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Volker Stanzel
"Die ratlose Außenpolitik"

Die deutsche Außenpolitik, jahrzehntelang erfolgsverwöhnt, verlangt nach neuer Orientierung. Das Hauptproblem dabei sei der geringe Rückhalt für außenpolitische Entscheidungen in der Bevölkerung analysiert Volker Stanzel, Vizepräsident der DGAP. Er fordert von der Politik neue Ideen fürs staatliche Handeln.

Von Winfried Dolderer | 13.05.2019
Volker Stanzel war deutscher Botschafter in Japan und China, derzeit arbeitet er bei der Stiftung Wissenschaft und Politik für die Forschungsgruppe Asien.
Volker Stanzel war u.a. deutscher Botschafter in Japan und China. Seit 2018 ist er Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. (picture alliance / dpa)
Ein US-Präsident, der auf die Werte und die Solidarität des Westens pfeift. Ein expansives China, ein aggressives Russland. Flüchtlingskrise, islamistischer Terrorismus sowie in Europa selbst Auflösungserscheinungen und die Welle des Rechtspopulismus. Die Welt sei aus den Fugen, konstatiert der Autor Volker Stanzel:
"Dieses Buch ist der Versuch, aus der Beobachtung deutscher und europäischer Außenpolitik zu lernen. Dabei ergeben sich Schlussfolgerungen für eine moderne Aussenpolitik und generell für Politik in Zeiten zerfallender Öffentlichkeit und neuer gesellschaftlicher Verschiebungen."
Der Japanologe und Sinologe Stanzel ist seit vier Jahrzehnten im außenpolitischen Geschäft. Er war in leitenden Funktionen im Auswärtigen Amt tätig, Botschafter unter anderem in Peking und Tokio, Lehrbeauftragter an Hochschulen in den USA, Japan und in Berlin. Seit 2018 ist er Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Deutschland, so seine Diagnose, habe sich zu lange auf den außenpolitischen Erfolgen der alten Bundesrepublik ausgeruht und so den Anschluss an den globalen Wandel verpasst. Das Hauptversäumnis sieht Stanzel in einem Mangel an europäischer Einbettung deutscher Außenpolitik.
"Menschen lernen aus Erfolgen wie aus Misserfolgen. Wenn aber die Erfolge geradezu einzigartig sind, dann liegt es nahe, die zugrunde liegende politische Strategie konsequent weiter anzuwenden. [...] Die erste Gefahr, die dabei entstand, war die der Selbstüberschätzung."
Veränderte Prioritäten
Westbindung, Aussöhnung mit den einstigen Kriegsgegnern, europäische Einigung, Ostpolitik und nicht zuletzt, alles überwölbend, das transatlantische Verhältnis nennt Stanzel als die Elemente, die das Erfolgsrezept und den außenpolitischen Konsens der alten Bundesrepublik ausmachten. Manche dieser Prämissen sind brüchig geworden. Das transatlantische Verhältnis, bisher Bezugsrahmen jeglichen deutschen außenpolitischen Handelns, habe unter der Veränderung der Prioritäten beim amerikanischen Partner gelitten. Der europäische Pfeiler indes sei schwächer geworden, weil die deutsche Seite selbst ihre Prioritäten geändert habe. Sie habe seit einigen Jahren oftmals mehr auf deutsche Führung in Europa als auf europäische Lösungen gesetzt, kritisiert Stanzel.
Als Bruchpunkt sieht er die Finanz- und Eurokrise. Damals sei die politische Initiative von den europäischen Institutionen auf die nationalen Regierungen übergegangen, unter denen die deutsche den Ton angegeben habe. Sie sei in der Folge, meint der Autor, der Verführung zu übergroßer Selbstsicherheit erlegen. Stanzel hält wenig vom Streben nach einem ständigen deutschen Sitz im Weltsicherheitsrat. Er kann auch einem Selbstverständnis Deutschlands als "Gestaltungsmacht" auf der Weltbühne nichts abgewinnen, von dem einige Jahre lang im Auswärtigen Amt die Rede war. In der heutigen Welt stoße die einst erfolgreiche deutsche Außenpolitik an ihre Grenze.
"Der Weg zu einer zeitgemäßen, einflussstarken und zugleich vertrauenswürdigen deutschen Außenpolitik führt nur über die Bündelung der Kraft aller Mitgliedsstaaten in der Union."
Globale Migration als Angstfaktor
Breiten Raum widmet der Autor der Digitalisierung, der auch durch sie bewirkten Fragmentierung der Gesellschaft in unterschiedliche Teilöffentlichkeiten und den diversen aktuellen Formen des Bürgerprotests. Er sieht darin nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance für einen neuen außenpolitischen Konsens. Er zitiert eine Umfrage aus dem vergangenen Jahr, der zufolge damals die Hauptsorge der Deutschen der Gefährdung der Welt durch die Politik Donald Trumps galt, gefolgt von Ängsten vor der globalen Migration. Für Stanzel bedeutet dies, dass originär außenpolitische Fragen nach langer Zeit wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt sind.
In dieselbe Richtung weisen, wie Stanzel meint, die Demonstrationen gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg, der letztlich erfolgreiche Protest gegen das transatlantische Handelsabkommen TTIP, die proeuropäischen Pulse-of-Europe-Kundgebungen. Als gemeinsames Motiv sieht er die Sorge um den Zustand der Welt.
"Die deutsche Außenpolitik ist direktes Ziel der sich von ihren Auswirkungen betroffen fühlenden Bürger. [...] Pegida, Occupy, Walfang-Proteste – sie sind nur einige der Foren, mit denen Bürger Mitsprache in außenpolitischen Angelegenheiten fordern."
Sollte nicht, fragt Stanzel, die Politik das Gespräch mit diesen Bürgern suchen und sie zur Teilhabe heranziehen? Wäre das nicht der Weg zu einem neuen außenpolitischen Konsens? Wie aussichtsreich ein solches Unterfangen wäre, bleibt freilich offen. So einleuchtend Stanzels Befunde und Schlussfolgerungen erscheinen, so oft fragt sich doch der Leser, wie die Kluft zwischen den als wünschenswert skizzierten Perspektiven und der europäischen Realität zu überbrücken ist. Es ist ein Buch zum Diskutieren und Weiterdenken, das der Autor vorgelegt hat.
Volker Stanzel: "Die ratlose Außenpolitik und warum sie den Rückhalt der Gesellschaft braucht",
Dietz Verlag, 256 Seiten, 26 Euro.