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Visionär des Tanztheaters

Den deutsche Tanzkritiker Jochen Schmidt interessierte in seiner Arbeit vor allem, wenn sich gesellschaftspolitische Veränderungen tänzerisch ankündigten oder gar im Tanz ausdrückten. Nun starb er im Alter von 74 Jahren.

Von Wiebke Hüster | 11.10.2010
    In seinem letzten umfangreichen Werk, das 2002 unter dem sachlichen Titel "Tanzgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in einem Band" erschien, gab Jochen Schmidt die wichtigsten Analysen und Urteile seiner mehr als 30-jährigen Arbeit als weitreisender Tanzkritiker in Zusammenfassung weiter. Die Einschränkung des Titels schien sich rein auf den zeitlichen Ausschnitt zu beziehen – und somit alle bedeutenden zwischen 1900 und 2000 choreografierten Tänze berücksichtigen zu wollen. Tatsächlich aber belegt das Buch, dass Jochen Schmidt mit dem 20. Jahrhundert als künstlerischer Epoche die ästhetische Moderne des Tanzes assoziierte. Geografisch war es ihm möglich, sich dabei nicht ausschließlich auf Zentraleuropa zu konzentrieren, sondern bis nach Indien, Japan oder Taiwan zu schauen.

    Weltweit interessierte ihn, wo sich gesellschaftspolitische Veränderungen tänzerisch ankündigten oder in Tanztheaterstücken ausdrücklich manifestierten. So entwarf er in der erwähnten Tanzgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts etwa ein einfühlsames Porträt der bedeutendsten indischen Erneuerin des Tanzes, Chandralekha. Sie habe ihm erzählt, wie sie bei ihrem formellen Debüt als Tänzerin bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung für die Opfer einer Dürrekatastrophe aufgetreten sei. In dem rituellen Tanz über den schönen Fluss Yamuna, den Chandralekha dabei präsentierte, habe sie Wasser verspritzen müssen. Und in dem Augenblick habe sie Bilder der Katastrophe vor Augen gehabt und sei ihr der Abgrund zwischen Kunst und Leben bewusst geworden. Mit Choreografien, die diesen Widerspruch thematisierten, wurde Jochen Schmidt als Publizist groß.

    Von 1968 an begleitete er als Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Weg der deutschen Tanztheaterchoreografen Johann Kresnik, Susanne Linke, Reinhild Hoffmann und Gerhard Bohner. Seine größte Hochachtung aber galt dem Tanztheater Wuppertal. Jochen Schmidt war der vielleicht aufmerksamste und engagierteste Beobachter von Pina Bauschs Werken. Mit ihr wusste er sich eins in der Auffassung, dass Kunst und Leben aufs engste miteinander verbunden sein müssten – um nicht zu sagen identisch.

    Diese inhaltliche Revolutionierung des Tanzes – weg mit den Prinzen, den Feen und Sylphiden, den Tempeltänzerinnen, Winzern und Waldhütern – dieser rebellische Ansatz war es , der ihn auch früh an den Werken des niederländischen Choreografen Hans van Manen begeisterte. Das Buch über Hans van Manen begründete den Ruhm des Meisters der Neoklassik in Deutschland. Auch den Aufstieg des Schweizer Choreografen Martin Schläpfer förderten Schmidts Kritiken. Wenn es für den Autor von Biografien von Isadora Duncan und Pina Bausch am Ende einen Wermutstropfen im Kelch der deutschen Tanzgeschichte gegeben haben dürfte, dann den, keine wirklichen Nachfolger von Pina Bausch entdeckt zu haben. Von ihm lange freundlich begleitete Choreografen wie Henrietta Horn oder Daniel Goldin konnten diese Hoffnung nicht erfüllen.

    Zuletzt lagen Jochen Schmidt, der auch gegenüber berühmten Choreografen wie Anne Teresa de Keersmaeker oder William Forsythe kühl bleiben konnte, die von geradezu bildhaft asiatischer Harmonie und Schönheit erfüllten Stücke des Taiwanesen Lin Hwai-Minh am nächsten.