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Vom medialen Siegeszug der Zeitzeugen

In ihrem Buch beschäftigen sich Martin Sabrow und Norbert Frei mit der Rolle und den Aussagen von Zeitzeugen, die seit Jahren vor allem in Geschichtsdokumentationen omnipräsent sind. Ein lehr- und facettenreiches Buch, dass allerdings stark wissenschaftlich geprägt ist.

Von Otto Langels | 20.08.2012
    "Ausschnitt O-Ton Zvi Gedalia - Eichmann-Prozess"

    Ein Ausschnitt aus einer Zeugen-Vernehmung im Eichmann-Prozess in Jerusalem. Das Gerichtsverfahren im Jahr 1961 gilt unter Historikern als die Geburt des Zeitzeugen. Bis dahin kannte man die Augen- oder Tatzeugen, die Auskunft gaben über ein konkretes Ereignis, zum Beispiel im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1946. Sie waren gehalten, ihre Aussagen nüchtern und sachlich zu formulieren. Im Eichmann-Prozess nahm der Zeuge eine neue Rolle ein, so der Potsdamer Zeithistoriker Martin Sabrow, Herausgeber des Sammelbandes über die "Geburt des Zeitzeugen".

    "Der Eichmann-Prozess in Jerusalem ist der erste, bei dem in diesem Fall der Generalstaatsanwalt Gideon Hausner dezidiert Zeugen in den Zeugenstand bat, die gar nicht über präzise Vorwürfe gegenüber dem Angeklagten Eichmann Auskunft gaben, sondern den Zuhörern einen Eindruck von der Fürchterlichkeit der Lebens- und Sterbeverhältnisse unter der NS-Verfolgung und in den Konzentrationslagern gegeben haben."

    Martin Sabrow ist Herausgeber des Sammelbandes und zugleich Autor eines in das Thema einführenden Beitrags über den Zeitzeugen als "Wanderer zwischen den Welten". Denn der Zeitzeuge hat eine Brückenfunktion: Er bringt eine schreckliche, aber überwundene Vergangenheit nahe, er passt die Vergangenheit in die Gegenwart ein, was eine notwendige kritische Distanz zu dieser Vergangenheit voraussetzt.

    Ein bekennender Alt-Nazi oder –Stalinist taugt heute nicht als Zeitzeuge des NS- oder SED-Regimes. Seit dem Eichmann-Prozess hat der Zeitzeuge einen radikalen Rollenwechsel durchlaufen. Zunächst hatte er in Deutschland die Funktion, aufklärerisch in einer Umgebung zu wirken, die die nationalsozialistischen Verbrechen verdrängen, verschweigen oder verharmlosen wollte.

    "Heute ist der Zeitzeuge eine eher affirmative Figur, der illustrativ eingesetzt wird, um historische Erzählungen im Fernsehen, im Radio, auf der Bühne zu beglaubigen. Insoweit hat der Zeitzeuge heute eine neue Funktion übernommen, er dient eigentlich zur Beglaubigung der Annäherung an eine als authentisch verstandene Wirklichkeit von damals."

    Der Band "Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945" geht zurück auf eine gemeinsame Tagung von Jenaer und Potsdamer Zeithistorikern im Dezember 2008. Das Buch beschäftigt sich mit der seit einem halben Jahrhundert wachsenden Bedeutung von Zeitzeugen als Opfern von Diktaturen, dem Zeitzeugen als Medienfigur sowie dem Verhältnis von Zeitgeschichte und Zeitzeugen. Wie die meisten Tagungsbände enthält auch diese Publikation die fast unvermeidlichen Überschneidungen und Wiederholungen. Und einige Beiträge, etwa zur "medikalisierten Zeugenschaft", das heißt den traumatischen Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden, sind Detailstudien, an deren Stelle man sich zum Beispiel die Reflexionen eines Zeitzeugen gewünscht hätte. Denn nur Fachleute kommen zu Wort, nicht aber die, um die es in diesem Band geht.

    Dessen ungeachtet ist die "Geburt des Zeitzeugen" ein facettenreiches und insgesamt lesenswertes Buch. Der Zeitzeuge ist der ärgste Feind des Historikers, lautet ein gängiger Aphorismus; und das nicht nur, weil die Fachleute den subjektiven Erinnerungen eines Einzelnen misstrauen, sondern, weil ihnen mit den Zeitzeugen auch eine unliebsame Konkurrenz erwachsen ist.

    "Die Konkurrenz zwischen Zeitzeugen und Zeithistoriker ist sicherlich größer geworden, als sie früher war. Andererseits gab es immer für Historiker die Einrede der Zeitgenossen, ob sie sich nun Zeitzeugen nannten oder nicht. Was sich geändert hat, ist vielleicht die Bedeutung, die Dignität des vermeintlich authentischen Zeugnisses."

    Ohne Rundfunk, Film und Fernsehen hätte der Zeitzeuge nicht seinen Siegeszug antreten können. Der Zeitzeuge ist eine Medienfigur, mit durchaus problematischen Zügen, wie einem Beitrag des Buches über die ebenso erfolgreichen wie umstrittenen Geschichtsdokumentationen Guido Knopps im ZDF zu entnehmen ist. Der Gesichtsausdruck, die versagende Stimme, die Tränen sind oft wichtiger als die Aussage.

    Möglicherweise aber müssen Historiker den Zeitzeugen bald nicht mehr als Konkurrenten fürchten. Denn mit dem Aussterben der NS- und Gulag-Generation könnte die Ära des Zeitzeugen demnächst Vergangenheit sein, so das Fazit mehrerer Beiträge in dem Sammelband, wie etwa von Wulf Kansteiner. Der Professor für Europäische Zeitgeschichte an der Binghamton University in New York schreibt in seinem Aufsatz über "Aufstieg und Abschied der NS-Zeitzeugen":

    Die Geschichtskultur der Bundesrepublik hat keinen emotionalen und moralischen Erinnerungskonsens an `68 oder die DDR hervorgebracht. Zudem fehlt die direkte emotionale Betroffenheit, die die Hitler-Welle von einem Quoten-Erfolg zum nächsten getragen hat.

    Zwar versuchen Video-Archive die Erinnerungen festzuhalten, zum Beispiel Steven Spielbergs "Shoah-Foundation", die Zehntausende Interviews mit Holocaust-Überlebenden aufgezeichnet hat, oder der "Jahrhundertbus" des ZDF, der seit Jahren quer durchs Land fährt, um ältere Menschen zu wichtigen Ereignissen der deutschen Geschichte zu befragen. Aber das gesammelte Bildmaterial hat nicht, da sind sich die Experten einig, die gleiche Wirkung wie die realen Auftritte von Überlebenden.

    Aber Prognosen sind bekanntlich nicht das Metier des Historikers. Autoren des Sammelbandes wie der Sozialpsychologe Harald Welzer oder der Historiker Christoph Classen sind unterschiedlicher Meinung, ob sie den baldigen Tod des Zeitzeugen verkünden sollen, weil die jüngsten historischen Ereignisse – trotz Mauerbau, deutschem Herbst und Mauerfall - nicht mehr die Dramatik hätten wie Holocaust und Zweiter Weltkrieg. Der Herausgeber Martin Sabrow über die Zukunft der Zeitzeugen:

    "Zu ihrer Aura zählt ihre physische Präsenz in der Gegenwart. Und wenn es die nur als Abbild gibt, und man weiß, dass der Sprecher schon lange verstorben ist, dann lässt diese Aura des Authentischen nach, weil es dann doch nur eine erborgte Authentizität ist."

    Wer sich über das Phänomen des Zeitzeugen aus wissenschaftlicher Perspektive informieren möchte, findet in dem vorliegenden Buch zahlreiche Anregungen. Eine systematische Reflexion und ein eindeutiges Resümee bietet der Band nicht, aber das ist bei der Vielzahl der Autoren und angesichts eines nicht abgeschlossenen historischen Prozesses auch nicht zu erwarten, denn wer weiß, ob wir nicht vor neuen dramatischen Höhepunkten stehen?


    Martin Sabrow/Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945
    Wallstein
    376 Seiten, 34,90 Euro
    ISBN: 978-3-835-31036-0