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Vision 20/21. Die Weltordnung des 21. Jahrhunderts

Beschreibungen und Deutungen aktueller politischer Situationen haben inzwischen ein Verfallsdatum, das zuweilen schon weit unter einem Jahr nach Fertigstellung des Manuskripts liegt. Selbst wenn die Argumentation in manchen Teilen weiterhin schlüssig erscheint, können sich doch die Schlussfolgerungen und die Basis der Argumentation bereits innerhalb weniger Monate fundamental verändern. Dies trifft auf besonders eklatante Art und Weise auf die Studie des Chefredakteurs der großen Wirtschaftszeitung "Economist”, Bill Emmott, zu. Der 1956 geborene Emmott skizziert in seinem Buch Vision 20/21 die Weltordnung des 21. Jahrhunderts auf der Grundlage der folgenden Überzeugung:

Hans-Jürgen Heinrichs | 07.05.2003
    Trotz der terroristischen Umtriebe und internationalen Spannungen befindet sich die Welt weitgehend in Frieden, und Amerika ist bereit, durch seine Führung die größten Bedrohungen der Sicherheit abzuwenden, auch wenn es niemals allmächtig oder allwissend sein kann.

    Das Bild von Amerika, das hinter einer solchen Aussage steckt, könnte einseitiger und verfälschender nicht sein, so, als sei dieses Land tendenziell allwissend, also göttlich, und tue alles, um selbstlos der Menschheit Frieden auf Erden zu bescheren. Einen besseren Pressesprecher oder Propagandaminister könnte sich die Bushregierung gar nicht wünschen. Grundlage dieser Einschätzung ist ein kruder wirtschaftswissenschaftlicher Pragmatismus, unbeleckt von jedem dialektischen Denken. Globalisierung heißt für den Autor einfach nur Fortschritt, für den man "dauerhaft werben” müsse.

    Der Boden dafür, den Lebensstandard in der Dritten Welt zu heben und damit die Kluft zu den reicheren Ländern zu schließen, ist bereitet, wenn auch bisher noch in einer nur vorläufigen, unausgereiften Form. Märkte öffnen sich, die Welt wächst zusammen.

    Sesam öffne Dich, die Welt wächst zusammen - wie in einer Benetton-Reklame, wenn da nur nicht die Terroristen wären. Aber dafür gibt es ja die Ordnungsmacht Amerika! Daß die Globalisierung die Armen nicht reich macht, daß Globalisierung und Terrorismus enge Verknüpfungen aufweisen, daß Amerika ehemals diejenigen, die sie jetzt als Terroristen und Diktatoren verfolgt, mit Waffen aufgebaut hat - von all dem scheint dieser Autor nichts zu wissen. Es klingt schon geradezu zynisch, wie er vom "Abbau der Armut und der Umweltverschmutzung”, vom "Sieg über weitere Seuchen” und von einer "Anhebung des weltweiten Lebensstandards” spricht - angesichts der desillusionierenden Ergebnisse von Umweltgipfeln und täglicher Katastrophen wie der Ölverschmutzung der Meere, angesichts der Statistiken über die tatsächliche Armut in der Welt und die weltweite ökonomische, soziale und politische Depression sowie der Gefahren des Bioterrorismus.

    Bill Emmott hat keinen Blick für die komplizierten Prozesse von Fortschritt und Niedergang, von Globalisierung, Terror, Krieg und Armut. Auf welche Weise Amerika Teil dieser Verwicklungen ist und wie sich neue permanente Kriegsformen herausbilden - davon erfährt man in diesem Buch nichts. Gerade deswegen kann man es, wie einen nicht gelungenen Film, empfehlen: Auf der Folie des schlecht gemachten Films oder einer von Auslassungen, Verzerrungen und Fehleinschätzungen geprägten Studie schärft sich der Blick für die komplexe Wirklichkeit und die Schwierigkeit, sie deutend in den Griff zu bekommen. Umso deutlicher wird dann, was wir an Studien wie denen von Eric Hobsbawm ( Das Zeitalter der Extreme ), Herfried Münkler ( Die neuen Kriege ), Wolfgang Sofsky ( Zeiten des Schreckens ) oder von Scholl-Latour haben.

    Wenn man solche kritischen Studien liest oder auch nur aufmerksam die täglichen Berichte über Fälschungen von sogenannten Beweisen und Dokumenten im Propagandafeldzug für den Irak-Krieg wahrnimmt, wenn man die Gleichschaltung der Medien und die "Berichterstattung” der Fernsehsender in den USA verfolgt, kann man nur den Kopf schütteln über Bill Emmotts Meinung:

    ... in einer Hinsicht hat der technische Fortschritt jüngst die Macht des Staates geschwächt: Die durch Computer, Telefone, Satelliten und das Internet eröffnete noch weiter reichende Kommunikation lässt es fast nicht mehr zu, Wissensmonopole durchzuhalten und die Bevölkerung hinters Licht zu führen.

    Das Gegenteil ist der Fall. Der Staat, vor allem, wenn er Amerika heißt, benutzt schonungslos alle Technologien - Internet, Fernsehen, Telefonüberwachung usw. -, um die eigene Macht auszubauen und, wo nötig, die Bevölkerung hinters Licht zu führen. Die Frage, wieviel Demokratie noch in Amerika ist, stellt der Autor genauso wenig wie die Frage, wieviel Freiheit tatsächlich in den Ländern ist, die er fälschlicherweise als Demokratien bezeichnet.

    Bei alldem kann man dem Autor zugute halten, daß er die Studie zu einer Zeit geschrieben hat - dies ist nun gerade mal (mehr oder weniger) ein, zwei Jahre her -, da man tatsächlich noch glauben konnte, Amerika könne als Supermacht besser für eine Weltfriedensordnung sorgen, als dies in dem von Krieg und Gewalt geprägten 20. Jahrhunderts der Fall war; da man noch glauben konnte, Amerika wolle eine internationale Antiterrorallianz und folge nicht bloß blind, mit christlich fundamentalistischem Fanatismus, ihrer Hegemoniemachtpolitik. Da die Bush-Regierung aber inzwischen alles diesem Ziel unterordnet, dabei die Medien und die Kultur total gleichzuschalten versucht und im Namen der Demokratisierung der Welt ihre eigene Demokratie unterhöhlt, liest sich Bill Emmotts Buch als Beschreibung dessen, was Amerika hätte werden können: ein Garant für die Befriedung der Welt und die Stärkung der Demokratie.

    Die Kriterien, mit denen Emmott für die USA wirbt - Geduld, Zielsicherheit, Entschlossenheit, Führungsanspruch aufgrund ihrer militärischen Macht und andere - mögen vielleicht noch unmittelbar nach dem 11. September eine gewisse Legitimität gehabt haben. Heute flößen sie entweder Schrecken ein (was den absoluten Führungsanspruch betrifft), erweisen sich als taktische Mittel oder reichen überhaupt nicht mehr an die Dimension der von den USA geplanten Umstrukturierung der weltpolitischen Verhältnisse heran.

    Dass das amerikanische Imperium ein "Imperium der Ideen, der Demokratie, der Herrschaft von Gesetzen und Freiheit” sei, klingt angesichts der im Schatten des Antiterrorkampfs erlassenen und jetzt voll zur Geltung kommenden Gesetze zur Einschränkung der individuellen Freiheit in den USA nur noch wie Hohn oder wie die Litanei: "das hätte aus Amerika auch werden können.” Leute wie Bill Emmott geben der militärischen Euphorie und dem christlichen Fundamentalismus der Bush-Regierung die wissenschaftliche Weihe und Rechtfertigung. Deswegen, und auch wegen ihrer Klischees, Gemeinplätze und Überheblichkeiten (China "ein mittelmäßiges Land”, der Staat "muß den Kapitalismus salonfähig machen” etc.) soll man sie lesen - und die gegenteiligen Schlüsse ziehen.

    George Bush, der den "Economist” abonniert haben soll, wird nach dieser Studie allen seinen Freunden eine Abonnement der Zeitschrift zu diesem oder zum nächsten Krieg schenken.