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Visionär und Lebemann

Der Brite David Lodge ist eigentlich eher als Satiriker bekannt. Nun hat er etwas Neues gewagt und eine Biografie über H. G. Wells verfasst - oder vielmehr einen biografischen Roman, der den Science-Fiction-Autor vor allem als Frauenheld und Lebemann präsentiert.

Von Michael Schmitt | 29.03.2013
    Hat Science-Fiction jemals viel über eine Zukunft erzählt, die tatsächlich eingetreten ist? Ist sie nicht viel häufiger vor allem ein Schlüssel zum Verständnis der Zeit, in der sie entstanden ist?

    Der britische Schriftsteller Herbert George Wells hat in seiner produktivsten und erfolgreichsten Schaffensperiode, vom Ende des 19. Jahrhundert bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs viele Science-Fiction Romane veröffentlicht und ab etwa 1910 zunehmend auch Bücher, die unverhohlen gesellschaftspolitisch Stellung bezogen.

    Er hatte vor und nach dem Ersten Weltkrieg eine breite Leserschaft, sodass George Orwell später feststellen konnte, zumindest in der Zeit vor 1914 sei kein denkender Mensch frei von H. G. Wells Einfluss gewesen. Er engagierte sich für die Idee eines Völkerbunds, verfocht die dubiose Vorstellung von einer vernünftigen Weltregierung, er war Darwinist und Humanist, er war ein Rebell im gepflegten Dreiteiler – und ist bis heute bei angelsächsischen Leser beliebt.

    Geboren 1866 als Sohn einer kleinbürgerlichen Familie, hat er den Luftkrieg zum Thema gewählt, als Flugzeuge und Zeppeline noch äußerst fragile Dinge waren, aber Flugmaschinen beschrieben, über die man heute nur mehr schmunzeln kann. Er hat einen Roman über die Atombombe geschrieben, kaum dass die Physiker die erste Schritte auf dem Weg zur Spaltung der Atomkerne gegangen waren – und schon 1895, als fulminantes Entrée ins literarische Establishment, hatte er mit dem Roman "Die Zeitmaschine" eine Evolutions-Dystopie vorgelegt, die bis heute als Bild von der Degeneration der Menschheit in Filmen und neueren Büchern nachhallt. H. G. Wells versprach sich viel vom Fortschritt, er war aufgeschlossen für reformerische bürgerliche Ideale, für sozialistische Ideen, für die Emanzipation der Frauen und für einen unverstellten Umgang mit Sexualität – und seine Bücher dienten der Verbreitung solcher Vorstellungen. Und erst unter dem direkten Eindruck des Zweiten Weltkriegs wurde er zum bitteren Pessimisten.

    Für deutsche Leser ist eine eher schemenhafte Gestalt - aber dem kann abgeholfen werden, denn David Lodge hat die Biografie dieses einflussreichen Mannes geschrieben. 660 Seiten stark, als Roman – übersetzt von Martin Richter und Yamin von Rauch.

    David Lodge, auch ein Brite, hat sich durch bissig-satirische Campus-Romane einen Namen gemacht. Er sei eher zufällig auf dieses Thema gestoßen, hat er gelegentlich erklärt -- bei anderen Recherchen und bei der Arbeit an einem Buch über Wells' Zeitgenossen und literarischen Gegenpol Henry James. Ihn hätten die Widersprüche gefesselt, die H. G. Wells in sich ausgetragen habe – sie seien in vieler Hinsicht typisch für seine Zeit gewesen.

    Unbekannt ist das bislang nicht gewesen, denn H. G., Wells hat auch selbst Rechenschaft abgelegt: in zwei autobiografischen Büchern, in selbstbewussten Beichten, als Geschichte seines gesellschaftlichen Aufstiegs, seiner beiden Ehen und seiner vielen längeren und kürzeren Liebschaften, meist mit sehr viel jüngeren Frauen, aber auch mit bekannten Schriftstellerinnen wie Elisabeth von Arnim. David Lodges "Ein ganzer Mann" stützt sich sehr deutlich auf diese autobiografischen Arbeiten, und sein besonderes Interesse gilt den Frauengeschichten.

    Lodge erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich selbst nach unentschlossenen jungen Jahren einen Ruck gibt, um nicht in kleinen Verhältnissen stecken zu bleiben. Der in den richtigen Kreisen reüssiert, diese Kreise dann aber auch immer wieder durch seine Affären, weniger durch seine Ideen düpiert. Der sich große Häuser einrichten und nebenbei kleine Liebesnester unterhalten kann. Der ein väterlicher Förderer für intelligente junge Frauen aus guten Familien ist, zu einer Zeit, als die Universitäten gerade erstmals die Türen für solche Frauen zu öffnen beginnen. Und der mit vielen dieser jungen Damen auch Liebschaften beginnt, die für ihn – nicht immer auch für die Frauen – vor allem Variationen in möglichst frei ausgelebter Sexualität sind. Meist nicht mehr, bei aller Zuneigung. Und anschließend werden sie zum Stoff seiner Romane. Ist H. G. Wells ein Schwerenöter – oder lässt er sich eher von den Frauen verführen? Lodge lässt es in der Schwebe. Nährt sich seine Literatur von dem Schmerz, den er manchen seiner Geliebten zufügt? Ganz bestimmt.

    Es gibt kurze Affären und lange währende Liebeshändel, etwa mit der später sehr berühmten Journalistin Rebecca West. Es gibt uneheliche Kinder – und auch die hässliche Geschichte um die junge Amber Reeves, die H. G. Wells, als sie schwanger ist, an einen anderen ihrer Verehrer geradezu abschiebt.

    Sein größtes Problem bei diesem Buch sei die Materialfülle gewesen, hat David Lodge erklärt. Organisiert wird sie durch eine Rahmenhandlung um den alten, kränklichen H. G. Wells, der 1944 sein Londoner Haus trotz der Bombenangriffe nicht verlassen mag, und, der 1946 nahezu lautlos in seinem Bett stirbt. Nur zu Beginn und am Ende des Buches wird H. G. Wells von außen geschildert, mit den Augen seiner Mitmenschen – über weite Strecken nutzt Lodge eine Art inneren Monologs in der dritten Person, woraus eine kühle Mischung aus Distanz und Nähe, aus Reflektiertheit und Selbstbewusstsein entstehen. Zuweilen, an besonders prekären Punkten in Wells Leben, inszeniert Lodge zudem eine Art von innerem Zwiegespräch, wenn der alte Mann sich selbst kritischer befragt, als er es in seinen veröffentlichten autobiografischen Büchern getan hat.

    Das ist aufwendig gemacht, verhindert aber nicht, dass die Lektüre streckenweise anstrengt. Lodge, so scheint es, hat sich von der Materialfülle seines Themas ein bisschen zu sehr beeindrucken lassen, hat sich ihr allzu freiwillig hingegeben. Weniger wäre mehr gewesen: ein paar Details weniger nämlich über die einzelnen Affären, dafür aber ein paar pointiert erfundene Szenen mehr über den Widerspruch zwischen neuer Freiheit und altgewohntem patriarchalischem Verhalten.

    Weder H. G. Wells noch seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen waren souverän genug, um das zu leben, was sie theoretisch für gut befunden hatten.

    Aber machen wir es heute besser? Das ist die Frage, die den Leser ständig begleitet – sie ist unter diesen Unmengen an Stoff nicht begraben worden, aber sie hätte deutlicher herausgestellt werden können.


    David Lodge: "Ein ganzer Mann",
    Deutsch von Martin Richter und Yamin von Rauch,
    Haffmanns & Tolkemitt, Berlin 2012, 674 Seiten.