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Vom Verbrechen aller Verbrechen

Seit über vier Jahren steht der ehemalige serbische Präsident Slobodan Milosevic vor dem Gerichtshof in Den Haag. Die Anklage wirft ihm u.a. Völkermord vor, hauptsächlich wegen des Massakers von Srebrenica an über 8.000 muslimischen Männern. Die persönliche Schuld Milosevics nachzuweisen, gestaltet sich dabei schwierig, denn Völkermord ist als ein Staatsverbrechen definiert, an dem viele beteiligt sind. Aber nicht nur das Völkerrecht, auch die Wissenschaft tut sich mit dem "Verbrechen aller Verbrechen" schwer. Wann liegt Genozid vor? Was unterscheidet Genozid von Massakern oder ethnischen Säuberungen? Ein Buch des Historikers Boris Barth fasst die Kontroversen um den Begriff und die Geschichte dieses neuartigen Verbrechens zusammen: "Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert". Thomas Moser hat es für Sie gelesen.

Von Thomas Moser | 06.03.2006
    Beitrag:

    Die Brutalität und Schonungslosigkeit, mit der im Ersten Weltkrieg türkische Spezialtruppen des Osmanischen Reiches gegen die armenische Bevölkerung vorgingen, verschlug manchen Beobachtern die Sprache. "Massaker" reichte für das zielgerichtete und endlose Morden nicht aus. Es war das "Massaker aller Massaker" mit mindestens 800:000 getöteten Armeniern. Die genaue Zahl ist unklar, weil die Archive bisher nicht zugänglich sind. Heute bezeichnet man diesen Mord als "Genozid", selbst wenn er von türkischer Seite fortgesetzt bestritten wird – (und manche Regierungen, wie die amerikanische oder die deutsche, den Begriff aus diplomatischen Gründen vermeiden.) Der Begriff wurde allerdings erst drei Jahrzehnte später im Zusammenhang mit der Ermordung der europäischen Juden geprägt und 1945 in den Nürnberger Prozessen erstmals offiziell verwendet. 1948 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine "Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Genozids", die bis heute gilt, aber längst nicht von allen Saaten akzeptiert wird. Die USA ratifizierten sie mit 40-jähriger Verspätung erst 1989. Völkermord ist nach dieser UN-Konvention...

    "... die völlige oder teilweise Zerstörung einer nationalen, rassischen, ethnischen oder religiösen Gruppe."

    ...zum Beispiel durch:

    "Tötung von Mitgliedern der Gruppe. Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe. Oder: Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe."

    Der zentrale Bezugspunkt jeglicher Genozidforschung ist der Holocaust an den Juden - diese geplante, durchorganisierte und industriemäßig durchgeführte Vernichtung von sechs Millionen Menschen während des Zweiten Weltkrieges. Alle Debatten gehen davon aus - inklusive der um die "Einzigartigkeit" und "Unvergleichlichkeit" dieses Verbrechens. Für Boris Barth ist der Holocaust der "archetypische" wie der "ultimative Fall von Genozid". Den Begriff "einzigartig" findet er unpassend, weil der Holocaust damit außerhalb der Geschichte gestellt werde. "Einzigartig" impliziert auch, dass er sich nicht wiederholen könne.

    "Alles, was einmal geschehen ist, kann wieder geschehen. Und das ist dann auch die Lehre, die zumindest die Deutschen oder wir Deutsche aus Auschwitz ziehen sollten. Warum soll der Holocaust in Schulen gelehrt werden sonst, wenn er kein grundsätzliches Problem für die gesamte Menschheitsgeschichte wäre? Und eben weil alles, was einmal geschehen ist, wieder geschehen kann, ist die wichtigste Lehre eben aus der Ausrottung der europäischen Juden, eben weitere Genozide zu verhindern."

    Nachdem und obwohl das Verbrechen des Genozids Eingang in das Völkerrecht fand, hatte es zunächst jahrzehntelang keine Konsequenzen. Der Kalte Krieg und eine festgefügte internationale Ordnung zweier hochgerüsteter Machtblöcke ließen eine juristische Verfolgung von Massenmorden nur schwer zu. Erst als 1989 diese Weltordnung zerbrach, wurde das wieder möglich. Die Verhütungs- und Bestrafungsformel der UN-Konvention über Genozid durchbricht das Souveränitätsprinzip des Staates. Das ist das Neue bzw. "Revolutionäre" dieser Konvention, so Barth. Jahrhunderte lang, seit dem Westfälischen Frieden von 1648, war in Europa die Souveränität eines Staates unantastbar, nun konnte sie grundsätzlich in Frage gestellt werden. Noch bei den Nürnberger Prozessen war die Anklage der deutschen Verbrechen gegen die Juden nur über die Konstruktion des Kriegszusammenhanges möglich. Der Holocaust sei Bestandteil des rechtswidrigen Krieges der Nazis gewesen, so die Argumentation des Nürnberger Gerichtshofes.

    Das Recht der internationalen Staatengemeinschaft, in die Souveränität eines Staates einzugreifen, ist heikel und zweischneidig, auch weil es die Gefahr des Missbrauchs birgt. Der Vorwurf des Genozids kann benutzt werden, um Krieg gegen ein Land zu legitimieren. Vor dem Jugoslawienkrieg bemühten verschiedene deutsche Politiker den Vergleich mit Auschwitz, um das Eingreifen der Nato zu rechtfertigen.

    "Eben weil Genozid ein ziemlich neuartiges Verbrechen ist und auch neuartige Formen der Verbrechensbekämpfung erst entwickelt werden müssen, besteht keineswegs Einheit darüber, was denn jetzt eigentlich genau einen Völkermord konstituiert. Wann muss man eingreifen? Und dazu kommt dann sicherlich auch noch das propagandistische Moment, d.h. in einem militärischen Konflikt ist der Genozidvorwurf eine recht billige Propagandamasche, mit der man versuchen kann, Unterstützung zu mobilisieren, entweder in der eigenen Bevölkerung oder bei neutralen Ländern."

    Am Anfang des 20. Jahrhunderts stand ein Völkermord und an seinem Ende ebenfalls einer: In Ruanda wurden 1994 innerhalb von drei Monaten, zwischen April und Juli, über eine Million Menschen umgebracht. Dieser Massenmord ist bisher nicht aufgearbeitet, er ähnelt aber dem der Nazis an den Juden. Er war die bewusste Entscheidung einer Machtelite gegen die Bevölkerungsgruppe der Tutsi; es gab direkte Mordbefehle; und ein hochentwickelter Verwaltungsapparat sorgte dafür, dass sie schnell und wirkungsvoll durchgeführt wurden. Ruanda steht für die erschreckende Erkenntnis, dass sich so etwas wie ein Holocaust wiederholen kann. Die Verbrechen in Ruanda stufte der UN-Sicherheitsrat erstmals in seiner Geschichte als Genozid ein, und erstmals wurden Politiker wegen Völkermordes schuldig gesprochen.

    Nicht jeder Massenmord ist ein Genozid, so will es die Definition, selbst wenn ein Massenmord mehr Opfer zählt als ein Genozid. Die Bilanz der kommunistischen Verbrechen in der Sowjetunion Stalins umfasst etwa 20 Millionen Opfer: durch Hunger, Lagerhaft und Hinrichtungen. Dennoch stellen sie für Boris Barth und etliche andere Historiker keinen Völkermord dar, weil auf Seiten des Regimes nicht die Absicht bestand, eine bestimmte nationale, ethnische oder religiöse Gruppe als Ganzes zu vernichten. Der sowjetische Fall dokumentiert die Untiefen und Fragwürdigkeiten der Genozid-Definition. Wenn es Verbrechen einer noch größeren Dimension gibt, warum soll Genozid dann das "Verbrechen aller Verbrechen" sein? Und: Wenn das Kriterium ist, dass eine kulturelle Gruppe ausgelöscht wird, heißt das dann nicht, das Völkerrecht in Konkurrenz zum Menschenrecht zu stellen?

    "Nicht unbedingt. Die Verbrechen Stalins sind ohne Zweifel furchtbar gewesen, aber Genozid stellt einen Sonderfall dar von Verbrechen gegen die Menschheit, nicht Menschlichkeit, wie das oft heißt. Und Verbrechen gegen die Menschheit stellen einen Angriff auf die Menschheit insgesamt dar. Es geht bei Genozid nicht um die Zahl der Opfer, sondern um die Vernichtungsintention, also um die Absicht. Es hat immer wieder verbrecherische Regime gegeben, die sehr viele Menschen umgebracht haben. Genozid unterscheidet sich aber durch eine Besonderheit, und das ist eben das Ziel ein gesamtes Volk ohne Ausnahme auszurotten."

    In der Wissenschaftsgemeinde ist zum Thema Genozid nahezu alles umstritten. Zum Beispiel auch, ob Flächenbombardements in Kriegen oder Luftangriffe auf Städte wie in Hiroshima oder Dresden dazu zählen. Manche sagen ja, andere, wie Boris Barth, nein. Die Uneinigkeit der Wissenschaftler brachte eine ganze Reihe von Begriffsblüten hervor, die eher Verwirrung dokumentieren als Klarheit: kultureller Genozid, Ethnozid, Politizid, Ökozid, Demozid, Femizid, Auto-Genozid, Ökonomizid, Linguizid usw. Genozid ist eben nicht nur ein wissenschaftlicher, sondern auch ein politischer Begriff, und die Wissenschaftler bewegen sich bei der Beschäftigung mit der Materie immer wieder auf einem politischen Minenfeld. Entsprechend vorsichtig und unbestimmt drücken sie sich in der Regel aus.

    Zur Debatte gehört auch die Frage, ob es Völkermord gibt, seit es Menschen gibt, oder ob er ein Verbrechen darstellt, das erst im 20. Jahrhundert auftrat, wie auch Barth meint. Genozid ist ein Staatsverbrechen, das erst durch den organisatorischen Machtapparat der modernen Staaten möglich wird. Der Historiker sieht auch einen Zusammenhang zwischen Krieg und Genozid. Im Krieg findet eine Entgrenzung der Gewalt statt. Kriege tendieren dazu, zu degenerieren und genozidal zu werden. Der Erste Weltkrieg habe einen fundamentalen Zivilisationsbruch bedeutet und die totalitären Regime Kommunismus und Nationalsozialismus hervorgebracht, die beide für Massenmord stehen. Hinzu kam das Entstehen einer Ideologie, die das Soziale biologisierte und mit Exklusion arbeitete.

    "Nämlich die Vorstellung, dass Völker wie Individuen leben und sterben, also einen Aufstieg haben und irgendwann untergehen. Und dieser Sozialdarwinismus bringt eine neue Dimension in den Rassismus hinein, nämlich dass es jetzt möglich ist, auch zwischen Weißen zu klassifizieren. Zum Beispiel Juden werden jetzt zum Gegenstand rassistischer Betrachtung. Dazu kommt, dass der Erste Weltkrieg einen ganz massiven Einschnitt nicht nur in der europäischen, sondern wahrscheinlich auch in der Weltgeschichte bedeutet, nämlich einen Zivilisationsbruch. Und dieser Zivilisationsbruch des Ersten Weltkrieges ist derartig fundamental und macht eben so etwas wie Genozid möglich."

    Gibt es einen Zusammenhang zwischen der politischen Struktur eines Staates und der Wahrscheinlichkeit von Genozid?, fragt Boris Barth schließlich – und befindet: Es sind die totalitären und undemokratischen Regime, die zu Völkermord neigen.

    "Das ist in funktionierenden Demokratien einfach ausgeschlossen, weil: ich halte es für ausgeschlossen, dass Politiker, die einen Völkermord planen und das auch propagieren, jemals auch nur in die Nähe der Macht kommen würden. Das Wort "ausgeschlossen" sollte man in der Geschichte nicht benutzen, aber doch, ich halte es für ausgeschlossen."

    Eine gewagte Aussage, denn zu Massenmord und Kriegsverbrechen waren bisher durchaus auch demokratisch gewählte Regierungen fähig. Und eine These des im übrigen informativen Buches, die die wissenschaftliche wie politische Kontroverse um das Phänomen "Völkermord" fortsetzt.

    Thomas Moser über Boris Barth: "Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte – Theorien – Kontroversen". Erschienen als Taschenbuch in der Beck’schen Reihe des C.H. Beck Verlages München, 272 Seiten für 14 Euro und 90 Cent.