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Vom Abschied aus dem linken Lager

Was haben Stefan Heym, Rudolf Bahro, Wolfgang Leonhardt, Henryk M. Broder und Thilo Sarrazin gemeinsam? Alle haben sich von ihren linken Überzeugungen getrennt. Der "taz"-Redakteur Marco Carini untersucht in einer Studie die Geschichte der Renegaten und ihre Motive für den Gesinnungwandel.

Von Peter Carstens | 04.06.2012
    Der Kommunismus hat im Laufe von hundert Jahren Millionen Opfer gefordert. Unter kommunistischen Regimen sind mehr Menschen inhaftiert, gefoltert und ermordet worden, als unter jeder anderen Regierungsform. Gläubige Anhänger halten die Diktatur des Proletariats trotzdem für eine menschliche und am Ende paradiesische Lebensform.

    Der Weg dorthin ist, na gut, mühsam. Und die Umstände können es noch heute erfordern, Gegner zumindest politisch hinzurichten. Hierzulande durfte man das zuletzt beim Führungskrieg in der Partei "Die Linke" mitverfolgen. Doch gab es seit Lenins Herrschaft immer wieder Abtrünnige, die nicht nur vom Glauben abfielen, sondern das auch überlebten.

    Marco Carini, der selbst aus hanseatischem Wohlstandsmilieu stammt - und später für die "taz" arbeitet - hat eine Porträtsammlung deutscher Renegaten und Dissidenten zusammengestellt. In seinem Buch "Die "Achse der Abtrünnigen" beschreibt er Lebensläufe und Sinneswandel von Renegaten, die zunächst dem Kommunismus anhingen, ehe sie sein alltägliches Wesen erkannten und fortan davor warnten. Der Osteuropa-Experte Wolfgang Leonhard, der Schriftsteller Alfred Kantorowitz und der Chemiker Robert Havemann gehören dazu: Männer, die den Stalinismus kannten, die Nazis erlitten oder den einstigen SED-Chef Walter Ulbricht erlebt haben. Carini schildert sie in jeweils eigenen Kurzkapiteln. Und er tut es, wie bei Rudolf Bahro oder Stefan Heym mit Nachsicht und einer Prise Ehrfurcht. Der Autor, fünfzig Jahre alt, begründet das selbst so:

    Jemand der später geboren wurde, sollte behutsam bei der inhaltlichen Kritik an Personen sein, deren Weltsicht von existenziellen Lebenserfahrungen und sowjetischen Arbeits- oder nazideutschen Konzentrationslagern oder einem Leben unter existenzbedrohender Verfolgung geprägt wurde.

    Diese Behutsamkeit lässt der politisch links orientierte Carini aber beiseite, sobald er sich seinen Zeitgenossen nähert. Man kann sagen: Je jünger der "Renegat", desto drastischer Carinis Urteil. Der Liedermacher Wolf Biermann, der Journalist P Henryk M. Broder oder der Historiker Götz Aly: Sie standen einmal links und wettern heute gegen "die Linke". Sie alle werden von Carini meinungsfreudig abgewickelt. Geradezu impulsiv sind seine Attacken gegen den "Spiegel-Autor" Jan Fleischhauer, der das Buch "Unter Linken" geschrieben hat. Marco Carini hat mit Jan Fleischhauer in Bramfeld die Schulbank geteilt. Noch in seinem Vorwort nennt er ihn "befreundet", um dann aber doch heftig auf ihn einzudreschen. Fast scheint es, als neide der "taz"-Genossenschaftsautor dem "Spiegel"-Aristokraten seinen pfiffig okkupierten Renegatenruhm. Fleischhauer, dessen linke Schreckenserlebnisse sich wesentlich auf eine kindheitliche Mangelernährung an spanischen Franco-Apfelsinen und US-Imperialisten-Cola beschränken, zeichne, so Carini, ein ...

    ... zusammenphantasiertes Zerrbild einer Linken, die wie ein unsichtbarer Geheimbund die Gesellschaft ohne Mandat regiert.

    Das habe ihm, mäkelt Carini, "Ruhm und passable Tantiemen" eingebracht. Die Fehde zwischen den beiden früheren Schulzeitrevolutionären zeigt im Winzigen, wie politischer Sinneswandel unter Linken bis heute nicht verziehen wird. Man bringt sich gegenseitig nicht mehr ins Arbeitslager oder nach Bautzen, aber zumindest in Verruf.

    Ein anderes Beispiel: Weil es dem "väterliche Freund" Ralph Giordano, der jahrelang mit den Carinis Weihnachten feierte, eingefallen ist, den Islam und die hohe Kölner Moschee zu kritisieren sowie Burka-Trägerinnen als "menschliche Pinguine" zu titulieren, sortiert Carini Giordanos Wortwahl als "rassistisches Standardrepertoire" ein. Der Autor beschreibt den fast neunzigjährigen Repräsentanten ungeteilter Humanitas als "alterswild statt altersmild und weder altersweise noch altersleise", als "ein lebendes Denkmal", das sich selbst demontiere. Ähnliche Herabwürdigungen durfte man dieser Tages auch beim Führungsstreit in der einzig verblieben rechtgläubigen sozialistischen Partei "Die Linke" mitverfolgen. "Abscheuliches Renegatengesindel" nannte Lenin einst die Abweichler. Aber was haben die Ex-Linken von gestern uns heute noch zu sagen, fragt Carini und schreibt:

    Die Antwort darauf geben zehn Beispiele für zentrale Diskurse der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart, die die Linken von einst mit lauter Stimme mitgeprägt haben. ( ... ) Während die Renegaten in ihrem Herkunftsmilieu als Verräter galten, waren sie für die Gegenseite oft willkommene Kronzeugen, die es galt zu instrumentalisieren und als Waffe gegen die Welt ihrer politischen Herkunft in Stellung zu bringen.

    Die "Diskurse", wie Carini etwas alt-links Diskussion und Debatten nennt, drehen sich in diesem Milieu um Themen wie den "Dritten Weg", also einer Alternative zu Stalinismus und Kapitalismus, die 68er, die Frage der "Ökologie", den Weltfrieden oder den Islam. Carini beschreibt die Renegaten-Positionen und Visionen in diesen Debatten und erläutert sentimental-nachsichtig etwa die Zukunftsromanzen der Dissidenz-Ikone der DDR, Robert Havemann. Dessen fiktives Land "Utopia", das er 1980 in seinem Buch "Morgen" beschrieb, sah laut Carini etwa so aus:

    Privaten Autoverkehr gibt es nicht mehr, Straßen besitzen Seltenheitswert. ( ... ) Man lebt viel beschaulicher und bescheidener, aber ohne Mangel. Große Städte sind in Utopia unbekannt, die meisten Menschen ernähren sich vegetarisch, der Fleischverbrauch bleibt so gering. ( ... ) Rüstungsindustrie und Werbung sind abgeschafft ( ... ) Genügsamkeit und Verzicht sind keine Tugenden, sondern Voraussetzung von Lebensfreude.

    Soweit Havemanns Utopie, der jeder Schimmer politischer Durchsetzbarkeit fehlte, was Carini zartfühlend als "Schwächen" entschuldigt.

    Immerhin lernt der Leser solcher Schilderungen, das verglichen mit den "Dritte-Weg"-Göttern der damaligen Dissidenz die heutigen "Piraten" oder "Occupy"-Aktivisten von einem geradezu brutalen Realitätssinn erfasst sind. Auch solche Erkenntnisse machen Carinis Buch interessant.

    Selbst wenn seine "Achse der Abtrünnigen" einige Konstruktionsschwächen aufweist, etwa das unproportionierte Nebeneinander von Groß- und Kleinkalibern wie Ernst Bloch und dem Gegenwarts-Philosophen Richard David Precht, bietet es doch eine informative und schwungvolle Fahrt durch die linken Debatten um Krieg, Ökologie und Islam.

    Nebenbei kann man noch ganz praktisch besichtigen, wie Linke dieser Tage noch mit Andersdenkenden umspringen, selbst mit Freunden und geistigen Verwandten. In Carinis Fall sind es der Schulkamerad Jan Fleischhauer und der "väterliche Freund" Ralph Giordano, die der politischen Pointe geopfert werden. Ja, auch insoweit ist Carinis Buch über die Abtrünnigen durchaus ein Bildungserlebnis.


    Marco Carini: Die Achse der Abtrünnigen: Über den Bruch mit der Linken
    Rotbuch Verlag
    286 Seiten, 14,95 Euro
    ISBN: 978-3-867-89148-6