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Völker am Wasser

Die Idee ist faszinierend einfach: Edouard Glissant, Dichter, ließ auf einem Freimastsegelschiff systematisch zwölf Völker besuchen, die am Wasser wohnen - und nur so erreichbar sind. Herausgekommen dabei ist eine Reise der Entschleunigung und intensive Begegnung mit den Menschen, die dort wohnen.

Margrit Klingler im Gespräch mit dem Verleger Manfred Metzner | 05.01.2009
    Edouard Glissant, international renommierter Dichter, Essayist und Kulturtheoretiker aus Martinique, hat sich ein wunderbares, von der UNESCO unterstütztes Projekt ausgedacht, das Manfred Metzner der Leiter des Verlages DAS WUNDERHORN wie folgt skizziert:

    "Ja, das ist natürlich eine glückliche Fügung, dass der Verlag DAS WUNDERHORN seit 1983 Edouard Glissant in Deutschland verlegt. Und als Edouard Glissant mir erzählt hat von dem Projekt, das er da konzipiert hat mit dem Kapitän der Boudeuse, diesem Freimastsegelschiff, hat er mir erzählt, dass er die Idee hatte, Völker am Wasser zu besuchen, Expeditionen, die nicht er organisiert hat, aber der Kapitän des Schiffs, Expeditionen die zu zwölf Völkern führten, die nur über das Wasser erreichbar sind. Dazu hatte er den Gedanken, er lädt Schriftsteller ein, die immer einen Teil der Reise mitmachen können und sich einen Ort aussuchen konnten, an den sie dann mit diesem Schiff gebracht wurden, und dort konnten sie vier, fünf, sechs oder sieben Wochen bleiben."

    Gérard Chaliand ist Konfliktforscher und der Autor von über dreißig Sachbüchern, darunter Die Geschichte des Terrorismus vom Altertum bis zu Al Qaida, globale Guerillabewegungen, die Erinnerung an den Genozid in Armenien.
    In BIS AN DIE GRENZEN VON ELDORADO, dem ersten Band der von Edouard. Glissant konzipierten Reihe VÖLKER AM WASSER beschreibt Chaliand die Reise zu den kolumbianischen Yuhup – Indianern auf dem Dreimastschoner LA BOUDEUSE. Die war 2004 in Bastia, der Heimat des Kapitäns Patrice Franceschi, zu einer dreijährigen Weltumseglung aufgebrochen, samt Zwischenstopp in Paris, wo Manfred Metzner
    sie besichtigen konnte.

    "Ich habe mir das Schiff angeschaut. Es lag auf der Seine in den letzten Monaten, und man konnte es besichtigen. Die mussten natürlich, als sie von der Bretagne, vom Kanal über die Seine nach Paris gefahren sind, die ganzen Masten abbauen, sonst wären sie gar nicht bis dorthin gekommen, dann wurden die wieder aufgebaut, und dann konnte man in Paris auf der Seine das Schiff besichtigen. Die Kabinen sind relativ geräumig, sie haben auch eine kleine Bar dort, und es gibt Duschen; man kann es da schon aushalten, es ist auch eine schöne kleine Bibliothek an Bord, ja und es hat genau diese Romantik, die ein solches Dreimastsegelschiff hat."

    Hätte man die lange Reise nicht bequemer und schneller machen können, als ausgerechnet auf einem Segelschiff, das von der Mannschaft ein Höchstmass an Disziplin und Zusammenarbeit verlangt? Bestimmt. Nur war das, wie Manfred Metzner betont, nicht von Edouard Glissant beabsichtigt.

    "Das ganze Schreiben von Glissant ist ja auch eine Art von entschleunigtem Schreiben und Von Entschleunigung in dieser Gesellschaft. Da passt so eine Expedition mit einem Schiff, was auch ein Entschleunigen mit beinhaltet, wenn es ein Segelschiff ist. Man kommt bestimmt auch zu ganz anderen Reflektionen, wenn man sozusagen mit einem Segelschiff reist statt mit einem Schnellboot. ( ... ) Gerade bei Chailand ist mir das besonders aufgefallen, dass jemand, der sich praktisch 30, 40 Jahre mit Guerillakämpfen beschäftigt hat, der mit Amilcar Cabral für die Befreiung der Cap Verden und für Guinea Bissau gekämpft hat, an der Seite von Cabral, dass es für ihn eine ganz neue Erfahrung ist, Monate auf dem Schiff unterwegs zu sein und Zeit zu haben zum Denken."

    Die Bootsfahrt auf einem Zufluss des Amazonas beschreibt Chailand in diesen Worten:

    Wir sehen nie einen Menschen. Bei jedem Nebenfluss wird die Breite des Gewässers ein wenig geringer. Immer noch Ketten von Inseln und zuweilen zwischen zwei Bäumen, eine Rinne, die man hinaufklettern könnte, wenn man es schafft, sich nicht den Kopf an den ins Wasser hängenden Zweigen zu stoßen. Wir sprechen wenig. Wir betrachten den Himmel, die glatte Wasserfläche, die Ufer mit dem Urwald, der so dicht ist, dass wir nicht anlegen können. Selten sehen wir einmal eine Anlegestelle. Menschliche Besiedlungen fehlen fast völlig. (S.107)

    In dem in drei Kapitel gegliederten Band wird zuerst die BOUDEUSE ausgiebig und sachkundig beschrieben, dann werden Kapitän und Mannschaft vorgestellt und es wird aus dem Bordbuch des Kapitäns und des Maschinisten zitiert. Eckdaten zur Kolonialgeschichte und zur politischen und wirtschaftlichen Situation Brasiliens werden referiert, Impressionen von den kurzen Landgängen in Belém und Manaus eingefügt, einschließlich Chailands Reminiszenzen an frühere Reisen. Insgesamt ist der Band eine gelungene Mischung aus Fakten, Impressionen und Poesie. Er dokumentiert einen behutsamen Annäherungsprozess an Amazonien und hinterfragt die kolonialen und postkolonialen Wahrnehmungsraster europäischer Reisender.

    "Das Entscheidende ist und das ist ja auch Glissants Haltung, das man sich auf einer Augenhöhe begegnet, dass es keine Unterordnung gibt, dass man sich öffnet dem Fremden, dem Anderen gegenüber, das man dieses Risiko eingeht, den Anderen überhaupt kennen zu lernen und dass man nicht die Ängste entwickelt, wenn da etwas Fremdes auf einen zukommt. Das ist die Grundlage und daraus sollten ja dann auch diese Bücher entstehen, mit diesen Erfahrungen, die die Schriftsteller dort gemacht haben mit diesen Begegnungen.
    ( ... ) Der zweite Teil beschäftigt sich dann mit der Reise über den Amazonas, bis zu der Stelle, wo das Schiff nicht mehr weiter reisen kann, weil es einfach zu groß ist für diesen Fluss und diejenigen, die dann zu diesem Stamm der Yuhup weiterreisen werden, umsteigen müssen in die Einbäume und dorthin gebracht werden über den Amazonas und den Rio Negro. Der letzte Teil dieses Buches beschäftigt sich mit diesem Aufenthalt bei den Yuhup, und es ist gleichzeitig aber auch noch einmal eine Reflektion über diese ewig währende Suche nach dem El Dorado, die schon Jahrhunderte andauert und wobei das beeindruckendste Beispiel vielleicht Aguirre ist, den man ja nun über den Werner Herzog Film in Deutschland gut kennt, der auch daran gescheitert ist, dieses El Dorado zu finden und diese sagenhaften Goldschätze."

    Dass die Reise zu den Yuhup und nicht zu einem anderen Indianerstamm führte, hängt mit früheren Besuchen des Kapitäns zusammen. Seinerzeit hatte er sogar einen Film gedreht, den er diesmal den neugierigen Yuhup vorführt. Ausgiebige Gespräche über die Veränderungen, die zwischenzeitlich stattgefunden haben, sind das Material eines weiteren Films über das Alltagsleben und die Akkulturation der Yuhup.
    Freuen dürfen wir uns schon jetzt auf die nächsten Bände dieser Reihe. Der zweite Band handelt von einer Reise, die den französischen Schriftsteller Jean- Marie Le Clézio ins polynesische Raga führte.
    Im dritten Band geht es um Sylvie Glissants Reise zu den Osterninseln.

    "Das ist eine ganz interessante Sache, aber typisch Edouard Glissant würde ich sagen, das er dann selbst nicht reist, sondern seine Frau Sylvie reisen lässt, die Sylvie Glissant ihn ständig über Funktelefon informiert, was sie auf der Osterinsel erlebt, was sie dort sieht und Glissant dann imaginiert, sozusagen seinen Text aus diesen Erzählungen heraus entwirft und mit sich in Verbindung setzt."

    Wer nun gern auf der BOUTEUSE anheuern und zu einem Volk am Wasser aufbrechen möchte – geplant ist eine Reise zu durch den Klimawandel vom Untergang bedrohten Inseln – muss Geduld aufbringen und:

    "Wahrscheinlich jetzt wieder zwei Jahre warten, weil das Schiff ja demnächst wieder lossegelt und die Besatzung feststeht ( ... ) Man kann über eine Website LA BOUDEUSE im Web recherchieren, was demnächst ansteht. Da sind die Berichte über die neuen Reisen drin, da kann man sich informieren, was das Schiff vorhat oder der Kapitän."


    Gerard Chaliand: Bis an die Grenzen des El Dorado
    Völker am Wasser
    Hg. Edouard Glissant
    Übersetzung: Beate Thill
    Verlag Das Wunderhorn, heidelberg/2008, Preis: 19,90 Euro