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Vom Untergang meiner Stadt

1992 beginnt Durs Grünbein mit der Arbeit an dem soeben erschienenen Gedichtzyklus "Porzellan – Poem vom Untergang meiner Stadt", der von Dresden handelt. Gewidmet hat der Autor dieses Langgedicht, in dem es Zwiesprachen mit den Eltern und der Großmutter gibt, seiner Mutter.

Von Michael Opitz | 27.09.2005
    Bertolt Brecht hat angesichts der Zerstörung der deutschen Städte durch alliierte Bomber von einer Radierung Churchills nach einer Idee Hitlers gesprochen.

    "Dieser Gedanke ist mal in einem frühen Gedicht von mir aufgenommen. Das hat diesen merkwürdigen Titel "Gedicht über Dresden". Das steht in dem Band Schädelbasislektion und war damals als Endpunkt gedacht. Und seither hatte ich eine Art Moratorium. Ich hab mir geschworen: Nie wieder, aber auch nie wieder über diese Stadt zu schreiben, weil es mir zu nahe gegangen war. Das war damals ein ganz klarer Endpunkt. Und es hat viele Jahre gedauert bis ich wieder anfangen konnte, über Dresden zu reden."

    Der Lyrikband Schädelbasislektion von Durs Grünbein, in dem sich das erwähnte "Gedicht über Dresden" findet, wurde 1991 veröffentlicht. Ein Jahr später beginnt der Autor mit der Arbeit an dem soeben erschienenen Gedichtzyklus "Porzellan – Poem vom Untergang meiner Stadt", der erneut von Dresden handelt. Gewidmet hat Durs Grünbein dieses Langgedicht, in dem es Zwiesprachen mit den Eltern und der Großmutter gibt, seiner Mutter. Die 49 Strophen, die aus jeweils zehn Zeilen bestehen, sind immer im Umfeld eines bestimmten Datums entstanden. Dann drangen die Stimmen von Untergegangenen an des Autors Ohr, meldeten sich die Toten aus einer versunkenen Stadt: "Leise, jedes Jahr im Februar trifft von weit her / Einen Nerv der Loreley-Ruf Dresden, Dresden ...", heißt es im Gedicht.

    "Zunächst mal ist das kein Gedichtzyklus im üblichen Sinne, dass man einfach nur ein Thema mit Variationen durchspielt, sondern diese einzelnen Teile sind über einen langen Zeitraum entstanden. Die waren zunächst mal eine Art Ritual, so ein Erinnerungsritual um den 13. Februar herum – so sind die meisten davon entstanden. Und später dann auch gibt es so ganze Strecken, wo hintereinander dann komponiert wurde. Aber das war nie als ein zyklischer Ablauf so geplant. Es sind mindesten sieben, acht Jahre gewesen vom allerersten bis zum letzten. Und der Untertitel ist z.B. erst später dazugekommen. Zu dieser Chiffre Porzellan, die für mich sozusagen der Inbegriff dieses kulturellen Dramas Dresden ist, eine feine, modellierbare Masse, der Inbegriff der barocken Kleinkunst ja auch, kam dann als Grundmotiv natürlich hinzu dieser Untergang der Stadt. Deshalb heißt es Poem vom Untergang meiner Stadt. Sehr emphatisch: meiner Stadt, weil ich da herkomme und weil mir dann Dresden offenbar auch zum Schicksal geworden ist. "

    Das einst prächtige, in barockem Glanz erstrahlende Dresden existierte bereits nicht mehr, als Durs Grünbein 1962 in der Stadt an der Elbe geboren wurde. Ihm zeigte sich Dresden nicht mehr in verzückender Schönheit, sondern in tristem sozialistischen Einheitsgrau, einer Farbe, die zum Grundthema seines ersten Gedichtbandes Grauzone morgens wurde. In dem neuen Poem Porzellan werden auch diese frühen Stadterfahrungen und -beziehungen aufgerufen, wird ihnen Platz im Hallraum Dresden eingeräumt, in dem sich viele Stimmen Gehör verschaffen.

    "Ich war dabei, als Hitler an die Macht kam. Ich war dabei,
    als meine jüdischen Nachbarn abtransportiert wurden. Ich
    war dabei, als Dresden unterging." Friedrich Reck

    Einmal ging er dort, gelangweilt á la Baudelaire …
    Postplatz, Altmarkt, Prager Straße, einst ein Boulevard.
    Im Beton verrecken werden sie. Es ward ihm schwer,
    Sein entblößtes Herz, für so viel leeren Raum zu zart.
    This heart sails, verlasst euch drauf, bis übern Rand.
    Unerschütterlich, hat es sich angewöhnt zu büßen
    Für so gut wie alles, was je schiefging hierzulande.
    Alltag, Alltag … klingt nach Streß und Psychoanalyse.
    Damals dachte er noch, diesen Frieden, jede Wette,
    Überlebst du, in den kalten Krieg tief eingebettet."

    Durs Grünbein spannt in Porzellan einen historischer Bogen zwischen August dem Starken und Churchills Zerstörung der Stadt. "Auch Dresden", heißt es in dem frühen "Gedicht über Dresden", "ist ein Werk des Malerlehrlings/Mit dem in Wien verstümperten Talent". Diese Koordinaten werden zu Ausgangspunkten, um gelegentlich noch weiter in die Geschichte zurückzugehen, zum Beispiel bis zu den Assyrern. An anderen Stellen wiederum tastet sich Grünbein an jenes Dresden heran, das er aus eigenem Erleben kennt. Allerdings hat er bei dieser lyrischen Geschichtsrekonstruktion auch immer wieder Zweifel. Der Nachgeborene ist sich nicht sicher, ob er für diese Annäherung an Dresden, in der das Inferno jener Februarnacht des Jahres 1945 ein immer wieder aus verschiedenen Perspektiven dargestelltes Zentrum bildet, legitimiert ist.

    "Stop, wer spricht da? Dieses Schlitzohr, ist er Sachse?
    Beißt sich durch die Gestrigkeiten, Clown und Historist,
    Scherbensammler, Freizeit-Christ. Treibt seine Faxen
    Mit der Scham, der Schande. Was uns Schicksal ist,
    Scheint ihm Hekuba, dem Pimpf da, Pionier. Das flennt
    Dicke Tränen und weiß nichts vom Heulen der Sirenen.
    Keinen Schimmer, was das ist: die Stabbrandbombe.
    Diese Brut, die Krieg nur aus Kinosesseln kennt,
    Popcorn futternd dort im Dunkel, weit zurückgelehnt –
    Schatten, Schulstoff-Wiederkäuer, Nachkriegs-Zombies."

    Der Zweifler, als der sich Grünbein zu erkennen gibt, weiß, dass er bei dieser archäologischen Grabungsarbeit, in der er sich in die Untiefen der Geschichte begibt, Schaden nehmen kann. Aber das ist nicht die einzige Schwierigkeit, vor der er steht. Denn bei aller Nähe im Umgang mit der Geschichte der Stadt muss er gleichzeitig auf Distanz zu ihr gehen. Diese Gratwanderung ist für den Autor zur Herausforderung geworden. Denn er wollte in der Klage zugleich auch die Anklage formulieren, im Respekt vor den Opfern von ihrer Mitschuld sprechen und ihnen gerade wegen der unverständlichen Sorglosigkeit im Umgang mit ihrer Stadt Unschuld nicht zugestehen.

    Weil sich in der Geschichte nichts voraussetzungslos ereignet, konzentriert sich Grünbein im Gedicht nicht allein auf jene Schreckensnacht im Februar, sondern er verweist konsequent darauf, was der Katastrophe vorausgegangen ist. Es sind die Widersprüche, die ihn reizen. So erkennt es in der "Sandsteinschönen" Dresden auch eine "Mätresse", die sich zur Schau stellt und die verführerisch mit dem Feuer spielt. Geradezu lasziv lagert sie an den Ufern der Elbe, dem Fluss, der sich schlangenlinienartig durch die Landschaft windet und an Hogarths Linie der Schönheit erinnert – in der Februarnacht 1945 orientieren sich die Bomberpiloten am Flusslauf der Elbe, um Dresden nicht zu verfehlen.

    "Klar die Frostluft: unterm Flügel, Augenweide,
    Lud der Fluß, ein schlankes S, die Bomberstaffeln ein.
    Nachts der Stadt blieb keine Zeit, sich anzukleiden.
    Besenhexe kocht. Kocht Glas, Metall, Asphalt und Stein.
    Bombe, Bombe – blankpoliert, fiel durch den Schacht
    Tonnenweise Schrott in den Mätressenschoß.
    Augusts Pracht … "Nie gutzumachen diese Nacht".
    Schwarz vom Phosphorbrand: das sandsteinhelle Schloß.
    Spaniens Himmel flammte auf, und Coventry und Guernica.
    Von der Bella ante bellum – nichts mehr da."

    Nach der Bombardierung Dresdens fanden sich in den Ruinen in großer Zahl Scherben, die Reste von Kaffee- und Speiseservices. Für das Gedicht sind gerade die Scherben zu Trägern von Botschaften geworden. Wie der Benjaminsche Allegoriker wendet der Dichter die gefundenen Bruchstücke in seiner Hand hin und her, und nimmt, was er gefunden hat zum Anlass, daraus Geschichte zu rekonstruieren. Dabei sind ihm die Scherben Teile eines ehemals Ganzen, denen neben zahlreichen anderen Botschaften immer auch die Chiffre 'Untergang’ eingeschrieben ist.

    "Diese Verse selber sind sozusagen die Scherben nur noch. Die sind nur noch Splitter oder Abbreviaturen von einem viel größeren Zusammenhang, auch dem des Sprechens. Hier wird ja immer nur in wenigen Zeilen ein Gedanke verfolgt, so dass jedes einzelne Stück eben wie eine Porzellanscherbe ist. Und diese Porzellanscherben sind so ein Symbol und zugleich eine Realität. Das ist allerdings auch eine noch viel größere Chiffre, weil Porzellan oder Tonscherben ein Grundelement der Archäologie sind. Das ist das, worauf die Ausgräberschaufel immer wieder stößt."

    Weil aber die einzelnen Teile kein Ganzes mehr ergeben und selbst genaueste Rekonstruktion die Bruchlinie nicht kaschieren kann, klingt in Grünbeins Versen beim Lesen zwar ein bestimmter Rhythmus an, doch versagt der Dichter dem Text eine durchgängige Rhythmik. Anzeichen dafür lässt er zu, aber konsequent unterbricht er, wenn die Sprache in einen bestimmten Rhythmus fallen will, und lässt sie ins Leere laufen. Dadurch werden Erwartungen nach Vollendung vom Autor nicht eingelöst, so dass sein Text einem Scherbenbett gleicht. Grünbein lässt in der Metrik des Gedichts zwar immer wieder eine klassisch-vollendete Form anklingen, aber der Dichter, der sich in der Tradition von Paul Celan auch als "Entreimter" begreift, muss diese Form verweigern, weil das Gedicht angesichts der Katastrophen, von denen es handelt, Vollkommenheit nur noch andeuten kann.

    "Das ist auch ein Text, der poetologisch eine Gratwanderung macht, wo also Form und Inhalt idealitär – wahrscheinlich nicht immer, aber sehr oft – an solche Grenzen kommen des Möglichen. Wie sie übrigens nur gehen in metrischer Sprache. Allmählich wird mir das immer klarer: Man kann die zerstörten Formen nur wieder aufnehmen, indem man sie vorsichtig abtastet. Und deshalb meine ich, es geht hier nicht darum, ein für alle Male zu verzichten auf klassische Formen, es geht darum, die klassische Form eben ganz vorsichtig wie Scherben zu drehen und zu wenden, auf ihre Brauchbarkeit wieder zu prüfen. Eigentlich ist dieses Gedicht wie aus Splittern aufgebaut, die hier und da nur nebeneinander gelegt werden und manchmal sogar melodisch verklebt - aber die brechen wieder auseinander. Diese innere Formdynamik ist dem Ganzen eingeschrieben."

    Durs Grünbein wechselt in dem Poem ständig die Tonlagen. Das reicht von äußerstem Sarkasmus bis hin zur Melancholie. Dann wiederum gibt es neben der Faktentreue, die dem Gedicht eingeschrieben ist, und einer an verschiedenen Stellen auffälligen dokumentarischen Kälte auch Passagen von eigenwilliger Emphase. Aber nicht nur die Tonlagen wechseln, sondern es gibt auch einen ständigen Stimmenwechsel, wenn das lyrische Subjekt Fragen aufwirft, sich selbst in Frage stellt, sich ins Wort fällt, Zeitgenossen zitiert und sich in Dialoge mit historischen Personen begibt. Durs Grünbein hat sich mit dem Poem Porzellan in die Schar jener Künstler eingereiht, die seit Jahrhunderten fasziniert sind von der barocken Schönen an der Elbe. Doch seine Faszination ist gebrochen durch die Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945. Angesichts dieser Zäsur rekonstruiert er das Schöne mit Blick auf den Untergang und vermag von Anmut nur im Angesicht des Todes zu sprechen.

    "Eine Schönheit war sie, schwatzhaft, üppig, provinziell.
    Um die Hüfte, silbern, lag als Schärpe ihr der Fluß,
    Der bei Vollmond lockte. Und wie hat man sie entstellt,
    Arme Galatea. Springt man so mit Frauen um?
    Schwäne zierten sein Service – und so aus einem Guß
    Wie des Grafen Brühl Geschirr war sie, die kurvenreiche.
    Schokoladenmädchen, stolzes, bist vor Schreck verstummt,
    Als die Muscheln platzten und die Schnecken und Delphine
    Berstend in die Tiefe sanken, die kein Wort erreicht
    Wer versteckt schon Munition in Porzellan-Terrinen?"

    Durs Grünbein:
    "Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt"
    (Suhrkamp Verlag)