Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Vom Aasfresser zum intelligenten Menschen

Auch in Fachkreisen galt der steinzeitliche Urmensch Homo erectus lange als dummer und tumber Aasfresser. Das hat sich geändert. Im niedersächsischen Schöningen stießen Wissenschaftler auf eine Sensation: die ältesten Jagdwaffen der Menschheit, hinterlassen an einem ehemaligen Seeufer.

Von Barbara Weber | 20.12.2007
    Hier hatten steinzeitliche Urmenschen vor rund 400.000 Jahren Jagd auf eine Herde von Wildpferden gemacht und ihre Waffen hinterlassen: fantastisch gearbeitete Holzspeere.

    Die im Zuge des Braunkohletagebaus gefundenen Wurfspeere lassen nur einen Schluss zu: Schon Homo erectus besaß große intellektuelle Fähigkeiten. Die Schöninger Speere werden jetzt erstmals in einer großen Landesausstellung gezeigt, zusammen mit anderen gefundenen Objekten. Barbara Weber sprach mit Wissenschaftlern des niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege.


    " Ich werde auch diesen Moment nie vergessen, weil ihnen ist klar: Sie haben in der Welt einzigartige Waffen entdeckt, die es bisher nicht gab, man konnte ja sehen, dass das Wurfspeere waren und keine Stoßlanzen - und Sie können sich vorstellen, als die Objekte dann ans Tageslicht kamen aus den fest verpressten Sedimenten. "

    So Dr. Hartmut Thieme, staatliche Denkmalpflege Niedersachsen.

    " Ich weiß noch genau, wie es mir damals ging, ich war im Grunde in meiner Persönlichkeit gespalten. Eine Hälfte wusste, es ist was völlig Atemberaubendes, was wir haben, die andere Hälfte, die musste pausenlos sagen: Du darfst keine Fehler machen. "

    Fünf Tage die Woche, Tag und Nacht, frisst der riesige, monströse Bagger Schneisen durch die Erde, um Braunkohle zu bergen. Den Wissenschaftlern bleibt nur eine Chance für ihre Grabungsarbeiten: das Zeitfenster zwischen dem Tagebauvortrieb und der landwirtschaftlichen Nutzung der Flächen.

    Sie werden fündig und entdecken Grundrisse von Tausenden von Jahren alten Gebäuden, von fast hundert Bestattungen, von Gefäßen und Gebrauchsgegenständen, und man muss sich vorstellen, wir machen einen Zeitsprung, hundert Mal so weit zurück, das bedeutet, dass wir hier Fundstellen, die zehn bis fünfzehn Meter tief verborgen lagen unter der Geländeoberfläche, aus dem mittleren Eiszeitalter und vierhundert und fünfhundert Tausend Jahre alt sind, hier im Tagebauvorfeld seit 1992 entdeckt haben und seitdem ununterbrochen ausgraben.

    Dort, wo der Bagger heute gräbt, lag vor 400.000 Jahren ein Seebecken, entstanden über Jahrtausende durch ein fließendes Gewässer. An seinem Ufer pulsierte das Leben. So sind in einer unglaublichen Fülle, organische Materialien erhalten geblieben: Früchte und Samen von Pflanzen, Kleinsäugerreste, Fische, Frösche, Vögel, Eierschalen von Wasservögeln, was Sie sich vorstellen können. Ich sag' immer ganz salopp, bis hin zum Fliegenbein haben wir dort alles überliefert in diesen Schichtenfolgen ... haben in diesen Abfolgen, die uns ermöglichen, Naturumwelt des Menschen in diesen frühen Zeiten sehr komplex zu rekonstruieren und sehr hochauflösend. Also ganz spannende Fragen, die damit auch einhergehen: Wie ist so eine Warmzeit, aus der zum Beispiel die ältesten Speere, die ältesten Jagdwaffen der Menschheit, auch geborgen sind? ... Wie ist diese Landschaft zu rekonstruieren für die jeweiligen Zeiten, an denen Menschen sich an diesen uralten Seeuferrändern aufgehalten haben, hier in diesem speziellen Fall zur Jagd?

    Auf einige dieser Fragen wissen die Wissenschaftler heute eine Antwort. So gibt die Vegetation auch Auskunft darüber, welche klimatischen Verhältnisse herrschten:

    " In diesem Niveau befinden wir uns schon am Ende einer neuen Warmzeit, einer Warmzeit, die wir vorher im Eiszeitalter auch gar nicht kannten. Und da war das Klima schon relativ abgekühlt.

    Wir sind nicht eine Minute vor aber vielleicht ein paar Tausend Jahre oder vielleicht fünfhundert Jahre vor einer nächsten Kaltzeit. Das heißt, die Landschaft war offen zu dieser Zeit. Es gab keinen geschlossenen Laubmischwald mehr, sondern es war eine Wald- und Wiesensteppenlandschaft mit Birken, Kiefern und Fichten darin, locker bestanden, und darin die großen Grasfresserherden wie Wildpferde zum Beispiel. Deshalb sind, wie in diesem Fall, die Jagdwaffen, auch nicht aus Eibenholz gemacht, also ein sehr hartes Holz hier in unserer Landschaft, ... das ...mehrere Tausend Jahre früher existiert hat, aber hier unter diesen kühlen Klimabedingungen gar nicht mehr wachsen konnte. Diese Waffen sind aus Fichtenbäumchen gemacht, also aus dem Holz, das tatsächlich auch in dieser ... klimatisch weit fortgeschrittenen Phase dieser Warmzeit dort gewachsen ist.
    "

    Schon die Entdeckung einer neuen Warmzeit ist ein schöner Erfolg. Doch der Fund, der sich den Wissenschaftlern dann präsentiert, verblüfft doch alle. Dr. Henning Haßmann, Leiter des Referats Archäologie am Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege:

    " Das Bedeutende ist, dass wir hier einen kompletten Lagerplatz haben mit Feuerstellen, mit den Resten der Jagdbeute aber auch mit den Waffen, die man dort zurückgelassen hat. Das Bemerkenswerte ist, dass durch den Anstieg des Wasserspiegels dieses Sees, an dessen Ufer die Jäger gerastet haben, diese Fundstelle sehr schnell unter Luftabschluss geraten ist und dann in den späteren Jahrhunderttausenden immer weiter zugedeckt wurde, so dass wir dort ... Hölzer, Knochen erhalten haben, die sonst nach wenigen Jahren vergehen würden. "

    Dieser fantastische Fund wurde jetzt für eine Ausstellung aufbereitet. Hartmut Thieme steht in dem Raum, in dem eine der bedeutendsten Entdeckungen der Steinzeit präsentiert wird:

    " Hier sind in einem Raum vier von mindestens insgesamt acht dieser Wurfspeere aus Schöningen ausgestellt. Sie liegen in destilliertem Wasser, also wenn man so will, in ihrem ursprünglichen Niveau in Feuchtigkeit, damit dem Zerfall des Holzes auch im weiteren Einhalt geboten ist. Es sind Jagdwaffen, die zwischen - der kleinste Speer ist 1,80 Meter lang, der größte 2,50 aber sie haben durchschnittliche Längen von etwa 2,30 Meter und sind exzellent herausgearbeitet aus Fichtenstämmchen mit lang ausgezogenen Spitzen, die man aus dem Basisbereich der Stämmchen herausgearbeitet hat, aus 60-70 Zentimeter Länge und enden in einer haarnadelfeinen Spitze. "

    Was die Wissenschaftler verblüffte, waren die exzellenten Wurf- und Flugeigenschaf-ten der steinzeitlichen Jagdspeere. Das mag auch daran liegen, dass ihre Proportionen mit denen heutiger Damenwettkampfspeere verglichen werden können.

    " Die Sportwissenschaft hat damit Versuche gemacht, natürlich nicht mit den Originalen, sondern mit Nachbauten, und hat daran ablesen können, wie exzellent diese Jagdwaffen ballistisch austariert waren. Die haben tatsächlich erreichen können, mit heutigen Speerwerfern wohlgemerkt, nicht mit Jägern, Weiten von 70-80 Metern, so dass man da ganz locker auch sogar an Olympiaden mit hätte teilnehmen können. "

    Im Zusammenhang mit den Speeren entdeckten die Ausgräber Skelette einer kompletten Wildpferdherde. Die Tiere besaßen eine Widerristhöhe von über 1,50 Meter, zählten also zu den Großen ihrer Gattung. Gefunden wurden Pferde unterschiedlicher Altersstufen: Hengste, Stuten, Jungtiere. Die Skelette der Jungtiere lassen den Rückschluss zu, dass die Jagd im Herbst stattgefunden haben muss, weil auch im Frühjahr geborene Jungtiere dabei waren.


    " Ich kann noch nicht genau sagen, wie viele Pferde es tatsächlich waren. Wir haben mindestens 20, weil - und ein solches Objekt ist auch hier in der Ausstellung zu sehen, ein mächtiger Schädel eines Wildpferdes, eines Hengstes, aber, wir haben nicht nur diesen einen - sondern wir haben insgesamt 20 komplette Pferdeschädel, was auch in der Altsteinzeit völlig ungewöhnlich ist, die sind nicht zerlegt worden, und man kann natürlich ganz salopp sagen, vielleicht war es nicht nötig, auch die Unterkiefer aufzuschlagen, um dort nahrhafte Mark herauszuholen, weil man ja genügend Fleisch hatte. "

    Auch eine andere Schlussfolgerung ist denkbar, meint Hartmut Thieme:

    " Man könnte natürlich auch genauso daran denken, auch wenn man es nicht beweisen wird können, dass vielleicht damit einhergeht auch eine respektvolle Behandlung dieser Tiere. Wir müssen ja auch versuchen, etwas mehr als über das alltägliche Leben dieser frühen Menschen herauszufinden und vielleicht sogar mit so einem tollen Befund, wie wir den hier in Schöningen haben, auch über die geistigen Vorstellungen dieser Menschen zu erfahren. "

    Möglich wären auch Jagdrituale,


    " die vielleicht bei diesen frühen Menschen schon vorhanden waren: Also die Pferde, deren Geist praktisch durch die Jagd um ihren Körper beraubt waren, wieder zu versöhnen. Und in diesen Kontext: ... Warum sind diese Jagdwaffen dort inmitten dieser Schlachtabfallzone überhaupt liegen geblieben? Warum hat man, die waren ja nicht zerstört, die sind erst durch postsedimentäre Prozesse gebrochen oder auch zusammengedrückt, aber man hätte, selbst wenn sie Schaden genommen hätten, aus den Objekten, in die ja viel Arbeit investiert ist, noch etwas anderes fertigen können, hat man aber nicht gemacht. Es ist eine ganze Kollektion von Wurfspeeren dort liegen geblieben, und das könnte auch in diesem Kontext, frühe Jagdrituale zu stellen sein, man durfte vielleicht, beweisen können wir es nicht, aber man durfte vielleicht Waffen nicht wieder benutzen, die getötet hatten, um den Geist der Pferde vielleicht wieder zu versöhnen oder auch um künftiges Jagdunglück zu vermeiden, Waffen wieder zu benutzen, die getötet hatten. "


    Was war das für ein Mensch, der da auf die Jagd ging? Wo kommt dieser Urmensch her? Afrikanische Funde deuten darauf hin, dass Homo erectus schon vor 1,8 Millionen Jahren lebte. Es gibt Funde in Asien, im Kaukasus und in Europa.

    " Es gibt einen neuen Urmenschenfund aus der Nähe von Hannover, der nun nach Einschätzung der Anthropologen darauf hinweist, dass hier ein asiatischer Einfluss zu erkennen ist. Das wäre also sehr interessant für die Diskussion: Wo kommt dieser Urmensch eigentlich her? Kommt er aus Afrika oder kommt er aus Asien oder hat er sich hier vielleicht selbst so weit entwickelt? "

    Die Antwort auf diese Frage ist schwierig, meint Henning Haßmann, denn:

    " Wir müssen ja davon ausgehen, dass wir nur sehr wenige Homo erectus Funde überhaupt haben weltweit, das könnte so sein, dass die Urmenschen aus Afrika tatsächlich Richtung Europa wandern. Es kann jetzt sein, dass sie von Europa nach Asien wandern und dann wieder zurück wandern. Es kann aber auch sein, dass hier durchaus autochthone Entwicklungen in Europa stattgefunden haben. "

    In Schöningen wurden keine Überreste des Urmenschen gefunden, aber etwa 100 Kilometer südlich in Bilzingsleben.: Dort konnte Prof. Dietrich Mania 29 Schädelartefakte bergen. Bei der Rekonstruktion entdeckten die Wissenschaftler große Ähnlichkeit in Form und Proportionen mit den Schädelfunden des ostasiatischen Homo erectus von Peking und Java. Neben den Schädelfragmenten fanden die Archäologen in Bilzingsleben einen Lagerplatz mit den Grundriss-Strukturen einfacher Wohnbauten, mit Arbeitsplätzen, Feuerstellen und einem gepflasterten Platz. Absolut vergleichbar sind die Steinwerkzeuge. 15 der dort gefundenen Stücke ähneln denen von Schöningen so sehr, dass sie nicht voneinander unterscheidbar sind.

    Was das für Menschen waren, die vor 400.000 Jahren hier lebten, Wohnbauten errichteten, Werkzeuge herstellten und mit Präzisionswaffen Wildpferde jagten, erläutert Hartmut Thieme:

    " Ich möchte das an einem kleinen Beispiel, also dem plakativsten, kurz erläutern, dem Jagdgeschehen selbst. Sie müssen sich eindecken, um eine solche Jagd zu organisieren, natürlich mit den entsprechenden Jagdwaffen, die wir vorher nicht kannten. Also: Das Bäume fällen, das Zurichten komplexer Jagdwaffen, die exzellent funktionieren. Sie müssen ein fertiges Bild als Symbol im Kopf haben, wenn Sie sich in der Landschaft so einen Fichtenbaum ausgucken, aus dem eine solche hocheffiziente Jagdwaffe entstehen soll. Das ist als Bild und als Funktionsträger mit allem, was dazu gehört, ja völlig fertig. "

    " Wenn so ein hochdramatisches Jagdgeschehen, nämlich ganz gezielt Jagd auf eine ganze Pferdeherde zu machen, die ja mindestens zwanzig Köpfe umfasste, das muss auf die Sekunde genau ablaufen. Das heißt, sie müssen alles genau absprechen, denn eine Sekunde Fehllauf, und die Herde ist weg. Es ist schnelles, flüchtiges Herdenwild. Da haben Sie keine Chance, hinterher zu kommen. Also entweder es funktioniert, oder es funktioniert nicht. Also: hochauflösende Absprache, es macht ja nicht ein Jäger, es müssen ja mindestens vielleicht zehn gewesen sein, die so einen Jagderfolg herbeiführen konnten. "

    " Mit der Jagd ist ja das hochauflösende soziale Geflecht, was auch damit einhergeht, nicht abgeschlossen, sondern dann beginnt das Zerlegen der Jagdbeute, das heißt, die Jäger wussten oder hatten abgesprochen: Jetzt muss die Gruppe nachrücken. Die sind ja nicht dabei gewesen, die Alten, die Kinder, die Frauen, vielleicht waren auch Frauen unter den Jägern, das wissen wir nicht. Aber jetzt beginnt das Zerlegen der Jagdbeute. Alles muss ja zeitnah in ein, zwei Tagen auch verarbeitet sein. Man wird sicherlich die Felle genutzt haben, man muss das Fleisch, und wir haben einen Bratspieß auch gefunden, einen 90 Zentimeter langen Holzstab, der an einem Ende angekohlt ist, die Nahrung zubereiten, das heißt natürlich, um sich natürlich erst zu sättigen. "

    " Aber wir müssen auch daran denken, wenn so viel Fleisch angefallen ist von zwanzig Pferden, ist das an den Feuerstellen, die wir in Schöningen auch haben, geröstet, geräuchert oder das Fleisch in Streifen geschnitten, an der Luft getrocknet als Vorrat für den Winter angelegt worden. Dann der nächste Aspekt, der danach kommt, sie richten sich damit auch für den Winter ein, sie müssen Hütten bauen, sie können ein paar Monate jetzt etwas sorgenfreier leben, über Gott und die Welt nachdenken, am Lagerfeuer sitzen, Lieder singen, alles das wissen wir nicht, das können wir uns nur vorstellen, und dann kommt noch hinzu, sie müssen auch daran denken...dass vielleicht einher gegangen ist mit diesem ganzen Prozess so was wie Jagdrituale. "

    Alles, was die Wissenschaftler bislang der Zeit des Homo erectus zuschreiben konnten, waren Steinartefakte. Diese Werkzeuge lassen zwar durch Kratzspuren auf Tierknochen den Hinweis zu, dass Fleisch gegessen wurde. Aber der Beweis einer systematischen Jagd, fehlte bislang.

    Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler aus dem Fund von Schöningen ist deshalb eindeutig - so Henning Haßmann:

    " Nach den Befunden, die wir bislang kennen, müssen wir davon ausgehen, dass schon bei Homo erectus Fähigkeiten angelegt waren, die wir noch nicht mal dem Neandertaler zugetraut hätten, und wenn wir beispielsweise das ansehen, was wir normalerweise archäologisch feststellen können, nämlich die Steinwerkzeuge, die einfach die Jahrhunderttausende überlebt haben, dann fällt es uns schwer, anhand der Feuersteinherstellungstechnik, der Werkzeugherstellungstechnik, zu unterscheiden, haben wir hier einen Homo erectus oder haben wir hier einen Neandertaler oder haben wir hier einen Homo sapiens sapiens? ... Im Grunde genommen stellen wir fest, dass auch schon der Homo erectus genauso vorausschauend handeln und denken konnte, wie wir. "