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Vishnus Verwirrung, Teil 1

Was ist Zeit? "Wenn mich niemand danach fragt, dann weiß ich es. Wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären soll, dann weiß ich es nicht", sagte einst Augustinus – und viel weiter sind die Wissenschaftler heute auch nicht. Aber sie bauen extrem genaue Uhren, mit denen sie das Universum vermessen.

Von Jan Lublinski | 31.12.2008
    Die Zeit schreitet voran, unaufhaltsam. Sie führt uns in die Zukunft, und wir lassen die Vergangenheit zurück. Eine Vase fällt vom Tisch und zerbricht in viele kleine Scherben, die nie wieder zusammenfinden. Ein Eiswürfel im Wasserglas schmilzt, das Wasser wird kälter. Das Universum dehnt sich aus und kühlt sich dabei immer weiter ab. Strukturen, die sich einst gebildet haben, verlieren sich. Die Zeit schreitet voran.
    In allen Kulturen gibt es Erzählungen über den Ursprung, den Anfang und die Größe der Welt. In der griechischen Mythologie wird der Kosmos aus einem silbernen Ei geboren. In der indischen Überlieferung suchen die Götter Brama und Vishnu nach dem Ende der Welt.

    "Wir stritten beide heftig
    über dem formlosen Meer,
    als vor unseren Augen
    ein glorreicher, funkelnder Lingam erschien,
    eine flammende Säule mit dem Glanz
    von hundert Feuern,
    fähig, das Universum zu verzehren,
    ohne Anfang, ohne Mitte, ohne Ende,
    unvergleichlich, unbeschreibbar."


    Im vergangenen Jahrhundert hat auch die Wissenschaft der Astronomie eine solche Geschichte des Kosmos hervorgebracht. Sie beruht auf Himmelsbeobachtungen, auf mathematischen Formeln sowie auf Computersimulationen, die den Lauf des Universums in vereinfachter Form nachbilden. Die Geschichte des Kosmos, von der uns die Astronomen heute berichten, ist in den vergangenen Jahren immer einheitlicher und klarer geworden.

    "Man versucht, das so zu machen, dass die Ursache für den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft gerade in der Ausdehnung des Weltalls liegt. Das ist also der primäre Zeitpfeil, der durch die Kosmologie gegeben ist."

    Vor 13,7 Milliarden Jahren: Der Urknall. Eine extreme Explosion. Die Zeit beginnt hier. Alle Energie, zuvor in einem Punkt versammelt, bricht heraus, verwandelt sich, breitet sich aus. 380 000 Jahre nach dem Anfang wird das All durchsichtig: Ein Restleuchten des Urknalls erfüllt den Raum. Gaswolken bilden und verdichten sich, die ersten Sterne zünden. Der Raum dehnt sich immer weiter aus. Obwohl die Astronomen in etwa verstanden haben, wie das Universum sich entwickelt hat, ist ihnen die Zeit noch immer ein Rätsel. Jürgen Ehlers, Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam.

    "Die Dunkelheit der Zeit beginnt dann, wenn man die Physik im Großen mit der Physik im Kleinen verknüpfen möchte. Da ist dann noch nicht so klar, inwieweit der jetzige Zeitbegriff im Kleinen ausreicht."

    Das Zeitlabor an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, in Braunschweig. Die genauesten Uhren der Republik stehen hier. Atomuhren, groß wie Wohnzimmerschränke, überall verteilt in einem turnhallengroßen Raum, der an den Wänden mit Kupfer ausgekleidet ist. Robert Wynands.

    "Klimatisiert. Temperatur und Feuchte sind geregelt. Und wir haben hier einen Faraday-Käfig, das heißt: Störstrahlung von Außen kann hier nicht rein. Also Handys gehen hier auch nicht."

    Die bekannteste Braunschweiger Uhr trägt den Namen "CS2". Sie sieht ein wenig aus wie ein kleines U-Boot, das mit einem Prüfstand verkabelt ist. Erst nach drei Millionen Jahren Laufzeit würde diese Präzisionsuhr maximal eine Sekunde von der korrekten Zeit abweichen. Eine Sekunde – dieses Maß ist heute über Schwingungen in Cäsium-Atomen definiert, die mit Mikrowellen gemessen werden. Die alte astronomische Definition über die Länge eines Tages und die zugehörigen Messungen der Erdrotation, sind längst nicht mehr genau genug. Wynands:

    "Und die Erfahrung hat gezeigt: je genauer man hinguckt, desto interessanter werden die Dinge – oder, dass plötzlich neue Phänomene auftreten, an die man vorher nicht gedacht hat, die man vorher nicht gesehen hat oder die wirklich neu und spektakulär sind. Dann gibt es noch andere Dinge – das eher technische Interesse – wie weit kann ich denn so was treiben? Im Sinne Homo Faber, was kann ich bauen, was eine stabile Oszillation macht, stabiler als alles, was es in der Natur gibt. Wie weit kann ich da gehen?"

    "Der göttliche Vishnu,
    verwirrt wie ich
    durch diese Tausende von Flammen,
    sagt dann zu mir:
    ,Wir müssen die Quelle dieses Feuers suchen.
    Ich werde hinabsteigen,
    und du wirst hinaufsteigen mit all deiner Kraft."


    Die Funktionsweise von Präzisionsuhren und der Zeitvergleich zwischen ihnen war auch eine Fragestellung, mit der sich der junge Albert Einstein Anfang des 20. Jahrhunderts intensiv beschäftigte, als Angestellter des Berner Patentamtes. Der Verkehr nahm zu, die Züge wurden immer schneller, und es bestand das Problem, dass die Bahnhofsuhren in verschiedenen Städten synchronisiert werden mussten. Zudem beschäftigte sich Einstein mit den damals neuen Theorien der Physiker, die elektrische und magnetische Phänomene beschrieben. Dabei stieß er auf Widersprüche zwischen diesen Arbeiten und der klassischen Zeitvorstellung des britischen Physikers Isaak Newton.

    Isaak Newtons Mechanik. 17. Jahrhundert. Formeln, mit denen sich die Bewegungen der Körper beschreiben lassen: Äpfel, die von Bäumen fallen. Planeten, die sich um die Sonne drehen. Kometen, die an der Erde vorbei sausen. Grundlage hierfür: Die absolute Zeit. Sie fließt immer gleichmäßig, unabhängig von den Gegenständen und unabhängig vom Ort, an dem man sich befindet. Die Zeit für Newton: ein Hinweis auf die Allgegenwart Gottes. Ehlers:

    "Allein schon der Umstand, dass wir immer von der Zeit sprechen, deutet darauf hin, dass wir die Zeit als eine ganz bestimmte und universell und überall vorhandene Größe betrachten. Das liegt wohl dadurch nahe, dass wir in unserem Umgang im normalen Leben, alles was wir sehen, automatisch sozusagen, ohne drüber nachzudenken, als gleichzeitig setzen mit dem Augenblick der optischen Wahrnehmung."

    Albert Einsteins Spezielle Relativitätstheorie, 1905. Raum und Zeit sind nun eng miteinander verknüpft, in der "Raumzeit". Die Zeit ist nicht mehr absolut, sie hängt davon ab, wie die Körper durch den Raum wandern und wo die Uhren sie messen. Eine Uhr, die ein Reisender in einem Zug mitnimmt, geht ein klein wenig langsamer als eine Uhr, die sich in Ruhe befindet. Ehlers:

    "Einstein hat viel philosophische Literatur gelesen. Schon als junger Mann. Hat sich durch den ganzen Kant durchgearbeitet. Hat Poincaré gelesen und andere. Auf diese Weise war er wohl auch mehr vorbereitet darauf, dass man Begriffe nicht so übernehmen muss, wie sie vorliegen, in der jeweiligen Generation. Sondern dass man selbst so anscheinend sichere Begriffe wie den Begriff der Zeit oder der Gleichzeitigkeit, dass man den doch anzweifeln und durch etwas Neues ersetzen kann."

    Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, 1915. Zeit, Raum und Materie beeinflussen einander in einem dynamischen Wechselspiel. Die Objekte im All krümmen die Raum-Geometrie, sie verhalten sich wie schwere Medizinbälle auf einem Trampolin: Sie beulen die Fläche aus und beeinflussen so die Bewegungen anderer Objekte.

    "Man kann sich ja schon schwierige Fragen stellen, die aber in der Zeit unlösbar sind, oder zu leichte, dann ist es auch nicht so interessant. Aber genau die zu finden, die gerade noch gehen mit äußerster Anstrengung, das ist wahrscheinlich das Genie."

    Norbert Straumann, Universität Zürich. Bald nachdem Einstein die Gleichungen zur Allgemeinen Relativitätstheorie fand, widmete er sich einem Problem, das ihn schon Jahre zuvor umgetrieben hatte: der sogenannten Periheldrehung des Merkur. Die Astronomen hatten bei der Bahnbewegung dieses Planeten eine bis dahin unerklärliche Abweichung von Newtons Gravitationstheorie gemessen, die 43 Bogensekunden betrug. Genau diesen Wert konnte Einstein nun mit Hilfe seiner neuen Relativitätstheorie ermitteln. Straumann:

    "Ich glaube, das war das größte Erlebnis seines wissenschaftlichen Lebens. Er sagte auch Kollegen, er hätte Herzflattern bekommen. Ehrenfest schreibt, er sei zwei Tage sprachlos gewesen. Das kann man sich ja vorstellen. Er rechnet da ziemlich lange und dann kommen da 43 Bogensekunden raus."

    Es war Einstein also gelungen, eine Theorie zu finden, die den Lauf der Himmelskörper genauer beschrieb als die seines berühmten Vorgängers Newton – auf der Grundlage seiner neuen Auffassung von Raum und Zeit.

    Ursprünglich hatte Einstein mit seiner Allgemeinen Relativitätstheorie nur lokale, räumlich begrenzte Phänomene im Weltall fassen wollen. Doch nach diesen Erfolgen begann er darüber nachzudenken, ob sich auch das gesamte Weltall mit seinen Formeln beschreiben ließe. Er selbst war davon überzeugt, dass der Kosmos statisch sein müsse. Er glaubte an ein festes, unveränderliches Weltall. Doch die Astronomen Willem de Sitter, Alexander Friedman und George Lemaître kamen mit Einsteins Formeln zu einem ganz anderen Bild.

    Die Relativitätstheorie als Modell des Weltalls. Formeln, die eine Vielzahl von Lösungen zulassen: mögliche Universen. Der Kosmos kann sich im Laufe der Zeit ausdehnen wie ein Luftballon. Er kann Beulen und Dellen bilden, er kann pulsieren, sich schnell wieder zusammenziehen oder explodieren.

    In den 1920er Jahren erkannte der Amerikaner Edwin Hubble, dass sich die meisten Galaxien mit großer Geschwindigkeit von uns wegbewegen. Das Universum expandiert immer weiter in alle Richtungen. Das aber heißt: das Universum muss irgendwann einen Anfang gehabt haben. Der belgische Astronom und Theologe George Lemaître publizierte im Jahr 1931 eine kurze Notiz, in der er erstmals die Urknalltheorie beschrieb.

    Vor 13,7 Milliarden Jahren: Der Urknall. Eine extreme Explosion. Die Zeit beginnt hier. Alle Energie, zuvor in einem Punkt versammelt, bricht heraus, verwandelt sich, breitet sich aus.

    Die Geometrie des expandierenden Universums erlaubt es den Astronomen, eine neue, sogenannte kosmische Zeit einzuführen. Eine Uhrzeit des Universums, zumindest für großräumige Strukturen. Dazu hängen die Astronomen die Koordinaten quasi an den Galaxien auf, oder genauer: an ihrer durchschnittlichen Bewegung. Die kosmische Zeit wird dann von einer Uhr gemessen, die mit der durchschnittlichen Bewegung der Galaxien mitwandert. Ehlers:

    "Da muss man unterscheiden. Zwischen einer Zeit, als Rolle einer Koordinate, die eine Art Ordnungsparameter für die Ereignisse spielt, und der Zeit, die von einer Uhr gemessene Zeit. Die von einer Uhr gemessene Zeit, die soll ja einen ganz bestimmten Ablauf haben, und die stimmt mit der Koordinatenzeit, mit der man die Welt kalenderartig einteilt, die stimmt damit nicht immer überein. Aber in den kosmologischen Modellen, ist es dann doch so, dass man eine Zeit einführen kann, die zugleich beide Rollen spielt: Sie ist erstens bequem, um einen Katalog aller Ereignisse aufzustellen und zugleich übereinstimmt mit der Zeit, die von Uhren gemessen wird."

    Doch dieser Kosmos, mit dem die Astronomen arbeiten, ist, rein mathematisch gesehen, nur eine Möglichkeit unter vielen. Nach den Formeln der Allgemeinen Relativitätstheorie könnte es auch andere, sehr seltsame Welten geben. Und viele davon sind noch nicht durch astronomische Beobachtungen widerlegt.

    Das Murmeltier-Universum. Die Zeit kehrt irgendwann in sich zurück, und alles beginnt von vorn. Wie im Film. Vielleicht schon am nächsten Morgen. Das Datum ist einen Tag zurückgestellt, der Radiowecker springt an, und der alte Tag beginnt noch einmal. Und noch einmal, und immer wieder. Ehlers:

    "Wobei natürlich dann auch wieder dazu gesagt werden muss, von einem mehr handfesten astronomischen Standpunkt aus: Die Zeit für solch eine Rundreise, für eine solche geschlossene zeitartige Kurve, die ist so groß, dass sie mit der Lebenszeit oder der Dauer astronomischer Objekte nicht zusammenpasst. Insofern ist das prinzipiell aber nicht praktisch."

    Die Idee, dass nach der Relativitätstheorie Zeitreisen im Universum möglich sein könnten, stammt von dem österreichischen Mathematiker Kurt Gödel. Er entwickelte sie in den 40er Jahren, in einer Zeit, als er im amerikanischen Exil in Princeton lebte und dort regelmäßig mit Albert Einstein spazieren ging. Ehlers:

    "Und Gödel hat da als der schlaue Mathematiker, der er war, sich schnell die Allgemeine Relativitätstheorie angeeignet, und Modelle aufgestellt, bei denen man Weltlinien, Kurven konstruieren kann, die zwar lokal immer weiter in die Zukunft laufen, die aber trotzdem zum Ausgangspunkt zurücklaufen. So genannte geschlossene zeitartige Linien. – Das hat Gödel dann veranlasst zu sagen, also die Zeit gibt es eigentlich nicht wirklich. Das ist nur so ein Parameter, mit dem wir unsere Bewusstseinsinhalte ordnen – und er hat dann einen Aufsatz geschrieben in einem Buch, was Einstein gewidmet war. Wo er sagt, die Zeit ist ein Bestandteil der idealistischen Philosophie, aber man kann ebenso sagen: die Zeit gibt es nicht. Und Einstein hat auf diesen Aufsatz von Gödel kurz geantwortet und gesagt: Das sei ein sehr wichtiger Beitrag, der also auf eine neue Möglichkeit innerhalb seiner Theorie hinweisen würde, aber er, Einstein, habe eher die Tendenz, man müsse nach Gründen suchen, warum man solche Lösungen als unphysikalisch ausschließen muss."

    In der Tat ist das reale physikalische Universum, das die Astronomen am Himmel sehen, doch vergleichsweise einfach in seiner Struktur und eine entsprechend einfache Lösung der Relativitätstheorie genügt zu seiner Beschreibung. Eine ganz wesentliche Eigenschaft der Zeit ist in Einsteins Formeln allerdings nicht enthalten: Die Richtung der Zeit, das heißt: die Aufeinander-Abfolge der Dinge, der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Eine Selbstverständlichkeit in unserem Alltag, für die es in Einsteins Formeln aber keine Erklärung gibt. Physiker sprechen hier vom Zeitpfeil, genauer: sie unterscheiden verschiedene Zeitpfeile.

    Erstens: Der "kosmologische Zeitpfeil" – das Universum dehnt sich aus.

    Zweitens: Der "thermodynamische Zeitpfeil" – Ausbreitungsrichtung der Wärme. Tee in einer Tasse kühlt sich ab, auf Raumtemperatur. Das Gesetz der Entropie: Strukturen verlieren sich, die Unordnung nimmt zu.

    Drittens: Der "psychologische Zeitpfeil": Unser Bewusstsein konstruiert den Ablauf. Wir wissen, was gestern passierte, leben im Jetzt, und ahnen was morgen möglich sein wird. Ehlers:

    "Man versucht, das so zu machen, dass die Ursache für den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft gerade in der Ausdehnung des Weltalls liegt. Das ist also der primäre Zeitpfeil, der durch die Kosmologie gegeben ist. Und aus dem versucht man dann abzuleiten - was mehr oder weniger gut auch geht - dass dann der Zeitpfeil in der Thermodynamik daraus folgt."

    Was aber geschieht in dem Fall, dass sich das Universum eines Tages doch wieder zusammenzieht? Der kosmologische Zeitpfeil würde sich umdrehen – aber würde der thermodynamische ihm folgen? Würden wir überhaupt mitbekommen, dass das Universum schrumpft? Die kleine Gemeinde der Zeitpfeilforscher ist in dieser Frage gespalten. Der Brite Stephen Hawking ist etwa überzeugt, dass für uns die Zeit auch dann vorwärts liefe, wenn das Universum in sich zusammenfiele. Ein Vertreter des anderen Lagers ist Lawrence Schulman von der Clarkson Universität, ganz im Norden des US-Bundesstaates New York.

    "The difference between these two curves will only be subsequent to this. That is causality. It says even though the microscopic state is…. now I kick it at 17 and it only responds at 16. So that is ‚causality is an effect‘, It is an effect of the boundary condition.”"

    Schulman verbringt einen großen Teil seiner Arbeitszeit in seinem Blockhaus am Rande der Stadt. Dort liest er Bücher, schreibt Manuskripte und kritzelt Formeln und Skizzen auf eine weiße Tafel. Er ist überzeugt davon, dass wir es nicht bemerken würden, wenn das Universum in sich zusammenfiele. Der thermodynamische und der psychologische Zeitpfeil und somit unsere alltägliche Zeiterfahrung würden sich umkehren, genau wie der kosmologische Zeitpfeil. Auf seinem Computer hat Lawrence Schulman die Entwicklung der Zeitpfeile am Ende der Welt simuliert, mit einem vereinfachten Modell des Universums, das lediglich mit einer Art idealisiertem Gas gefüllt ist. Ergebnis der Simulation: Wenn das Universum irgendwann aufhört zu expandieren und wieder in sich zusammenfällt, zeigen der thermodynamische Zeitpfeil und der kosmologische in entgegengesetzte Richtungen. Mit seiner Simulation hat Schulman auch zeigen können, dass die Kausalität, also das Prinzip von Ursache und Wirkung, keine grundsätzliche Eigenschaft des Universums ist. Sie ist vielmehr eine Folge des expandierenden Universums. Der provozierende Titel einer seiner wichtigsten Fachpublikationen lautet: "Kausalität ist ein Effekt". Schulman:

    ""Wer glaubt, dass Ursache und Wirkung eine grundsätzliche Eigenschaft der Zeit sind, liegt falsch. Die Richtung der Zeit, die wir sehen, ist nichts Besonderes. Wenn das Universum in einen ‚Big Crunch‘, also in ein großes Zermahlen am Ende hinein läuft, dreht sich der Zeitpfeil um. Er ist also eine Konsequenz der Geometrie des Alls."

    Schulmann hält es sogar für möglich, dass es bereits heute einzelne Bereiche im Universum gibt, bei denen der thermodynamische Zeitpfeil in die andere Richtung zeigt. Nach diesem spekulativen Szenario gäbe es also Sternen-Inseln im All, bei denen die Zeit rückwärts liefe. Schulman:

    "Wenn wir tatsächlich in einem symmetrischen Universum leben und Urknall und Endknall nicht allzu weit voneinander entfernt sind, dann könnte man möglicherweise einzelne, isolierte Regionen sehen, die eigentlich zum anderen Ende des Universums gehören. Man könnte sogar beobachten, dass diese Regionen in ihrer eigenen Zeitrichtung leben. Wenn es gelänge, so etwas nachzuweisen, wäre das natürlich ein starker Beweis für eine Zeitsymmetrie des Universums."

    Fest steht auf jeden Fall: Die Frage nach den verschiedenen Zeitpfeilen und ihren Wechselbeziehungen ist einer Herausforderung für zukünftige und vergangene Physikergenerationen.

    "Tausend Jahre stieg Vishnu hinab,
    gelangte aber nicht an die Basis des Lingam.
    Indessen hatte ich mich
    in einen schneeweißen Schwan
    mit glühenden Augen
    und großen Flügeln verwandelt,
    und mein Flug war so schnell wie der Wind
    und der Gedanke."


    Die Kosmologen haben heute zwar eine recht klare Vorstellung davon, wie das Universum nach dem Urknall explodiert ist und wie es sich seither weiterentwickelt hat. Der Moment des Urknalls selbst aber ist ihnen ein Rätsel. Und sie haben keine klare Antwort auf die Frage, was vor dem Urknall war.

    Die Galaxien im All kommen zusammen. Verdichten sich immer weiter, angezogen von der Gravitationskraft. Fallen ineinander. Das Universum schnürt zu einem Tropfen zusammen. Irgendwann aber beginnen mächtige Kräfte zwischen Elementarteilchen zu wirken. Sie gewinnen plötzlich die Oberhand und lassen den kleinen Kosmos explodieren. Eine neue Welt entfaltet sich.

    Ein Querdenker in Sachen Anfang und Ende ist Abhay Ashtekar von der Pennsylvania State University. Er glaubt nicht an den Urknall.

    "Wir zählen die kosmische Zeit vom Urknall aus, obwohl dieser im physikalischen Sinne wahrscheinlich nie stattgefunden hat. Viele Kosmologen sind der Ansicht, dass diese Singularität, dieser unendlich kleine, unendlich energiereiche Punkt nicht existiert. Es ist vielmehr so, dass an diesem Punkt die Relativitätstheorie in dramatischer Weise versagt."

    Ashtekar arbeitet mit der sogenannten Quantengeometrie – das heißt, er macht den mathematischen Versuch, die Relativitätstheorie mit der Quantentheorie zu vereinigen. Er bemüht sich also darum, die Theorie der großen Strukturen im Weltall zusammenzubringen mit der Theorie der kleinsten Teilchen. Aus seinen Rechnungen ergibt sich, dass unser Universum aus einem früheren hervorgegangen ist. Ashtekar:

    "Dieses Ergebnis haben wir nicht etwa a priori in unsere Formeln hineingesteckt, und wir haben es auch nicht erwartet. Es war eine echte Überraschung. Erst nachdem wir alle Rechnungen acht Monate lang kontrolliert hatten, war ich überzeugt, dass es sich nicht um einen mathematischen Fehler, sondern tatsächlich um eine physikalische Beschreibung der Natur handelt."

    Statt einem "Big Bang" propagiert Ashtekar einen "Big Bounce" - einen Durchschwinger. Diese Vorstellung ist nicht neu, aber Ashtekar hat diesen "Bounce" auch für die kleinsten Teilchen berechnet. Er spricht darum vom "Quantum Bounce".

    "Ich gehe davon aus, dass unsere theoretischen Modelle in Zukunft immer realistischer und auch qualitativ plausibler werden. Das Bild vom ‚Quantum Bounce‘, wird immer detaillierter und ausgefeilter werden, weil wir immer konkretere Modelle entwickeln werden."

    Es könnte sein, dass es Ashtekar damit gelungen ist, einen Weg aufzuzeigen, wie sich Einsteins Theorie erweitern lässt – so wie es einst Einstein gelang, Newtons Gravitationsgesetz zu verallgemeinern. Die vage Möglichkeit besteht. Die Konsequenzen wären fundamental: In Ashtekars Formeln taucht der Buchstabe "t" nicht mehr auf. Die Zeit ist verschwunden. Ehlers:

    "Es tauchen da dann in der Tat Gleichungen auf, die klassisch zwar ausreichen, um die Gesetze der Allgemeinen Relativitätstheorie zu beschreiben. Und die dann aber keine Zeit mehr enthalten. Und da muss man dann durch gewisse Klimmzüge einen Zeitbegriff einführen. Zum Beispiel dadurch dass man sagt, ein Volumen, das zu einem gewissen Raum gehört – wie es in der Kosmologie auftritt – so ein Volumen kann man dann als das Maß der Zeit einführen und ähnliche Dinge."

    Einige Kosmologen kommen hier zu dem Schluss: Es gibt die Zeit nicht. Die Welt befindet sich in einem zeitlosen Zustand, zumindest von einem sehr fundamentalen Standpunkt aus betrachtet. Andere Wissenschaftler sind der Meinung, dass die theoretischen Physiker es mit ihren Spekulationen an dieser Stelle ein wenig übertreiben, zumal sie bislang keinerlei Experimente vorgeschlagen haben, die diese Theorien bestätigen oder widerlegen könnten.

    Vergangenheit und Zukunft. Der Unterschied zwischen Faktischem und Möglichem. Laut Quantentheorie kann sich ein Teilchen, an verschiedenen Orten gleichzeitig befinden, bis es durch die physikalische Messung auf eine der beiden Möglichkeiten festgelegt wird. Aus Möglichem wird in der Gegenwart der Messung Faktisches. Plötzlich und unerklärlich: wird aus A und B – A oder B. Vergangenheit und Zukunft. Alltagserfahrung, Grundlage unseres Denkens. Ein Unterschied, der womöglich nur in unseren Köpfen existiert. Wir Menschen leben mit der Zeit, wir messen sie genau und verstehen sie letztlich nicht.

    Im Zeitlabor der Physikalisch Technischen Bundesanstalt befindet sich, neben den Atomuhr-Schränken, die den Takt unserer Gesellschaft vorgeben, auch ein Experimentiertisch mit vielen Kabeln und feinmechanischen Bauteilen. Eine sogenannte optische Uhr. Herzstück dieser Apparatur ist ein einzelnes Atom, das in einer Teilchenfalle festgehalten und von Laserstrahlen vermessen wird.

    "Die Hoffnung bei den optischen Uhren ist ja, dass man bei der Genauigkeit noch mal deutlich gewinnt. Bis zu einem Faktor 1000, das ist so das was wir hoffen, bei der Genauigkeit besser zu werden. Und wir sind jetzt so, dass wir auf dem gleichen Niveau sind, nach einigen Jahren Entwicklungsarbeit. Es ist natürlich, so: Die Cäsiumuhren sind noch überlegen, weil es Geräte sind, die man benutzen kann und die langfristig und zuverlässig laufen."

    Hätte man eine optische Uhr der kommenden Generation am Anfang des Universums gestartet, würde sie heute um weniger als eine halbe Sekunde falsch liegen. Mit einem solchen Zeitgeber der Zukunft will Ekkehard Peik irgendwann eine völlig neue Art der Astronomie betreiben: Über den Vergleich dieser extrem genauen Uhren im Verlauf von Jahren will er Hinweise auf mögliche Grenzen der Relativitätstheorie finden. Ein solcher Hinweis könnte etwa darin bestehen, dass eine der Naturkonstanten, wie zum Beispiel die Ladung des Elektrons oder die Lichtgeschwindigkeit, nicht wirklich konstant ist. Peik:

    "Das ist ein faszinierender Aspekt dabei: Dass man damit potenziell in Bereiche neuer Physik vorstößt. Theoretisch ist es halt so: Es gibt Modelle von Theorien, die sagen, es ist plausibel und es ist vernünftig, dass es Änderungen von Konstanten gibt. Und die könnte man mit so einem Experiment erstmals quantitativ nachweisen."

    In Zukunft werden die Physiker und Astronomen alles daran setzen, eine Physik jenseits der Relativitätstheorie Einsteins zu finden. Und möglicherweise wird es ihnen auf diesem Weg gelingen, die Zeit neu zu verstehen. Jürgen Ehlers.

    "Es gibt Fragen, die sind noch nicht spruchreif und da ist es besser abzuwarten und zu sagen, das weiß ich nicht. Warten wir mal lieber ab. Sonst gibt man vorschnelle Antworten, die man hinterher doch wieder widerrufen muss."

    "Tausend Jahre flog ich nach oben,
    um die Spitze der Säule zu finden,
    konnte sie aber nicht erreichen.
    Als ich zurückflog,
    begegnete ich dem großen Vishnu,
    der ebenfalls zurückkehrte,
    müde und verdrossen."



    Hinweis: Teil 2 der Reihe "Vishnus Verwirrung oder die Architektur des Universums" unter dem Titel "Kosmos und Energie" können Sie hier nachlesen. Teil 3 Kosmos und Materie wird am Sonntag, 4. Januar, 16:30 Uhr gesendet.