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Vom Badezuber zum Balanceakt

Auf Bergsteiger übt der Piz Palü oberhalb der mondänen Touristenorte Sankt Moritz und Pontresina eine fast magische Anziehungskraft aus. Die Überschreitung aller drei Piz-Palü-Gipfel ist eine anspruchsvolle Bergtour auch für fortgeschrittene Alpinisten.

12.07.2009
    Tourenplanung im Badezuber. Das ist ungewöhnlich. Denn ein Whirlpool, der findet sich nur selten auf Schweizer Berghütten. Doch neben der oberen Station der Diavolezza-Seilbahn an der Berninapasshöhe steht solch ein Trog. Auf knapp 3000 Meter Höhe. Und deswegen beansprucht die Vier-Personen-Wanne auf der Sonnenterasse auch den Titel "höchster Outdoor-Jacuzzi der Welt" für sich.

    Normalerweise ist der metallene Riesenkessel beheizt. Dann feuert der Wirt der Höhenherberge ein kleines Holzöfchen an. Heute aber nicht! Denn angesichts des nahenden Gewitters sieht es der Wirt nicht so gern, dass sich die Gäste im lauen Wasser tummeln.

    La Diavolezza: "Schöne Teufelin". So heißt der Berg, auf dem der Waschzuber steht. Und wer sich an schöneren Tagen wohlig in dem hochalpinen Bassin ausstreckt, der bekommt vielleicht das Märchen zu hören, wie der felsige Kopf zu seinem Namen gekommen ist.
    Da hauste vor vielen, vielen Jahren eine wunderbare Bergfee. Das herrliche Weib wurde nur selten und flüchtig von Jägern erblickt und mit Vorliebe dann bestaunt, wenn sie über die Felsbänder des Munt Pers zum Lej da la Diavolezza hinüberwechselte, um dort ein erfrischendes Bad zu nehmen. Dann allerdings wurden die jungen Jäger ganz vernarrt und unvorsichtig. Sie folgten ihr, die stets von ihrer Gamsherde bewacht war, über die Felsgänge bis hinüber zu ihrem Felsenschloss.

    Was dann dort geschah, das weiß man nicht, man ahnt es nur. Ein Jäger nach dem anderen verschwand am Munt Pers, dem verlorenen Berg. So auch Aratsch, ein stattlicher Jüngling aus dem Dorf. Er kehrte von der Jagd nicht mehr zurück. Überall wurde vergeblich nach ihm gesucht und schließlich musste man annehmen, er sei auch in die Gletscherbrüche am Pers gefallen oder irgendwo abgestürzt. Denn wer bis Einbruch der Nacht sich in der Region des Bernina-Massivs aufhielt, hörte - vom Winde getragen - die Klagestimme der Diavolezza, die ausrief: "Mort ais Aratsch": Aratsch ist tot!


    Morteratsch heißt deswegen bis heute die Alp inmitten der Berninagipfel. So jedenfalls die Sage. Und Morteratsch heißt auch der Gletscher, der von der Diavolezza hinauf zum imposanten Piz-Palü-Massiv zieht. Drei markante Felsgrate reichen aus dem Eiskessel hinauf bis auf fast 4000 Meter Höhe.
    Die dazwischen liegenden Firnwände: Sie haben dem Berg den Beinamen "Silberschloss" eingetragen. Ein Schauspiel, wenn das Abendrot die Wand im letzten Licht erglühen lässt. Ein Panorama, das sich gewaschen hat.

    "Also der Piz Palü mit seinen drei Pfeilern und seinen drei Gipfeln, das ist schon magisch. Man sagt ja auch, das ist ein magischer Berg."

    Gar nicht so zauberhaft: die Weckzeit am Morgen drauf. Um drei Uhr Frühstück.
    Noch im Dunklen um den Piz Trovat herum auf den Pers-Gletscher, dann heißt es Anseilen. Denn schnell geht die Spur in Zickzack über. Windet sich zwischen gigantischen Eisbrocken hindurch, dunkle Löcher tun sich auf. Und manche Firnbrücke über die Gletscherspalten scheint den Gefährten arg dünn.
    Der Cambrena-Eisbruch im morgendlichen Zwielicht: Kein angenehmer Ort.

    "Der war wirklich ganz schön spaltig. Diese Riesenspalten, diese Löcher: Kathedralen, möchte man fast meinen. Ich bin ja ziemlich schwer. Ich hatte immer Angst, durchzubrechen. Und ich glaube nicht, dass die anderen mich da halten können. Und das Schlimmste eigentlich ist: Stollen unter den Steigeisen. Das ist dann so, als würde man auf zehn Zentimeter hohen Plateauschuhen laufen. Was auf diesen exponierten Graten nicht gerade angenehm ist."

    Denn der Schnee klebt unter den Steigeisen. Und nach einer Firnmulde, dem Schnapserlboden, geht es zur Sache. Ein Steilhang hinauf zum Ostsattel, dann wird es eng. Der Firngrat: So schmal, dass gerade zwei Füße nebeneinander passen. Rechts und links: Tiefblick pur. Die Himmelsleiter scheint ins Nichts zu führen. Ein paar Dutzend Höhenmeter sind es nur hinauf zum Palü-Ostgipfel. Doch die sind aufregend!

    "Dieser Grat: Wahnsinn! Ausgesetzt auf beiden Seiten. Man kann da bis ins Tal gucken. Zum Glück war da ab und zu gnädiger Nebel. Ich bin noch nie so einen langen Grat gegangen. Das ging schon zu beiden Seiten ganz ordentlich runter. Und man guckt lieber nicht runter."

    Auch der Weiterweg hinüber zum Mittelgipfel wird zur Mutprobe. So schmal und spitz wie der First eines steilen Hausdaches ist der Schneegrat. Sorgsam heißt es, die Stiefel in die Stapfen des Vordermannes zu setzen. Ein Ausrutscher wäre fatal! Nach dem Balanceakt ist der höchste Punkt erreicht: 3900 Meter. Begeisterung auch bei einer schweizerischen Seilschaft.

    Am Berg gegenüber, am Piz Bernina, zeichnet sich eine kühne weiße Linie gegen den Himmel ab. Es ist einer der berühmtesten Schneegrate der Alpen: der Biancograt. 500 Meter Firnschneide. Kleine bunte Punkte bewegen sich genau obendrauf.

    "Biancograt! Ganz toll. Ganz im Licht im Moment. Einige Partien, die man da sieht, sind jetzt schon am Anstieg zum Piz Bianco. Eigentlich eine ganz große Linie. Ich weiß nicht, wie viele da heute Morgen losgegangen sind. Weil ja doch das Wetter recht unsicher war."

    Piz Morteratsch und Piz Boval bauen sich auf der einen Seite auf, auf der anderen die Gipfel von Bellavista und Piz Zupo, wie ein Schweizer Bergführer seinen Gästen erklärt.

    "Zupo heißt: der versteckte. Drum sieht man ihn nicht von der Diavolezza."

    Nicht zu sehen ist auch der Weiterweg. Die Überschreitung des Westgipfels aber verspricht noch einmal Nervenkitzel: Felsklettern mit Steigeisen. Anderthalb Stunden Gleichgewichtsübungen am Spinasgrat. Tiefblicke in die Palü-Nordwand inklusive. Entspannung gibt es erst wieder an der Bellavista-Scharte.

    "Sehr, sehr exponierte Stellen. Da muss man sich schon sehr gut festhalten. Rechts und links ging es wirklich irre steil hinunter. Rechts 800 Meter, links 200 Meter. Da muss man wirklich auf jeden Schritt Acht geben."

    "Also nach diesem Eisgrat hatte ich nicht damit gerechnet, dass wir noch mal im Fels landen. Und es war schon imposant, weil man gleich bis ins Inntal hinunter gucken konnte. Und von da oben Sankt Moritz sehen, das ist schon verrückt. Netterweise konnte man sich überall festhalten. Das war ganz praktisch. Ärgerlich ist es natürlich, wenn es irgendwo vereist ist. Also, wenn man ankommt und dann die Füße wegrutschen, weil überall Eis ist. Das ist schon eine Mutprobe."
    Dann heißt es, sich zu sputen. Der Wettergott lässt hörbar nicht mit sich handeln. Der Eispickel beginnt zu brummen, so aufgeladen ist die Luft. Wenigstens soll es noch die Felsen des Fortezza-Grates hinuntergehen, bevor die ersten Blitze einschlagen. Dann folgt der stundenlange Abstieg über den Morteratschgletscher. Die Badewanne auf der Diavolezza: Sie ist unsichtbar von hier unten, in den Wolken verschwunden. Das Ende der Bergtour trotzdem: So pitschnass wie der Anfang!