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Visegrad-Staaten
"Eine Art Emanzipation von Deutschland"

Die mitteleuropäischen Visegrad-Staaten positionieren sich in der Flüchtlingspolitik offen gegen Berlin. Deutschland sei lange Zeit der "natürliche Partner" dieser Länder gewesen, sagte Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik im DLF. Nun zeigten sie, "wir haben auch eigene Interessen und werden sie auch konsequent durchsetzen".

Kai-Olaf Lang im Gespräch mit Doris Simon | 16.02.2016
    Ungarns Premierminister Viktor Orban mit seiner polnischen Kollegin Beata Szydlo sowie den tschechischen und slowakischen Kollegen Bohuslav Sobotka und Robert Fico (von l. nach r.).
    Ungarns Premierminister Viktor Orban mit seiner polnischen Kollegin Beata Szydlo sowie den tschechischen und slowakischen Kollegen Bohuslav Sobotka und Robert Fico (von l. nach r.). (Michal Cizek / AFP)
    Doris Simon: Am Telefon ist jetzt Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Abend.
    Kai-Olaf Lang: Guten Abend.
    Simon: Herr Lang, Sie beobachten die Haltung der Visegrád-Staaten in der Flüchtlingsfrage. Nun haben die über eine Million Flüchtlinge im letzten Jahr Tschechien, Polen und die Slowakei ja kaum gestreift und nach Ungarn kommen jetzt auch keine mehr, seit das Land im Sommer einen Zaun gebaut hat. Geht es eigentlich mehr um die vorbeugende Abwehr zum Beispiel von EU-Quoten zur Flüchtlingsaufnahme?
    Lang: Oberste Priorität der vier Länder in der Europäischen Union ist es, keinen massiven Zustrom von Flüchtlingen in die eigenen Länder zu bekommen. Deswegen möchte man auch keine Vergemeinschaftung der Aufnahmepolitik. Man möchte nicht automatische verbindliche Verteilmechanismen. Nun ist man der Auffassung, ja, bislang kommen nicht viele zu uns. Ungarn - das dürfen wir nicht vergessen - war zunächst einmal sehr stark betroffen und hat dann durch einen Zaun abgeriegelt. Aber man denkt, wenn der Zustrom in die EU, vor allem auch nach Deutschland anhält, dann werden Länder wie die Bundesrepublik Druck machen, damit es zu einer europaweiten Kontingentregelung kommt. Genau das möchte man nicht und deswegen sagt man, wir müssen die Außengrenzen der EU viel konsequenter schützen, um auf die Art und Weise den Zustrom zu reduzieren.
    "Eine Art Kampf um Identität"
    !Simon:!! Die Sorge, die Sie gerade schildern, die haben ja auch andere Länder in der EU, die zum Beispiel in Westeuropa liegen. Haben denn die vier Visegrád-Staaten Sorgen in der Flüchtlingspolitik, die sich grundsätzlich unterscheiden von den Sorgen, die sich westeuropäische Länder machen, die der bisherigen Flüchtlingspolitik der Bundesregierung kritisch gegenüberstehen?
    Lang: Viele der Argumente, die wir aus den vier Ländern hören, kennen wir ja auch aus anderen Teilen Europas. Wir wissen, Deutschland ist da eher die Ausnahme mit seiner großzügigen, humanitär orientierten Flüchtlingspolitik. Aus Frankreich kommen kritische Stimmen, auch aus einigen Ländern Nordeuropas beispielsweise. Aber es ist schon noch mal ein Zacken schärfer und ich glaube, das resultiert vor allem aus zwei Sachverhalten. Zum einen dürfen wir nicht vergessen: Diese Länder waren lange Zeit, ich sage mal, geschlossene Gesellschaften. Es gab in den vier Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg keine Öffnung, keine sozial-kulturelle Pluralisierung durch starke Zuwanderung. Und auch nach 1989, da gab es zwar viel Abwanderung, aber eben keine Zuwanderung in diese Länder. Daher ist es in gewisser Weise eine Art Kampf um Identität, was diese Länder hier veranstalten. Der zweite Aspekt: Die Risikowahrnehmung ist eine andere. Die Furcht vor Bedrohungen, die Versicherheitlichung ist in diesen Ländern ja viel größer als anderswo, ganz genereller Art und Weise. Aber deswegen guckt man auch durch eine sicherheitspolitische Brille auf die Flüchtlingspolitik und sagt, na ja, wir importieren eine ganze Reihe von Unwägbarkeiten und Risiken, wenn wir etwa Menschen aus Syrien in großer Zahl aufnehmen.
    Simon: Herr Lang, was auch auffällt ist ja eine recht markige Sprache. Zum Beispiel hat der ungarische Ministerpräsident Orbán heute von einer "zweiten Verteidigungslinie" gesprochen. Er meinte einen weiteren Grenzzaun. Auch andere Politiker wie zum Beispiel der slowakische Ministerpräsident Fico pflegen ja diese Sprache. Verfolgt die ein besonderes Ziel?
    Lang: Ja. Fico aus der Slowakei sprach ja auch vor einigen Wochen davon, dass die EU, wenn sie so weitermache in der Flüchtlingspolitik, rituellen Selbstmord begehe. Das alles hat natürlich auch eine klare innenpolitische Dimension mit unterschiedlichen Ausprägungen. In der Slowakei gibt es in wenigen Tagen Parlamentswahlen und die Partei von Herrn Fico ist gerade dabei, die absolute Mehrheit zu verlieren. Das ist ein gutes Thema. In Ungarn sieht sich Viktor Orbán, der starke Mann, wieder in der Offensive. Die Errichtung eines Zauns und eine restriktive Flüchtlingspolitik hat ihn innenpolitisch gestärkt. Und in Polen die neue Regierung von Frau Szydlo, die will ihre assertive Außenpolitik - so wurde das genannt - gegenüber Deutschland und in der Europäischen Union nun unter Beweis stellen, und mit Ausnahme der Tschechischen Republik, die jetzt versucht, ein bisschen als Vermittler zu wirken, haben wir hier ganz klare innenpolitische Interessen, die das alles noch mal stärker machen.
    "Differenzen zu Deutschland sind nicht komplett neu"
    Simon: Der Gipfel der Visegrád-Staaten war ja ein Jubiläum. Den Zusammenschluss von Tschechien, Ungarn, Slowakei und Polen gibt es seit 25 Jahren. Traditionell waren ja die Beziehungen der vier zu Deutschland eher gut. Deutschland war ein großer Unterstützer vor und während der Osterweiterung. Jetzt gehen diese vier Länder in die offene Konfrontation mit Berlin. Ist das Ihrer Meinung nach ein Zeichen gewachsenen Selbstbewusstseins, oder ist es auch ein Zeichen der Schwäche Deutschlands?
    Lang: Differenzen zu Deutschland sind nicht komplett neu. Erinnern wir uns an den Irak-Krieg, wo diese Länder zum sogenannten New Europe gehörten, sehr stark transatlantisch, proamerikanisch ausgerichtet waren. Erinnern wir uns an die Einführung der sogenannten doppelten Mehrheit, die Änderung des Abstimmungssystems in der Europäischen Union, wo sich Polen lange Zeit quergelegt hatte. Erinnern wir uns auch an Differenzen etwa in der Klimapolitik. Aber das hat jetzt tatsächlich eine neue Qualität und ist so eine Art auch Emanzipation von Deutschland. Diese Länder waren lange Zeit in einer Art, ich sage mal, Klientelismus-System. Deutschland war der Advokat etwa der Osterweiterung. Deutschland war der natürliche Partner, ist es nach wie vor in vielerlei Hinsicht. Aber diese Länder zeigen, wir haben auch eigene Interessen und wir werden sie auch konsequent durchsetzen, möglicherweise auch gegen Deutschland, und in Deutschland wird das jetzt als Undankbarkeit und Illoyalität wahrgenommen.
    Simon: Viele in Westeuropa schütteln ja auch den Kopf, egal wo sie stehen, dass ausgerechnet Länder, die selber früher unter Stacheldraht gehalten wurden, aus denen Menschen wegen Verfolgung geflohen sind, heute ihrerseits Zäune hochziehen und Menschen draußen halten wollen. Versteht man das in Ungarn, Tschechien, Polen und der Slowakei?
    Lang: Nein! Ich denke, man sagt dort relativ klar, wir haben nationale Interessen, wir möchten uns nicht von der Europäischen Union oder noch konkreter von Deutschland aufzwingen lassen, wie unsere Migrationspolitik, wie unser ethnischer Mix aussehen soll, wir pochen hier auf Souveränität. Und wir sind ja bereit, auch Solidarität zu geben. Der slowakische Premierminister hat in einem Interview vor einigen Tagen gesagt, na ja, wir sehen schon, dass das ein gesamteuropäisches Problem ist, wir möchten auch dazu beitragen, indem wir uns einbringen beim Grenzschutz. Die Visegrád-Länder haben bei der Londoner Geberkonferenz für Syrien mitgewirkt. Das sind keine großen Beträge, aber immerhin. Als Frau Szydlo, die polnische Ministerpräsidentin, am Freitag im Berlin war, sagte sie, man ist bereit, gemeinsam mit Deutschland in Syrien auch ein humanitäres Projekt zu unterstützen. Man sagt nur - und das war Ficos Rede -, wir haben halt nur einen kleinen Unterschied: Für uns ist die Flüchtlingspolitik nicht nur oder nicht vorherrschend Flüchtlingsaufnahme-Politik, sondern das ist ein viel breiteres Problem, und der Schwerpunkt ist Schutz und Sicherung der Grenzen.
    Simon: Und der historische Vergleich, den hält man dort nicht für angebracht?
    Lang: Nein, den weist man natürlich weit von sich, weil man sagt, das ist eine ganz andere Situation. Und außerdem wolle man weiterhin autonom über die gesellschaftspolitische Zusammensetzung entscheiden.
    Simon: Kai-Olaf Lang war das von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Lang, vielen Dank.
    Lang: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.