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Visumfreiheit für Türken
"Die Türkei weiß, was sie zu tun hat"

Eine Visumfreiheit für Türken werde es nur geben, wenn alle 72 Punkte erfüllt seien, sagte der CDU-Europapolitiker, Michael Gahler, im DLF. Die Visumfreiheit habe nichts mit der aktuellen Flüchtlingssituation zu tun. Erst die Türkei habe sie damit verknüpft.

Michael Gahler im Gespräch mit Bettina Klein | 01.08.2016
    Michael Gahler, sicherheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion.
    Michael Gahler, sicherheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion. (imago/Eibner)
    Der türkische Außenminister Cavusoglu hatte der "Frankfurter Allgemeinen" gesagt, wenn die Vereinbarung nicht spätestens Mitte Oktober umgesetzt sei, werde die Türkei von dem Flüchtlingsabkommen Abstand nehmen. Diesen Druck aus Ankara will die EU aber nicht nachgeben. CDU-Europapolitiker Gahler betonte in Deutschlandfunk, man werde sich nicht auf Kompromisse einlassen: "Es müssen alle 72 Punkte erfüllt sein, sonst gibt es keine Visumfreiheit. Die Türkei hat sich darauf eingelassen und verhandelt seit 2013 mit der EU."
    Die Türkei sei mit ihren Forderungen im Unrecht, so Michael Gahler. Es sei objektiv so, dass die Türkei die Bedingungen nicht erfülle. Angesichts des Putschversuchs und dessen, was folgte, müsse die Kommission auch nochmals genau hinschauen, ob auch andere Punkte von der Türkei nicht erfüllt werden.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei hat der Europäischen Union und insbesondere Deutschland eine Art Verschnaufpause verschafft, so wird es allgemein gesehen, es kommen weniger Migranten hierher. Nun stellt Ankara den Deal offen infrage und pocht auf die versprochene Visumfreiheit für seine Bürger.
    Der türkische Außenminister sagte der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", "Wenn es nicht zu einer Visa-Liberalisierung kommt, werden wir gezwungen sein, vom Rücknahmeabkommen und der Vereinbarung vom 18. März Abstand zu nehmen." Seine Regierung erwarte einen konkreten Termin für die zugesagte Visumfreiheit. "Es kann Anfang oder Mitte Oktober sein, aber wir erwarten ein festes Datum".
    Am Telefon ist der CDU-Europaabgeordnete Michael Gahler. Guten Morgen!
    Michael Gahler: Guten Morgen, Frau Klein!
    Klein: Herr Gahler, was genau steht dem Visumsabkommen jetzt noch im Wege?
    Gahler: Dem Visumsabkommen steht im Wege, dass die Türkei nicht alle der 72 Voraussetzungen erfüllt hat, und die präzise Voraussetzung, die hier insbesondere infrage steht, das ist diejenige, dass die Türkei ihre Gesetzgebung und auch ihre Praxis im Bezug auf die Terrordefinition präzisieren muss, indem sie ganz einfach den Umfang dessen, was sie als Terror bezeichnet, einschränkt, und zwar einschränkt in Übereinstimmung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention oder auch mit Urteilen, die vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof bereits ergangen sind. Und damit würde sie, wenn sie die so einschränkt, dann auch den Rechtsbestand der Europäischen Union und auch die Praxis der EU-Mitgliedsstaaten dann erreichen. Das ist eine Voraussetzung, und da gibt es auch keinen Kompromiss.
    Klein: Das ist genauso festgehalten in dem Abkommen und auch genauso von der türkischen Seite unterzeichnet?
    "Es müssen alle 72 Punkte erfüllt sein, sonst gibt es keine Visumfreiheit"
    Gahler: Die Türkei weiß, was sie zu tun hat.
    Klein: Aber das ist nirgendwo schriftlich festgehalten, oder wie?
    Gahler: Das ist schriftlich festgehalten. Das können Sie, das können auch die interessierten Zuhörer auf der Webseite der Kommission nachlesen. Da sind alle 72 Punkte festgehalten, und diejenigen, die erfüllt sind, die sind in Grün unterlegt, und die anderen, die noch zu erfüllen sind, sind nicht in Grün unterlegt. Da gibt es auch keinen Kompromiss, das hat gestern noch mal eine Kommissionssprecherin richtigerweise gesagt. Es müssen alle 72 erfüllt sein, sonst gibt es keine Visumfreiheit.
    Klein: Das ist nicht erfüllt aus Sicht der Europäischen Union. Aber hatte die Türkei, das war meine Frage gerade, hatte die Türkei bei der Unterzeichnung des Flüchtlingsabkommens denn anerkannt, dass es genau diese Bedingungen erfüllen muss?
    Visumfreiheit habe nichts mit Flüchtlingen zu tun
    Gahler: Die Türkei hat sich darauf eingelassen. Und sie verhandelt ja auch mit der Europäischen Kommission, und zwar im Übrigen bereits seit 2013. Das hat nichts – die Visumfreiheit, die hat nichts mit der aktuellen Situation in Bezug auf die Flüchtlinge zu tun. Das hat die Türkei ihrerseits verknüpft, und wir haben uns darauf eingelassen, weil wir natürlich auch ein Interesse als Europäische Union haben, dass der unhaltbare Zustand an der griechisch-türkischen Grenze, den wir aus dem vergangenen Jahr und zu Beginn dieses Jahres kennen, dass dieser unhaltbare Zustand nicht wieder auflebt.
    Klein: Aber, Herr Gahler, Tatsache ist ja, die Türkei stellt es jetzt so dar, als würde die Europäische Union das Abkommen brechen und ihre Zusagen nicht erfüllen. Da steht ja jetzt juristisch Aussage gegen Aussage.
    Gahler: Das ist nicht juristisch Aussage gegen Aussage. Es ist objektiv so, dass die Türkei diese eben von mir erwähnte Bedingung nicht erfüllt. Und ich würde noch einen Schritt weiter gehen: Im Lichte dessen, was nach dem Putschversuch geschehen ist an Unsäglichkeiten in Bezug auf Verhaftungen, auf Entlassungen, Annullierungen von Pässen – ich glaube, die Kommission muss auch tatsächlich mal schauen, ob andere der 72 Punkte inzwischen schon wieder von der Türkei nicht eingehalten werden. Von daher besteht von unserer Seite auch der Bedarf, da noch mal zu schauen, ob die Türkei inzwischen nicht, inzwischen wieder mehr als nur die zwei Punkte, die übrig geblieben sind, nicht erfüllt.
    Klein: Auch noch mal ganz klar nachgefragt, da gibt es keinerlei Grauzone und keinen Interpretationsspielraum, den die einen so, die anderen so interpretieren können, sondern das ist ganz klar, schwarz auf weiß, die Türkei hat sich verpflichtet, all diese Bedingungen komplett zu erfüllen, und ist jetzt mit ihrer Forderung im Unrecht?
    Gahler: Die Türkei ist mit ihrer Forderung im Unrecht, da sie weiß, welche Voraussetzungen wir verlangen, im Übrigen nicht nur von der Türkei, auch von allen anderen Ländern, die wir noch auf der Liste haben, die auch Visumfreiheit haben wollen. Sie will etwas erreichen, und wir geben das im Gegenzug dafür, dass alle Bedingungen erfüllt sind.
    Enttäuschung über geplatzte Visumfreiheit falle auf türkische Regierung zurück
    Klein: Jetzt zu der aktuellen Äußerung des türkischen Außenministers. Der verlangt ein festes Datum im Oktober, bis zu dem Visafreiheit vereinbart werden muss. Wird sich die Europäische Union darauf einlassen?
    Gahler: Wir lassen uns darauf ein, dass alle Bedingungen erfüllt sind. Ich kann das nur wiederholen. Und wenn er sich den Oktober setzt, dann soll mir das recht sein. Wir werden dann im Oktober prüfen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind. Und es ist ja auch nicht so, dass wir in der Zwischenzeit als Europäer untätig geblieben sind. Es mag auch ein stumpfes Schwert sein. Er muss sich auch im Klaren sein, dass seine eigenen Bürger das ja wollen und dass die Enttäuschung, wenn die Türkei das nicht erreicht, dann auch ein Stück auf die Regierung zurückfällt. Die Schuld kann dann nicht uns gegeben werden.
    Wir haben in der Zwischenzeit agiert, wir haben die Hotspots, also diese Aufnahmepunkte auf den griechischen Inseln, die sind inzwischen arbeitsfähig, die prüfen die wenigen Menschen, die zurzeit da kommen. Und wir haben in der Zwischenzeit auch einen europäischen Grenzschutz geschaffen, der den Namen viel eher verdient. Das heißt, wir bleiben auch nicht untätig als Europäer und schauen nur darauf, was die Türkei will. Die Abhängigkeit von gutem und bösem Willen in Ankara, die reduziert sich.
    Aufkündigung Flüchtlingsabkommen: "Wir wünschen das nicht"
    Klein: Und, ich verstehe es so, von einem festen Datum für die Visafreiheit war auch nie die Rede. Was ist, wenn Oktober kommt und da keine Bewegung zu verzeichnen ist. Das Flüchtlingsabkommen wird dann gekündigt von der Türkei, darauf sollte die Europäische Union es ankommen lassen, oder wie?
    Gahler: Ja, wir haben ja keine Veranlassung, von unserer Seite das zu tun. Das ist dann eine Entscheidung der türkischen Regierung. Wir wünschen das nicht. Wir haben, wie ich bereits sagte, ein Interesse, dass dort die Grenze unter Kontrolle bleibt und dass eben nicht wieder der Zustand von vor einigen Monaten eintritt, wo Zehntausende Flüchtlinge über Griechenland in die Europäische Union gekommen sind. Von unserer Seite werden wir das nicht aufkündigen.
    Und die Türkei sollte sich überlegen, ob es letztlich auch in ihrem Interesse ist, das zu tun. Denn sie hat natürlich auch andere Leistungen von uns bereits zugesagt bekommen. Das sind die zweimal drei Milliarden zur Versorgung der Flüchtlinge, davon ist einiges, eine gewisse Summe ist da auch bereits markiert, nicht für den türkischen Staatshaushalt, sondern präzise für die Flüchtlingsunterkünfte, für die Schulen dort, für die medizinische Versorgung der Flüchtlinge. Das ist also nichts, was die türkische Regierung in die Hand direkt von uns bekommt. Aber auf der anderen Seite spart sie natürlich Aufwendungen, wenn sie sie selbst nicht mehr tätigen muss. Das ist auch in ihrem Interesse, dass das weiter läuft.
    Klein: Herr Gahler, abschließend: Was ist, wenn das so kommt, wenn das Abkommen zerbricht? Dann haben all die recht behalten, die das von Anfang an kritisiert haben, dass man sich eben in diese Art der Abhängigkeit von der Türkei begeben hat.
    Gahler: Wir haben uns in eine Vertragsbeziehung mit der Türkei begeben, die in unserem Interesse ist. Ich sagte bereits, es ist nicht ausreichend, wenn an der mazedonisch-griechischen Grenze dann dicht gemacht wird und uns dann Griechenland in große Schwierigkeiten kommt. Wir müssen als Europäische Union das Gesamtbild sehen, und da gehört dann Griechenland mit dazu. Und wir haben die anderen Maßnahmen bereits ergriffen, damit für diesen nicht gewünschten Fall dann aber auch wir inzwischen sehr viel besser in der Lage sind, mit möglichen Konsequenzen dann umzugehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.