Freitag, 19. April 2024

Archiv

Volker Reinhardt: "Die Macht der Seuche"
Tödliche Luftschwaden

Die Pest-Epidemie, die Europa im 14. Jahrhundert heimsuchte, war für die Menschen jener Zeit ein furchtbares Ereignis. Ganze Landstriche wurden entvölkert. Der Historiker und Renaissance-Experte Volker Reinhardt zeigt in seinem neuen Buch, welche gesellschaftlichen Auswirkungen die Seuche hatte.

Von Holger Heimann | 02.02.2021
Collage: Vordergrund- Buchcover "Die Macht der Seuche" // Hintergrund: Stockimage
Die Pest des Mittelalters als Folie für die heutige Pandemie? (C. H. Beck)
Seit die Corona-Pandemie uns mit immer neuen Ungewissheiten konfrontiert, ist die Sehnsucht nach Schutz und Orientierung groß. Es liegt daher nah, auf andere Epidemien zu schauen, auf die Große Pest zum Beispiel, die Europa im 14. Jahrhundert heimsuchte. Die Berichte über das Leben und Sterben der Menschen im Mittelalter werden seit dem März vergangenen Jahres mit anderen Augen gelesen. Aber keiner hat sie wohl so gründlich studiert wie der Historiker Volker Reinhardt.
"Ich habe versucht, an alte Quellen neue Fragen zu richten. Diese Fragen richten sich vor allem auf die Art und Weise, wie Menschen mit dieser Krise umgegangen sind, wie sie darauf reagieren, wie sie Sinn daraus zu filtern versuchen, welche Überlebensökonomie dahintersteht. Es war eine spannende Erfahrung, auf diese Weise Kontakt mit Menschen des 14. Jahrhunderts aufzunehmen und dabei sehr viel Fremdes festzustellen, aber auch sehr viel Ähnliches."

Ungünstige Konstellation der Gestirne

Ein Drittel der Europäer, so wird geschätzt, fiel der Seuche zum Opfer. Das Entsetzen der Menschen jener Zeit über die unbekannte und zumeist tödlich verlaufende Erkrankung wurde noch dadurch verstärkt, dass es keine Heilmittel gab. Als Ursache machten Ärzte und Theologen eine unheilvolle Konstellation der Gestirne aus. Ein Schutz schien mithin unmöglich. Das Pestbakterium wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt. Trotzdem kritisiert Reinhardt Versäumnisse:
"Dass die präzise Bestimmung des Erregers und der Modalitäten seiner Bekämpfung eine Revolution der Wissenschaften und des Wissens voraussetzte und deshalb um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts undenkbar war, versteht sich von selbst. Doch das gilt nicht für eine systematische Beobachtung der Ansteckungsumstände, die durchaus Flöhe als Primärüberträger der Seuche hätte ausfindig machen können."
Reinhardt konzentriert sich zunächst auf Italien. Denn hier wütete die Seuche, die wie das Corona-Virus aus Asien eingeschleppt wurde, auf dem europäischen Kontinent zuerst und am verheerendsten. Außerdem seien die italienischen Quellen die ergiebigsten. Er zitiert ausführlich aus Augenzeugenberichten und Erzählungen von Zeitgenossen. Aber er fragt auch, wie verlässlich die Berichte sind. Hat Giovanni Boccaccio das in seiner Novellensammlung "Das Dekameron" eindrucksvoll Geschilderte wirklich mit eigenen Augen gesehen oder nur ältere Aufzeichnungen benutzt und literarisch überformt? Aus der Feder des Florentiner Dichters stammt zweifellos die bekannteste Schilderung der Pest:
"Keine Frau, die krank wurde, und sei sie noch so lieblich, schön oder vornehm, kümmerte sich jetzt noch im Geringsten darum, ob ihr ein Mann, egal ob jung oder alt oder wie auch immer beschaffen, zu Diensten war; und sie fanden nichts dabei, diesem jeden Teil ihres Körpers aufzudecken, wenn es nur die Notwendigkeit der Krankheit verlangte, so wie sie es gegenüber einer Frau gemacht hätten."

Die Ausnahme Mailand

Übereinstimmend berichten Zeitzeugen von einem Sittenverfall. Wenn es um Leben und Tod geht, werden herkömmliche Moralregeln außer Kraft gesetzt. Pestkranke konnten von Glück reden, wenn sich überhaupt jemand um sie kümmerte. Oft wurden sie gemieden – auch von ihren Verwandten. Systematische Quarantänemaßnahmen jedoch waren selten. Eine Ausnahme bildete Mailand. Dem Alleinherrscher der Stadt namens Luchino Visconti, einem Vorfahren des gleichnamigen bekannten Theaterregisseurs, gelang es, die Seuche fernzuhalten.
"Eine der erstaunlichsten Leistungen dieser Zeit durch konsequente Abschottung der Stadt. Er muss auch schon präventiv gehandelt haben, er muss Vorräte angelegt haben, sonst wäre eine solche große Stadt gar nicht zu versorgen gewesen. Waren, Menschen werden rigoros ferngehalten, wenn sie auch nur unter Ansteckungsverdacht stehen. Diese Leistung ist umso erstaunlicher, als sie der offiziellen Erklärung widerspricht. Die offizielle Erklärung ist: Gott straft und zwar dadurch, dass die Planeten in einer ungünstigen Konjunktion zueinander stehen. Das erzeugt tödliche Luftschwaden, die auf die Erde niederfallen und die Menschen flächendeckend vernichten. Dann hätte diese tödliche Luft aber auch in Mailand einfallen müssen."
Die große Rettungstat ist in Italien bis heute unvergessen. In Blogs und Tweets wurde während der Corona-Krise im Frühjahr inständig nach einem zweiten Luchino Visconti gerufen. Die Sehnsucht zahlreicher Menschen nach Autoritäten ist nicht die einzige Parallele, die Reinhardt zwischen dem 14. Jahrhundert und der Gegenwart ausmacht.

Klopapier und Mammutfleisch

"Panikreaktionen gehören dazu, das Unbekannte, das in solchen Infektionen hervortritt, ist für den Homo Sapiens eine erschreckende Erfahrung. Das geht ganz sicher in Urzeiten zurück. Man könnte fast sagen, das ist in unserer DNA angelegt. Ebenso einige wichtige daraus folgende Reaktionsweisen: Sich zu schützen, sich gewissermaßen in Steinzeitanalogie in der eigenen Höhle zu verschanzen – mit Klopapier, vor 10.000 Jahren wahrscheinlich eher mit Mammutfleisch. Und auch nach Schuldigen zu suchen. Das tritt in älteren Pandemiezeiten deutlicher zutage als heute, die Frage nach dem Sinn, nach der Ursache. Vor allem die Notwendigkeit, etwas zu tun. Was Menschen in Krisenzeiten am allerwenigsten erstragen ist Tatenlosigkeit."
Bei der Suche nach Schuldigen glaubte im 14. Jahrhundert ein aufgebrachter Mob, rasch fündig zu werden. Die Wut der verzweifelten Menschen richtete sich hauptsächlich gegen Juden, denen vorgeworfen wurde, Quellen und Brunnen vergiftet zu haben. Vor allem in den Städten des Heiligen Römischen Reiches, wie Straßburg und Würzburg, kam es zu Pogromen, die zahlreiche Opfer forderten. Andernorts beging die jüdische Bevölkerung Selbstmord, um nicht lebend in die Hände der aufgebrachten Menge zu fallen. Die weltlichen und kirchlichen Machthaber schafften es häufig nicht mehr, Minderheiten zu schützen und die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Folgen des Autoritätsverlustes waren umfassend:
"Wenn die Obrigkeiten versagen, und als Versager werden vor allem die Männer der Kirche in dieser Zeit angesehen, dann nimmt man die Dinge in Gottes Namen selber in die Hand, also etwa durch Geißlerumzüge oder Büßer, die sich den Körper blutig schlagen, um Gott milde zu stimmen, weil die Kirche offenbar die Vermittlung zu Gott nicht mehr schafft."
Die Erfahrung gesellschaftlicher Unordnung wirkte nach: Während die einen sich nach vermeintlich guten alten Zeiten zurücksehnten, orientierten sich die anderen neu und nutzten angesichts der Entvölkerung zuvor nie dagewesene Aufstiegschancen. Die Große Pest habe gesellschaftlichen Wandel vorangetrieben und Entwicklungen beschleunigt, analysiert Reinhardt, einen neuen Menschen habe sie jedoch nicht hervorgebracht. Zwar hofften während der Pestepidemie viele, dass die Überlebenden nach den furchtbaren Erfahrungen geläutert und gebessert sein würden. Wenig später schien Beobachtern die Welt jedoch noch schlechter geworden zu sein. Volker Reinhardt hält in seinem klugen, instruktiven Buch fest, dass weder das eine noch das andere zutrifft. Die Geschichte der Pest und anderer großer Seuchen spreche dafür, dass auch die Corona-Pandemie keine neue Epoche einleiten werde. Der vielfach prophezeite Systemumbruch wird wohl auf sich warten lassen.
Volker Reinhardt: "Die Macht der Seuche.
Wie die Große Pest die Welt veränderte. 1347 – 1353"
C.H.Beck Verlag, München. 256 Seiten, 24 Euro.