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Vom Spartenstiefkind zur Nummer eins

Das Konzertprogramm der Salzburger Festspiele hat sich vom Stiefkind zum Star gemausert. Mitverantwortlich dafür ist Konzertchef Markus Hinterhäuser. Wie kein anderer verstand er es, große inhaltliche Bögen zu schlagen und vermeintlich Heterogenes zusammenzuführen.

Von Jörn Florian Fuchs | 20.08.2011
    Noch vor ein paar Jahren war das Konzertprogramm bei den Salzburger Festspielen eindeutig die dritte Sparte – nach der Oper und dem Schauspiel. Neben einigen dramaturgischen Einsprengseln wie etwa Peter Ruzickas Reihe "Zweite Moderne" bot sich dem Publikum zwar eine reiche Auswahl, doch wirklich verzahnt waren die einzelnen Teile dieses Gemischtwarenladens kaum. Erst als Markus Hinterhäuser vor vier Jahren Konzertchef unter Jürgen Flimm wurde, avancierte das Spartenstiefkind künstlerisch zur Nummer eins. Warum? Weil Hinterhäuser es wie kein anderer verstand, große inhaltliche Bögen zu schlagen und vermeintlich Heterogenes zusammenzuführen. Plötzlich gab es "Brahms-Szenen", in denen aber nicht nur Brahms zu hören war, sondern auch Vorgänger, Zeitgenossen, Nachfolger und sogar Antipoden. Die neuere Musik trug den Namen "Kontinent" und spielte sich vor allem in der von Hinterhäuser schon 1993 als Aufführungsort entdeckten Kollegienkirche ab (damals war er Chef des Festivals Zeitfluss, das im Rahmen der Salzburger Festspiele stattfand).

    Fünf Jahre lang trafen auf dem neuartigen Hörkontinent Klangtüftler wie Giacinto Scelsi, Morton Feldman, Wolfgang Rihm, Gérard Grisey und unzählige andere aufeinander und traten mit sich und den konzentrierten Zuhörern in einen oft noch lange nachwirkenden Dialog. Dieses Jahr wirkte Hinterhäuser bekanntlich als Intendant und Konzertchef, es wurde künstlerisch ein Jahrhundertsommer. Mit Marathonveranstaltungen wie der chronologischen Aufführung aller fünfzehn Schostakowitsch-Streichquartette an zwei Tagen oder einem Stockhausen-Abend, an dem der famose Marino Formenti die ersten elf Klavierstücke des Kölner Revoluzzers zum Besten gab. Von den ersten, stark seriellen Werken ging es schnurstracks quasi durch Hirn und Werkstatt des Komponisten, hinweg über Cluster-Stürme und kaum mehr spielbare Flügelattacken bis zur aleatorischen Phase, da wählt der Pianist aus, welchen Teil er wo und wann spielt. Nach dem Klavierrausch folgten Stockhausens späte "Cosmic Pulses", die das Mozarteum in ein elektroakustisches Raumschiff verwandelten.

    Ein Abend war ganz dem französischen Klangmagier Claude Vivier gewidmet, dessen metaphysisches "Journal" in eine Welt unterschiedlichster Stimmungen führt und gegen Ende einen Blick ins Jenseits gewährt, so wie Vivier es sich vorstellte.

    Eindrücklich war auch Luigi Nonos Tragödie des Hörens "Prometeo" und vor allem Salvatore Sciarrinos konzertant aufgeführtes Musiktheater "Macbeth", das die parallel von Riccardo Muti und Peter Stein realisierte Verdi-Variante blass aussehen ließ.

    Die "Szenen" waren heuer Gustav Mahler gewidmet, doch statt dem Abfeiern seiner Symphonien grub Hinterhäuser Raritäten und Kostbarkeiten aus. Etwa die erste Symphonie des früh und tragisch verstorbenen Mahler-Zeitgenossen Hans Rott oder eine Klavierfassung des "Lieds von der Erde", das Piotr Beczala und vor allem Christian Gerhaher zum überwältigenden, auch verstörenden Erlebnis machten. Mahlers Vierte Symphonie hörte man in der Bearbeitung für Kammerensemble von Erwin Stein, im selben Programm gab es dazu Wiener Walzer, die von Schönberg, Berg oder Webern angeraut, geerdet oder weiter gesponnen wurden.

    Wenn man an diesem letzten Sommer von Markus Hinterhäuser in Salzburg etwas kritisieren kann, dann höchstens einen Umstand. Einige Stücke führten in stark kunstreligiöse Regionen, zum Beispiel der "Prometeo" oder Georg Friedrich Haas' drittes Streichquartett, das im (beinahe) Stockdunklen aufgeführt wurde. Im Ganzen war es aber eine bedeutende Saison, zu der der Intendant seinem Konzertchef von Herzen gratulieren kann.