    Am Telefon begrüße ich jetzt den Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz von der SPD. Herr Schulz, guten Morgen.
    Martin Schulz: Guten Morgen, Herr Grieß.
    Grieß: Ist die Visafreiheit bis Juli vom Tisch?
    Schulz: Sie ist zumindest bis Juli nicht im Parlament verabschiedet. Sie haben ja gerade in der Anmoderation deutlich gemacht, dass es absolut außerhalb jeder Diskussion ist, dass wir eine Beratung beginnen, wenn die Voraussetzungen für die Beratung nicht gegeben sind. Ich habe in der vergangenen Woche bereits dem Kommissionspräsidenten mitgeteilt, dass ich von einem Recht Gebrauch mache, das ziemlich weit reichend ist. Ich habe das mir zugeleitete Entwurfspaket für die Visaliberalisierung nicht weitergeleitet an den zuständigen Ausschuss im Parlament, sondern es bei mir liegen lassen, denn Grundvoraussetzung der Vereinbarung auch des Parlaments mit der Kommission war, wir bekommen den Entwurf für die Visaliberalisierung, wenn die Türkei alle Voraussetzungen erfüllt hat, und das hat sie eindeutig nicht getan.
    "Offensichtlich will die Türkei den Anti-Terror-Paragraphen nicht ändern"
    Grieß: Bei allem Realismus, Herr Schulz, das kann nicht mehr klappen bis Juli?
    Schulz: Rein zeitlich ist alles möglich, aber es liegt ja nicht an uns. Sie müssen ja sehen, dass die türkische Regierung zunächst einmal eine Reform des Anti-Terror-Paragraphen und übrigens auch des Datenschutzrechts - das ist ein weiterer wichtiger Punkt - ins Parlament in Ankara einbringen muss. Das sollte eigentlich bis Ende April geschehen sein. Jetzt sind wir heute am 11. Mai; ich sehe nicht, wie die Türkei das noch schaffen kann. Offensichtlich will sie ja auch zumindest den Anti-Terror-Paragraphen nicht ändern.
    Grieß: 72 Bedingungen, von denen war die Rede. Die Türken haben bis auf fünf alles erfüllt. Wäre es nicht an der Zeit, dass das Europäische Parlament das wenigstens ein wenig honoriert?
    Schulz: Wenn Sie eine Vereinbarung treffen, und zwar eine, die so weit reichend ist, wie das geschehen ist, dann müssen beide Seiten die eingegangenen Verpflichtungen erfüllen. Dieses Abkommen und auch die parlamentarische Beratung der in diesem Abkommen enthaltenen Visaliberalisierung steht unter einer besonderen öffentlichen Beobachtung. Es wurde immer unterstellt und ich habe mich übrigens immer dagegen gewehrt, man habe mit der Türkei einen Deal zu Lasten der Seriösität in der Gesetzgebung gemacht. Und wir zeigen jetzt, dass das nicht der Fall ist. Wir haben eine Vereinbarung mit der Türkei geschlossen, bei der wir Verantwortung übernehmen müssen und die Vereinbarung umsetzen müssen, wenn die andere Seite ihrerseits die gleichen Kriterien, die sie als Verpflichtung eingegangen ist, erfüllt. Und da können Sie nicht hingehen und sagen, wir haben 72 Maßnahmen, jetzt haben wir 70 erfüllt oder 69, ach die paar sechs, die da noch übrig sind, das ist ja nicht so wichtig. Es geht nämlich nicht um die Quantität, sondern um die Qualität, und in der Qualität ist es so, dass zwei der wesentlichsten Voraussetzungen, Datenschutz und Anti-Terror-Paket, sichtlich nicht nur nicht erfüllt sind, sondern nicht mal angepackt sind.
    "Die Kommission tut das, was sie tun muss"
    Grieß: Das haben Sie gesagt. - Ist es so, dass das Europäische Parlament die europäischen Werte hochhält, während sich die Europäische Kommission dem türkischen Präsidenten an den Hals wirft?
    Schulz: Nein. Die Kommission tut das, was sie tun muss.
    Grieß: An den Hals werfen?
    Schulz: Nein, wozu sie verpflichtet ist. Die Kommission ist verpflichtet, einen bestimmten Zeitplan einzuhalten. Den hält sie ein. Sie haben eben selbst darauf hingewiesen, dass die Kommission der Türkei gesagt hat, ihr habt noch nicht alle Voraussetzungen erfüllt, aber da wir uns verpflichtet haben, bis Ende Juli Klarheit zu schaffen, oder bis Mitte Juli, senden wir das Paket jetzt ans Parlament. Das war genau das, was die Kommission tun musste. Meine Aufgabe ist es, dann zu prüfen, ob die rechtlichen Voraussetzungen für die Beratung im Parlament erfüllt sind. Das habe ich getan und mein Ergebnis ist, sie sind nicht erfüllt.
    Grieß: Das haben Sie erklärt, Herr Schulz. - Jetzt brauche ich Ihre Fantasiebegabung. Erklären Sie uns, wo der Kompromiss denn noch liegen soll, den der türkische Ministerpräsident inzwischen für Oktober erwartet?
    Schulz: Ich treffe heute Nachmittag den türkischen Europaminister, Herrn Bozkir, und ich werde dem diese Frage auch stellen. Denn ich hatte bereits in der vergangenen Woche der Türkei eine Brücke zu bauen versucht, und das hat übrigens auch Jean-Claude Juncker dem da noch amtierenden Ministerpräsidenten Davutoglu mitgeteilt: Wenn ihr in der Regierung die Entwürfe beschließt, wenn ihr mit dem Parlament ein Datum vereinbart in Ankara, wann dort beraten werden soll, und wir ungefähr wissen, wann wir eine vervollständigte Liste bekommen der Maßnahmen, dann könnten wir uns überlegen, wie wir unsere Fahrpläne hier anpassen. Dann kann man auch sagen, es wird Juli oder es wird September. Aber all das können wir zurzeit leider nicht machen. Und die Frage werde ich dem Herrn Bozkir stellen, denn wenn wir in den Oktober gehen sollten, müsste Ankara trotzdem jetzt auch die Beratungen durchführen.
    "Erstaunlich, dass ein repräsentatives Staatsoberhaupt entscheidet, wann das Parlament zu tagen hat"
    Grieß: Oder Sankt Nimmerlein?
    Schulz: Sie haben mich ja nach der Fantasie gefragt. Ich fantasiere bei der Gesetzgebung in der Regel nicht, sondern versuche, konkret zu bleiben. Deshalb werde ich die Frage, die Sie mir jetzt gerade stellen, zunächst mal der türkischen Regierung stellen, denn es ist ja Erdogan, der vom Oktober geredet hat.
    Grieß: Tatsache ist aber auch, dass die Verhandlungen mit der Türkei immer schwieriger werden, habe ich den Eindruck. Bei Präsident Erdogan weiß man nie ganz genau, mit welchem Bein er morgens aufsteht und was er dann danach sagt. L’etat c'est moi - was heißt das auf Türkisch?
    Schulz: Das weiß ich nicht. So gut bin ich der türkischen Sprache nicht mächtig. Aber es ist ja schon so, dass der Staatspräsident in der Türkei nach der Verfassung ein repräsentativer Staatspräsident ist, also einer, der das Land repräsentiert, aber nicht in der alltäglichen Politik agiert. Es ist ja zum ersten Mal so, dass das passiert.
    Grieß: Ist das ein Problem?
    Schulz: Sichtlich ist es ja ein Problem für die Regierung in Ankara, denn Herr Davutoglu, der mit uns verhandelt hat und der mit uns Vereinbarungen getroffen hatte, ist ja offensichtlich nicht auf der Linie, die der Staatspräsident für richtig hält. Und ich kann mich da nicht in die innertürkischen Angelegenheiten einmischen, aber es ist schon erstaunlich, dass ein repräsentatives Staatsoberhaupt am Ende entscheidet, wann das Parlament zu tagen hat und wann nicht.
    "Türkei hat ihrerseits die Voraussetzungen nicht erfüllt"
    Grieß: Nun hat Erdogan nach wie vor einen Hebel in der Hand, und das ist die Flüchtlingsbewegung. Er kann ja jederzeit die Tore wieder öffnen. Lässt sich Europa, um es mit Jan Böhmermann zu sagen, denn doch noch dem Despoten zum Tee reichen?
    Schulz: Wir haben eine Vereinbarung mit der Türkei geschlossen und ich gehe davon aus, dass die Türkei sich an diese Vereinbarung hält. Es ist ja nicht so, als würde sich die EU nicht an ihre Vereinbarungen halten. Man darf da den Spieß nicht umdrehen lassen. Zunächst mal ist es so, dass wir gesagt haben, wenn diese Voraussetzungen, die 72 von der Türkei selbst angebotenen Maßnahmen erfüllt sind, dann wird auch die Visaliberalisierung schnell bei uns beraten werden, und da gab es ja auch viel Bereitschaft zu sagen, wir prüfen eine schnelle Beratung. Jetzt hat aber die Türkei ihrerseits die Voraussetzungen nicht erfüllt. Dann anschließend hinzugehen und zu sagen, wir erfüllen die Voraussetzungen nicht, aber weil ihr trotzdem eure Zusagen nicht einhaltet, machen wir jetzt die ganze Vereinbarung null und nichtig, so kann man ja in der internationalen Politik nicht verfahren. Und ich glaube auch nicht, dass die Türkei so verfahren wird.
    Türkei wird Annäherung an EU nicht aufs Spiel setzen
    Grieß: Und was, wenn doch? Dann hat die Europäische Union wieder ein Problem: Griechenland erst, dann der Balkan, Italien, dann auch Deutschland.
    Schulz: Nein. Ich glaube nicht, dass die Europäische Union dann alleine ein Problem hat. Dann wird sicher auch die Türkei ein Problem bekommen, denn da sind ja viele andere Dinge auch vereinbart worden. Zum Beispiel die Betreuung von Flüchtlingen wird mit Milliarden unterstützt. Und ich glaube auch, dass die Türkei nicht so hingehen kann und willkürlich sagen kann, wir machen mal einen Tag dies und mal einen Tag was anderes. In der internationalen Politik hängt alles mit allem zusammen und ich glaube, dass die Türkei sich sehr genau überlegen wird, dass die Annäherung an die Europäische Union, die mit diesem Verfahren verbunden war, nicht so fahrlässig aufs Spiel gesetzt werden kann.
    Grieß: Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments. - Herr Schulz, da Sie gerade dran sind: Wollen Sie eigentlich Kanzlerkandidat werden?
    Schulz: Sie sehen ja, dass ich mich sehr intensiv um die Europapolitik kümmern muss, und das ist eine Menge Arbeit, führt zum Beispiel zu ganz frühen Interviews im Deutschlandfunk.
    Grieß: Im Kanzleramt wird ja kaum was anderes gemacht als Europapolitik.
    Schulz: Sie haben aber nicht Frau Merkel morgens früh im Deutschlandfunk. - Ich bin ausgelastet mit dem, was ich tue.
    Grieß: Martin Schulz von der SPD. Danke für das Gespräch!
    Schulz: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.