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Vom Buch zum Haus

Tapeten, Möbel, Innenräume und schließlich große Gebäude entwarf der unermüdlich arbeitende Belgier Henry van de Velde. Die Lektüre der Bibel und der Philosophen Karl Marx und Friedrich Nietzsche regte ihn zu seinen Bauten an. Am 3. April 1863 wurde der europaweit wirkende Architekt in Antwerpen geboren.

Von Michaela Gericke | 03.04.2013
    "Bis zum Alter von fünfzehn Jahren lebte ich im Hafenquartier Antwerpens im geräumigen Haus Plaine Falcon 23, in dem sich die Apotheke meines Vaters befand. Mit fortschreitendem Alter kam mir mehr und mehr die Häßlichkeit des äußeren Rahmens, in dem wir lebten, zum Bewußtsein. Ich litt unter den anspruchsvollen und erdrückenden Formen der Möbel und der anderen Einrichtungsgegenstände."
    Erinnerungen Henry van de Veldes, die er mit mehr als 80 Jahren unter dem Titel "Geschichte meines Lebens" niederschrieb. Geboren am 3. April 1863, studierte er zunächst Malerei in Antwerpen.

    "Nachdem ich ein Jahr in Paris mich weiter ausgebildet hatte, kehrte ich tief enttäuscht in Belgien zurück. Die Offenbarung, welche ich doch empfand, des Impressionismus und die Werke der französischen Meister Renoir, Monet und Degas, überzeugte mich, dass ich keine blasse Ahnung hatte, was eigentlich Zeichnen und Malen ist."

    Henry van de Velde wechselte ins Kunsthandwerk, worin er ein Meister wurde. "Engelswache" heißt ein gestickter Wandteppich aus dem Jahr 1893. Schwungvolle Linien, grüne, rote, orange Farbflächen charakterisieren die Handschrift des Gestalters. Inspiriert hatte ihn Ende der 80er Jahre das Spiel der Wellen, das er von der Villa seines Bruders aus beobachten konnte. Die Lektüre – von der Bibel über Bakunin bis hin zu Karl Marx und Friedrich Nietzsche – entfachte in ihm den Wunsch nach einer großen gesellschaftlichen Lebensreform:

    Die Kraft der Linie, wie sie in der Natur zu finden ist, setzte van de Velde ins Zentrum seiner Ideen für die Entwürfe von Möbeln, Bestecken, Vasen, Tapeten, sogar Kleidern; ganze Inneneinrichtungen plante er mit schwungvollen Linien. Dem, wie er sagte, verflachten Geschmack der Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wollte er etwas entgegensetzen und damit all den Hässlichkeiten, die aus ewig miserablen Kopien älterer Stile resultierten. Sein – wie er ihn nannte – "neuer Stil", wurde bald als "Jugendstil" bezeichnet. Für das erste eigene Brüsseler Wohnhaus, das er als autodidaktischer Architekt 1895 entwarf, erntete er jedoch Hohn und Spott. Der Blick ging von außen …

    "… durch eine Bogenstellung in einen großen Raum, darüber war ein Oberlicht, durch das der leere Raum erhellt wurde. Man konnte also schon von außen erkennen, dass ein leerer Kern, eine Halle, das Zentrum des Hauses bildete, um das die verschiedenen Zimmer und Nebenräume angeordnet waren."

    Van de Velde verstand sich selbst als "Laienprediger" mit einer Mission, die "L’art nouveau", die "Neue Kunst" europaweit zu verbreiten – und fand zur Jahrhundertwende zunächst vor allem in Deutschland Unterstützer und Auftraggeber. Das Kunsthandwerk sollte der Kunst gleichgestellt sein – das war van de Veldes revolutionäre Forderung, mit der er 1907 auch Mitglied im neu gegründeten Deutschen Werkbund wurde.

    In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts entwarf er Museen, Wohnhäuser und Villen, die heute auf einer Henry van de Velde Route durch Sachsen und Thüringen wieder zu entdecken sind. In Weimar gestaltete er die auch von ihm gegründete "Großherzogliche Kunstgewerbeschule Weimar", das spätere Bauhaus. Als er sich in Deutschland während des Ersten Weltkriegs zunehmender Ausländerfeindlichkeit ausgesetzt fühlte, kündigte er 1915 in Weimar seinen Vertrag als Professor und kehrte über die Schweiz und Holland in den 20er Jahren nach Belgien zurück. Seine Idee von der "vernunftgemäßen Gestaltung" verfolgte er als Architekt und Allround-Gestalter bis ins hohe Alter. 1947 zog Henry van de Velde ein letztes Mal um: nach Oberägeri in die Schweiz, wo er bis zu seinem Tod am 15. Oktober 1957 an seinen Memoiren schrieb.