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Volker Gerhardt: "Humanität. Über den Geist der Menschheit"
Eine globale Verpflichtung

Mit dem Konzept des Humanismus verband sich einst die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Seit einigen Jahrzehnten aber steht der Humanismus mit seiner Konzentration allein auf den Menschen in der Kritik. Angesichts globaler Probleme unternimmt der Philosoph Volker Gerhardt den Versuch einer Erneuerung.

Von Leander Scholz | 13.08.2019
Buchcover: Volker Gerhardt: „Humanität. Über den Geist der Menschheit“
Volker Gerhardt entfacht eine neue Debatte: Humanität als Verantwortung für das Ganze (Buchcover: C.H. Beck Verlag, Foto: dpa/picture alliance/Jens Ressing)
Als Kant alle Fragen der Philosophie zu einer einzigen zusammenfasste, konnte er nicht ahnen, wie sehr diese Frage zahllose Wissenschaftler und Disziplinen in den folgenden Jahrhunderten beschäftigen würde: Was ist der Mensch? Eine ganz neue Art der Wissenschaft entstand, die sich ausschließlich der Erforschung des Menschen widmete: die Humanwissenschaft. Mit der Abnahme religiöser Orientierung ging die Karriere der Anthropologie einher. Der Mensch war auf sich selbst gestellt. Und ein starker Singular tauchte am Horizont auf: die Menschheit. Damit war nicht bloß die Gattung gemeint, sondern eine große Hoffnung auf eine bessere Zukunft für alle Menschen. Heute zerfällt dieser Singular. Und die Hoffnung ist ziemlich gedämpft.
Dagegen stemmt sich der Philosoph Volker Gerhardt mit seinem neuen Buch "Humanität". Das Wort hätte auch mit einem Ausrufezeichen versehen sein können. Denn es handelt sich nicht um eine analytische Untersuchung, sondern um einen Appell und eine Verteidigung. Sein Untertitel lautet: "Über den Geist der Menschheit". Nicht um den einzelnen Menschen geht es hier, sondern um den Begriff der Menschheit, den höchsten Begriff, den die humanistische Tradition zu bieten hat und ohne den es keine allgemeinen Menschenrechte gäbe. Es geht also um viel. Und das macht der Autor auch gleich im Vorwort deutlich:
"Längst ist offenkundig, dass die viel zu eng und sachlich problematisch gewordenen Leitbilder der Nation, der Religion, der Klasse oder der Rasse untauglich sind, weltoffenen Gesellschaften Ziel und Halt zu geben. Sie sind erst recht nicht in der Lage, die existenzielle weltpolitische Wende anzuleiten. Und das es nicht in Zweifel stehen darf, dass alles, was nötig ist, im Interesse und im Namen der Menschheit zu erfolgen hat, liegt es nahe, das ethische und politische Handeln unter das Ideal der Humanität zu stellen."
In einer Zeit, in der das Konzept der Nation eine unerwartete Renaissance erlebt, bleibt demnach allein der Begriff der Menschheit übrig, um die Egoismen von Individuen und Gruppen zu überwinden und eine ernsthafte Weltpolitik zu betreiben, die in der Lage ist, die globalen Probleme zu lösen.
Die ethische Gemeinschaft
Mit dieser Sicht bezieht sich Gerhardt maßgeblich auf Kant, der die Menschheit in jedem Individuum als gegeben ansah. Denn bei seiner Selbstbestimmung setzt sich jedes Individuum mit allen anderen Individuen in Beziehung, die das Gleiche tun. Mit dem Begriff der Menschheit sind somit nicht bloß alle existierenden Menschen bezeichnet, sondern eine ethische Gemeinschaft, auf die sich die Einzelnen normativ in ihren Handlungen beziehen.
Allerdings weiß auch Gerhardt sehr genau, dass diese Konzeption der Menschheit in den letzten Jahrzehnten stark in die Kritik geraten ist. Denn das Problem, das Kant nicht weiter verfolgt hat, besteht darin, dass die Abgrenzung der Menschen von anderen Lebewesen gerade dann besonders strikt ausfallen muss, wenn der Mensch zur alleinigen Quelle des ethischen Handelns wird. Im Unterschied zum Gedanken der Schöpfung werden dann alle anderen Lebewesen auf der Erde zu Sachen. Insbesondere die Epoche der Aufklärung, die Kant wie kein anderer philosophisch zum Ausdruck gebracht hat, steht für eine Versachlichung der Natur, die vom Menschen in Besitz genommen werden darf.
Für viele Kritiker ist der Humanismus aus diesem Grund in genau die Probleme verstrickt, die seine Verteidiger mit der Anrufung der Menschheit zu lösen versprechen. Sie plädieren daher für einen Posthumanismus, in dem nicht nur den Menschen, sondern auch den Tieren und den Pflanzen ihre eigenen Rechte zustehen. Das Schlagwort dieser Kritiker lautet: Speziesismus. Auf diese Kritik einzugehen, ist eines der Hauptanliegen des Buches:
"Umso kurioser ist das Tabu, das im Zeichen des 'Anti-Speziesismus' über den Humanismus verhängt wird. Die Umkehrung wäre besser begründet: Nämlich eine Berufung auf den Humanismus, der es nicht zulassen kann, dass Tiere gequält, Urwälder gerodet, Böden verseucht, die Luft verpestet oder Meere vergiftet werden – erst recht nicht, wenn befürchtet werden muss, das mit alledem auch menschliches Leben verunmöglicht wird."
Zurecht weist Gerhardt darauf hin, dass die Kritiker des Humanismus dies meist im Namen eines verbesserten Humanismus tun, auch wenn sie ihn nicht mehr so nennen. Selbst die, die vorgeben, sich in andere Lebewesen hineinzuversetzen, machen das letztlich immer nur aus ihrer eigenen Sicht. Aus der Begrenztheit der eigenen Perspektive gibt es keinen Ausweg.
Jenseits des Humanismus
Wer dagegen, wie der australische Philosoph Peter Singer, die humanistische Idee wirklich aufgeben will, muss dann auch damit leben, dass die Tierrechte auf Kosten der Menschenrechte gehen. Sein umstrittener Vorschlag, die Verteilung der Rechte an die Zuschreibung von Schmerzempfinden zu binden, führt konsequenterweise dazu, dass nicht nur die Rechte von Tieren aufgewertet, sondern auch die Rechte von Menschen in bestimmten Zuständen abgewertet werden. Ungeborenem Leben oder kranken Menschen kämen dann unter Umständen weniger Rechte zu als gesunden Menschen. Damit wäre nicht nur die Menschenwürde in ihrer Universalität in Frage gestellt. Auch das humanistische Kernanliegen der Verpflichtung des Einzelnen auf die ethische Gemeinschaft wäre obsolet. Denn wenn es ein objektives Kriterium gäbe, um die Würde der Lebewesen festzustellen, wäre es nicht mehr nötig, diese Verpflichtung als Auftrag zu begreifen. Aber gerade darauf kommt es Gerhardt an, wenn er nicht nur im Horizont zukünftiger Möglichkeiten der synthetischen Biologie, neue Lebewesen zu erzeugen, sondern auch angesichts der anhaltenden Umweltzerstörung festhält, dass sich dieser Verantwortung niemand entziehen kann:
"Das Neue in der Lage des modernen Menschen besteht nur darin, dass jeder Einzelne, stärker als das jemals zuvor der Fall gewesen sein dürfte, nicht nur für seine Existenz als Individuum, sondern auch für die der Menschheit Verantwortung trägt. So ist die Humanität das Schicksal, das aus der Selbstbestimmung des Menschen folgt und ihn zur Verantwortung für das seiner Wirksamkeit zugängliche Ganze verpflichtet."
Volker Gerhardt hat ein profundes Buch geschrieben, das nicht nur gut lesbar ist, sondern die Debatte um den Humanismus neu entfachen wird. Auf die Reaktionen darf man gespannt sein.
Volker Gerhardt: "Humanität. Über den Geist der Menschheit"
Verlag C.H. Beck, München. 314 Seiten, 32 Euro.