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Vom Auf und Ab der Kurse

Das Schöne an der Börse ist, so sagte der Aktienguru Andre Konstolany einmal, dass man tausend Prozent gewinnen, aber nur hundert Prozent verlieren kann. Angesichts der enormen Chancen und gewaltigen Risiken verwundert es kaum, dass im wissenschaftsgläubigen zwanzigsten Jahrhundert die Beschäftigung mit der Börse einer der vornehmsten Gegenstände der angewandten Mathematik geworden ist. Im einundzwanzigsten Jahrhundert meldet sich nun sogar einer der bekanntesten Mathematiker unserer Zeit zu dem Auf und Ab der Kurse zu Wort. Benoit Mandelbrot:

Von Matthias Eckoldt | 27.09.2005
    "In der Ökonomie ist das große Problem, den Grad der Volatilität, also den Grad der Veränderung verschiedener Phänomene zu bestimmen. Beispielsweise: Ist es richtig, dass sich Baumwoll-Aktien rascher verändern als Hafer-Aktien oder IBM-Aktien oder Siemens-Aktien? Diese Fragen sind sehr entscheidend, wenn Sie verschiedene Aktienzusammstellungen vergleichen wollen. Das herauszufinden ist mein Lebenswerk. "

    Da dachte man bislang doch, das Lebenswerk von Benoit Mandelbrot sei die fraktale Geometrie. Jenes Reich der Apfelmännchen, der sich wiederholenden Muster, der überraschend symmetrischen Strukturen. Jene Welt der Computergrafik, die mit einfachsten Bildungsvorschriften hochkomplexe Gebilde entwirft, mit denen Mandelbrot auf die eigentümlichen Ordnungsstrukturen der Natur hinwies und so die Chaostheorie mit einem mathematischen Fundament ausstattete. Und natürlich bleibt, wie bereits aus dem Titel "Fraktale und Finanzen" zu ersehen, die fraktale Geometrie auch das eigentliche Lebenswerk von Benoit Mandelbrot. Auch wenn er den ersten Teil seines Buches als eine Abrechnung mit der von ihm und seinem Co-Autor – dem Wirtschaftsjournalisten Richard Hudson – so benannten traditionellen Finanzmathematik und ihrem Standardmodell gestaltet.

    Im Kern richtet sich Mandelbrots Kritik am Standardmodell gegen die Verwendung der Gaußschen Glockenkurve zur Berechnung von Aktienkursveränderungen. Die Kurve, die von dem deutschen Mathematiker Carl Friedrich Gauß zur Ermittlung der Normalverteilung vorgeschlagen wurde, macht ihrem Namen alle Ehre, denn sie beschreibt tatsächlich die Form einer idealisierten Glocke. Bestimmt man die Wahrscheinlichkeit der Aktienkursveränderungen an der Börse mit ihrer Hilfe, so kommt heraus, dass es sehr viele kleine Variationen und sehr wenige große Kurssprünge gibt. Doch diese Rechnung will nicht recht auf die Realität des Aktienmarktes passen.

    "Viele Phänomene kann man durch die Glockenkurve sehr gut darstellen. … Aber das Hauptproblem: sie erlaubt nicht, extreme Fälle zu erklären. Wenn es extrem hoch geht oder extrem runter. Nur wenn es ein bisschen hoch und ein bisschen runter geht, eignet sie sich. … Das widerspricht der Realität des Marktes völlig. Die Prozesse erlauben nicht, die besonderen Events, die Ausreißer, zu erklären. Aber an der Börse sind die Ausreißer besonders wichtig. ... Wenn man die letzten zehn Jahre nimmt, sind es nicht die normalen Handelstage, die wichtig sind für große Gewinne und Verluste, sondern sie Tage, an denen es dramatische Ausreißer gab. Also nicht die Tage, die innerhalb der Glockenkurve lagen, sondern die, die außerhalb der Kurve lagen. "

    Mandelbrot ist in seiner Wortwahl nicht fein, wenn es um die Kritik des Standardmodells geht. So bezeichnet er moderne Finanztheorien als Finanzastrologie und setzt das Adjektiv "modern" mit einer Beharrlichkeit in Anführungsstriche, dass man sich an die Schreibgewohnheiten der Springer-Presse erinnert fühlt, die Ähnliches mit dem Wort DDR zu veranstalten nicht müde wurden.

    "Es ist ein kluges Vorurteil des Normalbürgers, die Märkte als riskant anzusehen. Finanztheoretiker sind jedoch nicht so klug. Die "moderne" Finanztheorie gründet sich auf ein paar fragwürdige Mythen, die uns dazu bringen, das wahre Risiko der Finanzmärkte zu unterschätzen. "

    Die moderne Finanzmathematik arbeitet längst nicht mehr allein mit der Gaußsche Glockenkurve. Insofern spricht Mandelbrots teilweise wütende Polemik nicht gerade für ihn.

    Im zweiten Teil des Buches entwickelt Mandelbrot nun sein eigenes Modell. Für den interessierten Laien erweisen sich diese Seiten als wahre Schatzkiste. Mandelbrot gibt eine fabelhafte Einführung in die Fraktale Geometrie, die allein schon ein hinreichender Grund wäre, das Buch zu empfehlen. Diagramme und fraktale Gebilde machen das Geschriebene plastisch. Und der Leser ist bereit, sich auf die Achterbahnfahrt des Dow Jones einzulassen. Mandelbrots Analyse gipfelt in zwei Effekten, für die er mathematische Beschreibungen und biblische Namen gefunden hat. Demnach versteht Mandelbrot unter dem Joseph-Effekt gemäß der Legende, dass Joseph durch die Vorhersage von sieben Hungersjahren Ägypten vor einer Katastrophe bewahrte, das langfristige Gedächtnis der Kurse. Der Noah-Effekt hingegen beschreibt die abrupte Änderung von Kursen. Dem geschulten Auge des fraktalen Mathematikers ist es mithilfe dieser beiden Effekte möglich, regelmäßige Muster in der Unordnung der Kurssprünge zu sehen.

    Bei ersten Anwendungsversuchen kam Mandelbrot zu der überraschenden Einsicht, dass sich Noah- und Joseph-Effekt wechselseitig überlagern. In eher ruhigen Handelsphasen kündigen sich abrupte Kursänderungen an. Und andersherum: Kommt es zu plötzlichen Kurssprüngen, scheint es wiederum so, als ob sich die Aktien gleichsam in der Krise - oder im Höhenflug - an frühere Kursverläufe erinnern. Mandelbrot weist darauf hin, dass sich in diesen Bewegungen selbstähnliche Muster ausbilden. So wie bei einem Blumenkohl, wo jedes kleine Röschen der Gesamtgestalt des Blumenkohls ähnelt, verhält es sich auch an der Börse. In den Handelbewegungen von zwei Stunden sind nach Mandelbrots Modell demnach bis zu hundertachtzig Tagen eingeschrieben.

    Diese Methode müsste ein enormes Potential für das praktische Aktiengeschäft haben. Zusammenstellungen von Portfolios und Risikoabschätzungen müssten mit jenem mathematischen Zoomobjektiv hervorragend funktionieren, da die fraktalen Methode das Langfristige im Aktuellen zu sehen erlaubt. Bislang allerdings haben sich nur zwei Doktoranden von Mandelbrot des fraktalen Börsenmodells angenommen. Unvoreingenommene Prüfungen gibt es also nicht. Auch der Praxistest von Großinvestoren steht noch aus.

    Trotzdem wählte die Financial Times Deutschland "Fraktale und Finanzen" schon mal zum besten Wirtschaftsbuch des Jahres 2004.

    "Der Preis wurde letzten Oktober auf der Frankfurter Buchmesse vergeben. Mein Buch kam erst im August heraus. Das bedeutet, dass es nicht von Anfang an im Rennen war. Ein Komitee hat wohl die anderen Bücher für weniger interessant oder neu befunden. Ich fühle mich sehr geehrt durch diesen Preis.
    Wie auf allen Gebieten, so gibt es auch in der Mathematik die Versuchung, noch ein besseres Buch zu schreiben. Wir haben nicht versucht, in irgendeiner genauen Kategorie zu konkurrieren, z.B. in der Kategorie: "Wie kommt man schnell zu Geld?" … So weiß ich letztlich nicht, warum man das Buch gewählt hat. Wahrscheinlich, weil wir es sich von den anderen Büchern stark unterscheidet."

    Die Financial Times Deutschland selbst begründete ihre Wahl damit, dass sie mit dem Preis den "Kampf des Häretikers um Akzeptanz" würdigen wollte. Und Akzeptanz ist Benoit Mandelbrot und seinem neuesten Buch ganz sicher zu wünschen.