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Vom farblosen Nobody zum mächtigsten Mann Russlands

In ihrer Biografie "Der Mann ohne Gesicht" zeichnet die russisch-amerikanische Journalistin Masha Gessen den Aufstieg Putins nach. Jenes Mannes, der sich vom Subalternen an die Spitze des Machtapparats rücksichtslos hocharbeitete und jetzt erneut als russischer Präsident vereidigt wurde.

Von Robert Baag | 07.05.2012
    Gut acht Wochen sind vergangen seit jener Inszenierung eines offenbar zutiefst empfundenen Triumphs:

    "Wir haben gesiegt!","

    ruft Wladimir Putin in dieser Märznacht seinen Anhängern zu, um mit donnernder Inbrunst hinzuzufügen: ""Ruhm sei Russland!"

    – übrigens eine traditionelle Lieblings-Losung aller russischen Nationalisten.

    Wladimir Putin, nun also - wie heute Mittag erlebt – offiziell zum Dritten. Sechs Jahre erneuter Präsidentschaft liegen vor ihm. Das erste Viertel des 21. Jahrhunderts – wird es einst als "Putin-Zeitalter" in die Geschichtsbücher Russlands eingehen?

    Geht es nach Masha Gessen wäre dies eine erschreckende Option für ihr Heimatland, stünde dann doch ununterbrochen – so der Titel ihres soeben pünktlich erschienenen Buchs – ein "Mann ohne Gesicht" an dessen Spitze und entschiede über dessen Zukunft inmitten einer Welt im Umbruch Für sie ist Putin - wie sie ihr Eingangskapitel überschreibt – zunächst einmal:

    "der Zufallspräsident."

    Ein Mann, von dem der greise und schwer kranke Präsident Boris Jelzin 1999 nur wusste,…

    "dass er einer der wenigen Männer war, die ihm gegenüber loyal geblieben waren. Er wusste, dass er einer anderen Generation angehörte: Anders als Jelzin (…) war Putin nicht über die Ränge der Kommunistischen Partei aufgestiegen und hatte deshalb beim Zusammenbruch der Sowjetunion nicht öffentlich die Seiten wechseln müssen. Und wenn Jelzin auch nur ein Bruchteil seines einstmals herausragenden politischen Gespürs geblieben war, dann wusste er, dass die Russen diesen Mann lieben würden, den sie mit Putin erben und der ihn beerben würde. – Jeder konnte in diesen grauen, gewöhnlichen Mann hineinprojizieren, was immer er wollte."

    Unvergessen etwa Putins Ausbruch an die Adresse vermeintlicher tschetschenischer Terroristen nach Anschlägen auf Wohnhäuser in Moskau und in anderen russischen Städten, denen viele Menschen zum Opfer fallen:

    "Und wenn wir die Terroristen bis aufs Klo verfolgen müssten, um sie kalt zu machen, dann werden wir das eben tun. Ende der Diskussion!"

    Originalton Putin aus dem Herbst 1999. Gessen ist dezidierte Vertreterin jener Denkschule, die von einer schleichenden KGB-Machtübernahme ausgeht, die spätestens 1991, kurz nach dem gescheiterten Augustputsch gegen Michail Gorbatschow eingesetzt habe.

    "Die Redensart ‚Einmal Spion, immer Spion' traf mit Sicherheit zu: Der KGB ließ seine Agenten niemals von der Leine. Aber wohin mit all den abgehalfterten Spionen? Der KGB hatte tatsächlich einen Namen und eine gewisse Struktur für diesen Wasserkopf, den er ‚aktive Reserve' nannte. Dabei handelt es sich um die unzähligen und wohl auch nie gezählten KGB-Agenten, die in alle zivilen Institutionen der UdSSR eingeschleust wurden."

    Weshalb damals die Wahl der grauen KGB-Kardinäle aber ausgerechnet auf den eher farblosen Nobody im Range eines Oberstleutnants gefallen sein soll, weiß auch Gessen am Ende nicht schlüssig nachvollziehbar zu erklären. Die Quellen dafür bleiben weiter im Dunkeln. Interessant indes ihre aufmerksame Beobachtung anlässlich der ersten Investitur Putins zum Staatspräsidenten Russlands - heute exakt vor zwölf Jahren, am 7. Mai 2000:

    "Bei der Amtseinführung waren 1500 geladene Gäste zugegen, von denen eine unbestimmte Anzahl Uniform trug. Ein Gast verdient besondere Erwähnung: Wladimir Krjutschkow, ehemaliger KGB-Chef und Mit-Initiator des Putschversuchs von 1991. In den meisten Zeitungsberichten über die Amtseinführung Putins wurde seine Anwesenheit einfach ignoriert. Russland feierte nicht nur den Wechsel des Staatsoberhaupts, sondern auch einen Regimewechsel – einen Regimewechsel, den Krjutschkow offenbar begrüßte."

    "In den Sechzigerjahren war die sowjetische Führung sehr bemüht, ein romantisches, ja, sogar schillerndes Bild der Geheimpolizei zu zeichnen",

    schildert Gessen im Rückblick die Atmosphäre in Putins Heimatstadt Leningrad vor knapp fünfzig Jahren::

    "Als Wladimir Putin zwölf war, wurde ein Roman mit dem Titel ‚Der Schild und das Schwert' zum Bestseller. Sein Protagonist war ein sowjetischer Geheimagent, der in Deutschland arbeitete. Als Putin 15 war, wurde der Roman als Mini-Serie fürs Fernsehen bearbeitet, die sich großer Beliebtheit erfreute. 43 Jahre später traf sich Putin als Ministerpräsident mit elf russischen Spionen, die man aus den USA ausgewiesen hatte. In einem Anflug von Kameraderie und Nostalgie sangen sie gemeinsam den Titelsong der Serie."

    Und ganz Russland konnte diese Szene vor nicht allzu langer Zeit im staatlich kontrollierten Fernsehen mitverfolgen.

    Putins Wirken über gut anderthalb Jahrzehnte zunächst als Subalterner innerhalb des Machtapparats und dann immer höher bis an dessen Spitze – wer all dies mit nicht selten überraschend neuen Verknüpfungen als - im Wortsinn – "Enthüllungen" nachschlagen möchte, findet bei Gessen über weite Passagen eine Menge interessanten Lesestoff. Manche Behauptung – etwa über Putins Geschäftsgebaren als Funktionär der Leningrader Stadtverwaltung zitiert sie allerdings lediglich vom Hörensagen, bleibt damit den nachprüfbaren Beleg schuldig. Im Gesamtkontext sind sie dennoch überwiegend nachvollziehbar. Für ihre Schlussfolgerungen steht sie ein:

    "Nun, da Putin das Land regierte, griff er auf die Kontrollmechanismen der sowjetischen Vergangenheit zurück: Er errichtete eine Tyrannei der Bürokratie. Die sowjetische Bürokratie war so schwerfällig, obskur und abschreckend gewesen, dass man in ihr nur dann bestehen konnte, wenn man sich der Korruption schuldig machte. Die Währungen der Korruption waren Geld oder persönliche Beziehungen. Dadurch wurde das System unendlich biegsam – weshalb die ‚besondere Wahlkultur' so prächtig funktionierte."

    Zumindest bis Anfang Dezember vergangenen Jahres: Denn plötzlich protestierten öffentlich Zehntausende Menschen in ganz Russland exakt gegen diese Art von "Wahlkultur" und beschwerten sich – überraschend, ungewohnt, vielleicht sogar erschreckend für das Putinsche Machtkartell – lauthals über den – Zitat:"Diebstahl" - ihrer Stimmen zugunsten der Kreml-Partei. Vorsichtig aber eigentlich zuversichtlich sieht Gessen am Ende Parallelen zu jener inneren Dynamik, die sie schon beim Zusammenbruch der Sowjetunion vor über zwanzig Jahren beobachtet hat:

    "Sobald der Prozess begonnen hatte, war das System dem Untergang geweiht. Je mehr heiße Luft es in die Blase, in der es existierte, pumpte, desto anfälliger wurde es auch für den wachsenden Druck von außen. Genau das Gleiche geschieht jetzt. Es kann Monate oder Jahre dauern, aber die Putin-Blase wird platzen."

    Masha Gessen: Der Mann ohne Gesicht: Wladimir Putin. Eine Enthüllung.
    Piper Verlag 384 Seiten, 22,99 Euro
    ISBN: 978-3-492-05529-1