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Vom MP3-Player zum Hörgerät

Medizin. - Die Datenkompression MP3 machte Musik in bester Qualität mobil. Doch damit stieg auch die Beschallung der empfindlichen Ohren drastisch an, und Forscher warnten vor bleibenden Schäden. Das müsse aber nicht unbedingt der Fall sein, meinen Tübinger Ärzte..

Von Klaus Herbst | 28.04.2008
    Auf die Lautstärke kommt es an. Früher waren es die Walkman-Cassetten-Geräte, die oft Hörschäden zur Folge hatten, heute sind es die millionenfach gekauften MP3-Player. Jeder zehnte Nutzer zieht sich einen bleibenden Hörschaden zu.

    "Zehn Prozent sind besonders gefährdet. Das hängt nun nicht nur mit den tragbaren Musikabspielgeräten zusammen, sondern es hängt damit zusammen, dass genau diese zehn Prozent auch noch besonders häufig in sehr laute Diskotheken gehen, so dass dann mehrere Dinge zusammenkommen. Und unter diesen befinden sich auch überdurchschnittlich viele, die an einem Lärmarbeitsplatz tätig sind. Und bei einem Lärmarbeitsplatz greifen die Schutzvorschriften nur dann, wenn außerhalb der Berufstätigkeit man in einer leisen Umgebung sich aufhält. Also da kommen mehrere Faktoren zusammen. Es ist also nicht das tragbare Musikabspielgerät alleine, aber es leistet eben bedauerlicherweise einen wesentlichen Beitrag..."

    … sagt der Mediziner Professor Hans Peter Zenner, Direktor der Tübinger Universitäts-Hals-Nasen-Ohrenklinik. Neuere Statistiken zeigen es deutlich: Jeder Zehnte erleidet zunächst ein Ohrgeräusch, einen Tinnitus. Oft folgt eine weitergehende Hörstörung, bis hin, schon in jungen Jahren, zum weitgehenden Verlust des Hörvermögens. Bei wiederholter Überdosierung von Lärm führt oft der Weg direkt vom MP3-Player zum Hörgerät, bedauert Zenner. Er hat auch eine physiologische Erklärung dafür. Musik, die so laut ist wie ein Presslufthammer, wirkt sich im empfindlichen Innenohr wie ein Sturm aus. Dort lösen winzige Haarzellen Nervenimpulse aus. Durch Lärm werden sie gebeugt, wie Bäume beim Orkan. Und mehr und mehr brechen schließlich. Es bilden sich keine neuen Haarzellen. Hans Peter Zenner:

    "Wenn man mit einem tragbaren Musikabspielgerät 104 Dezibel vier Minuten lang hört, dann ist das genauso wie acht Stunden auf einer Schicht in einem Lärmbetrieb. Das heißt, man braucht da nicht viele Jahre, bis eine Lärmschwerhörigkeit entsteht, sondern, wenn man Pech hat, wenige Monate oder vielleicht ein, zwei Jahre, also vergleichsweise kurze Zeit. Und die meisten jungen Leute, also Jugendlichen, jungen Erwachsenen benutzen ihre tragbaren Musikabspielgeräte etwa zehn Jahre lang, also im Schnitt zwischen dem 13. und dem 23. Lebensjahr. Und zehn Jahre lang täglich, jetzt nicht vier Minuten, sondern 40 Minuten oder sogar noch länger, da kann man dann abschätzen, dass man eben deutlich jenseits des Bereiches ist, der nicht mehr lärmgefährdend ist."

    Heute sind es nicht mehr Walkman-Geräte, die zu Hörschäden führen können, es sind die neuen, digitalen Wiedergabegeräte mit datenreduzierten Kompressionsverfahren. Entscheidend ist der Schalldruck, schuld sind nicht die heutigen MP3-Player, betont Zenner. Nichts sei dran an den Gerüchten, durch Audiokompression werde das Gehirn überanstrengt. Und das Hören audio-komprimierter Musik mache müde, es könne zu Verkehrsunfällen führen. Der Leibnizpreisträger und renommierte Tübinger Ohrenarzt und Forscher Professor Hans Peter Zenner sagt, dass digitale, datenreduzierte Wiedergabetechniken gegenüber dem unkomprimierten Signal Kompressionsverfahren weder das menschliche Gehirn stressen, noch das Ohr beeinträchtigen.

    "Allerdings nur das gesunde Ohr, so dass jemand, der längere Zeit sich zu lautem Lärm aussetzt, der kann eben von dieser Technik des MP3-Players nach einer gewissen Zeit nicht mehr profitieren, sondern es wird sich für ihn dann schrecklich anhören. Aber Ermüdungserscheinungen braucht man nicht zu befürchten. Dieselben Phänomene treten auch auf, wenn man klassische Musik vollständig hört. Auch da wird das Ohr einiges dazukomponieren, und es wird auch einiges weglassen durch so genannte Suppression. Also diese beiden Hauptmechanismen verändern grundsätzlich das, was wir aufnehmen."

    Moderne Ohrhörer mit einer Plastikmanschette, die Außengeräusche abhält, seien eher vorteilhaft – es sei denn, die Musik werde dann mutwillig noch lauter aufgedreht. Allerdings tritt ein Hörschaden nicht bei jedem Nutzer gleich früh und gleich stark ein. Dem einen schadet Lärm mehr, dem anderen weniger, vielen gar nicht. Also sind die Forscher bemüht, …

    "...Untersuchungsmöglichkeiten zu finden, um herauszubekommen, wer nun in Anwesenheit von Lärm besonders gefährdet ist, weil wir den Eindruck haben, dass das Risiko für den Einzelnen unterschiedlich ist. Das wäre natürlich günstig, diejenigen herausfischen zu können, die ein besonders großes Risiko haben. Man könnte es Ihnen mitteilen, und sie könnten sich danach richten, sowohl in der Freizeit wie auch am Arbeitsplatz. Da gibt es also Forschungsrichtungen, die in diese Richtung gehen."

    Schallpegelbegrenzer sind zurzeit die beste Vorsorge, sagt Zenner. Die Musik wird dann immer noch als sehr laut wahrgenommen, der technisch limitierte Hörgenuss sei aber wesentlich weniger riskant. Wenn der Schaden bereits eingetreten ist, gibt es mittlerweile auch Möglichkeiten, etwas zu reparieren. Die regenerative Medizin soll Mittel und Wege finden, …

    "… dass diese Sinneszellen wieder neu gebildet werden können, so dass wenn sie durch Lärm, aber auch durch andere Dinge zerstört worden sind, dass das Ohr in der Lage ist, wieder neu zu bilden. Dies geht in Richtung Stammzellforschung. Da ist möglicherweise eine der Lösungen."

    Die Forscher arbeiten also an Lösungen, zerstörte Haarzellen wieder wachsen zu lassen, aber – so schränkt Hans Peter Zenner ein – hier stehe die Forschung erst am Anfang.