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Vom Verschwinden eines Schriftstellers

Silvia Bovenschen hat sich als Literaturwissenschaftlerin einen Namen gemacht, bevor sie als Essayistin regelrecht berühmt wurde. Inzwischen ist ihr zweiter Roman erschienen. Und auch das neue Buch strotzt wieder nur so vor literarischen Bezügen, auktorialer Selbstreflexion und literarischen Kniffen.

Von Dina Netz | 06.06.2011
    Silvia Bovenschen hat bereits Erzählungen veröffentlicht, die sich mit dem Verschwinden befassen, das Buch heißt entsprechend "Verschwunden". Das Thema scheint die Autorin nachhaltig zu beschäftigen, denn in ihrem neuen Roman "Wie geht es Georg Laub?" verschwindet die Titelfigur gleich zweimal.

    "Das ist ein Thema für alle - wovon handelt die Literatur? Von Liebe, Tod und Teufel. Und der Tod ist natürlich die radikalste Form des Verschwindens, aber auch alle Vorstufen beunruhigen uns immer, finde ich. Wenn irgendetwas mir unbegreiflich ist, weil es erst da war und dann nicht - was mir, da ich unordentlich bin, dauernd passiert - für mich hat das ein Bedrohungselement, wenn's mir gar nicht erklärlich ist, warum das nun nicht da ist, wo ich es doch immer da hingelegt habe."

    Das Buch setzt ein, als der Schriftsteller Georg Laub seit fünf Monaten aus seinem früheren Leben verschwunden ist:

    "Er war ein Schriftsteller, der so ein bisschen diese Schickimicki-Schriftstellerei mitbetrieben hat, bisschen so ein Event-Schriftsteller war er geworden. Das hat aber nicht mehr so funktioniert, das hat sich wohl nicht mehr so verkauft. Und dann, als er gerade sich von seiner etwas flotten Freundin getrennt hat und kein Geld mehr hatte und auch nicht mehr viel reinkam, hat er von einer Tante dieses verrottete Häuschen geerbt. Und dachte: Dann gehe ich eben nach Berlin - er war in Frankfurt am Main. Und wohne da erst mal und zieh mich aus allem zurück, breche mit allem ab [...] und versuche ein karges Leben in einem verrotteten Häuschen."

    Die Ironie, dass Laub sich für einen Rückzug aus dem Literaturbetrieb ausgerechnet nach Berlin flüchtet, also in die Hauptstadt der Republik und auch deren Literaturbetriebs, kommentiert Silvia Bovenschen nicht. Andere Absurditäten wiederum kostet sie weidlich aus, wie zum Beispiel, dass Georg Laub gerade in seiner vermeintlichen Abgeschiedenheit so genau beobachtet wird wie vermutlich nie zuvor – was sich allerdings erst am Schluss herausstellt. Seine neuen Nachbarn beobachten den Ex-Schriftsteller nämlich mit einem Fernglas. Außerdem bannt ein "mobiles Theaterkollektiv" die völlig belanglosen Tage, die er im baufälligen Tanten-Haus abhängt, als Film.

    Belanglose Tage, weil Georg Laub kaum etwas tut, er sitzt ein bisschen am Computer (ohne Internet), sieht dem Haus und sich selbst bei der Verwahrlosung zu und trinkt abends ein Bier bei "Frieda", seiner neuen Stammkneipe nebenan. Er wirft allenfalls ein Auge auf die letzte noch ausharrende Mieterin in seiner Bruchbude, die ihn aber nie erkennt und die einer seiner neuen Kneipen-Kumpels treffend als "merkwürdig unstofflich" bezeichnet. Kurz gesagt: Es geht Georg Laub nicht gut.

    "Die Welt schwankte. Das marode Haus ein schwankendes Schiff? Soll es doch versinken! Die Sehnsucht nach einer tiefen Schwärze. Nein, er könnte das nicht verstehen. Und er wollte nichts mehr verstehen. Er sank."

    In Wirklichkeit schwankt natürlich Georg Laub, der sich krank und ratlos fühlt. Laub scheint geglaubt zu haben, indem er sich gegen sein früheres Leben entscheidet, würde sich automatisch ein neues einstellen. Aber, wie Silvia Bovenschen schreibt:

    "Die meisten Fallgruben liegen im eigenen Charakter."

    Und da er selbst keine Richtung vorgibt, wird Georg Laub zum Spielball der anderen. Er weiß sich zum Beispiel nicht gegen die lästigen Besuche seines früheren Bekannten und Filmausstatters Fred Mehringer zur Wehr zu setzen. Und eines Tages findet Georg Laub in seinem Briefkasten eine Art Aufforderung zur Schnitzeljagd, ein Manuskript, das ihn zu einem bestimmten Café leitet. Obwohl dort unheimliche Typen mit ihm abrechnen, begibt er sich auch beim nächsten Manuskript in seinem Briefkasten wieder an den bezeichneten Ort, bis irgendwann die gespenstische Combo in seinem Abbruch-Haus sitzt:

    "Von denen wollte ich mich nicht aus der Fassung bringen lassen, gerade weil ich die ganze Zeit Angst hatte, dass der Schwindel wieder einsetzen und mich in die Hilflosigkeit werfen könnte. Diese Blöße wollte ich mir jetzt nicht geben. Und gegen die Heimsuchung des Schwindels war das, was die vier hier bei mir und anderenorts aufführten, ein bloßes Affentheater. Und weil ich das Wort gerade gedacht hatte, sagte ich es auch sogleich.
    ,So ein blödes Affentheater. Seid ihr Kollektiv-Stalker?'
    Der Hüne riss empört die Maske herunter. 'Wir sind Künstler!' rief er dröhnend. 'Multimedial! Hast du gehört? Multimedial! Wir sind keine Einzelkunstidioten, so wie du einer bist.'"


    Die vier geben sich als Theater-Kollektiv zu erkennen, das Georg Laub um Nachhilfe beim Schreiben bittet. Genau so gut könnten diese Hexen und Riesen aber auch Auswüchse von Laubs mäandernder Fantasie sein, sagt Silvia Bovenschen.

    "Wir wissen ja gar nicht, ob das stimmt. Sein Freund Mehringer, der da auch aus seiner Vergangenheit auftaucht, dem sagt er das so: Ich finde diese Texte in meinem Briefkasten. Aber vielleicht hat er sich das selber auch alles nur ausgedacht, man weiß es nicht. Ob er das wirklich aufgeschrieben hat oder ob er sich das ausgedacht hat selber, sozusagen diese Fiktion in der Fiktion aufrechterhält - irgendwas muss er ja tun. Tja, warum geht er dahin? Weil er nichts mehr mit sich anzufangen weiß und weil er - irgendwas muss er ja machen. Da geht er halt da hin und lässt sich quälen."
    Die Künstler bringen Georg Laubs Dilemma auf den Punkt, er sei nämlich

    "zu klug für das Gefasel von der Suche nach Mitte und Ich-Essenz, jedoch zu dumm für eine fintenreiche und elastische Selbstbehauptung".

    Ein Kritiker hat Silvia Bovenschen, die lange als Literaturwissenschaftlerin gearbeitet hat, mal "eine Frau, die alles über Literatur weiß" genannt. Und auch dieses neue Buch strotzt wieder nur so vor literarischen Bezügen, auktorialer Selbstreflexion und literarischen Kniffen. Gelehrte Romane geraten nun schnell in den Verdacht, verkopft zu sein. Aber Silvia Bovenschen gelingt immer wieder das Kunststück, dass die erzähltheoretischen Gedankenspiele nicht zum Selbstzweck werden, sondern lediglich den Hallraum bilden, in dem ihre Figuren ganz selbstständig herumspazieren. Wenn auch in diesem Fall der Protagonist eher unsicher geht.

    Als Laub am Schluss erneut verschwindet, wird der Satz "Wo ist Georg Laub?" zu einem Running Gag bei Facebook, Millionen klinken sich ein in die Spekulationen über den abhandengekommenen Schriftsteller. Der außerdem feststellen muss, dass er nie verschwunden war, denn sein virtueller Alias aus im Internet verfügbaren Informationen hat ihn die ganze Zeit in der Öffentlichkeit vertreten. Silvia Bovenschens zweiter Roman ist also auch eine empathische Satire über die neue Medienwelt, der man nicht entkommt - schon gar nicht, wenn man gerade das versucht.

    "Diese Krise ist, denke ich, nicht nur eine individuelle Krise. Das ist mir dann auch erst beim Schreiben so richtig klar geworden: Das ist eine Krise der jetzt 40-/50-Jährigen, denen ist sozusagen das Buch gewidmet (was ich auch nett von mir finde, dass ich den Leuten, die 20 Jahre jünger sind, für die ein Buch schreibe). Es ist die Krise derer, die mit einem Bein noch in der alten Bücherwelt stecken und mit dem anderen Bein aber sehen, dass sie da in dieser digitalen neuen Welt - das ist ja ein menschheitsgeschichtliches Experiment, was da läuft, da wissen wir ja alle noch nicht, was daraus wird. Also sich mit dem anderen Bein schon dahin vortasten müssen, dahin orientieren müssen."

    Silvia Bovenschen hat ein kluges, elegantes, komisches Buch geschrieben, das vor allem den Literaturbetrieb amüsieren wird, aber nicht nur den. Denn die geradezu filmischen Beschreibungen von Figuren und Szenen, die weisen alltagsphilosophischen Sätze und die wunderschönen Wörter sind für alle da: die Bezeichnung von Schriftstellern als "Erlebnisvampire", das Schimpfwort "Vernunftidiot" oder ein Café, das von "gestriger Gewöhnlichkeit" ist. Solche Formulierungen ähneln auffallend denen des Wortsiegelbewahrers Wilhelm Genazino:

    "Ich habe schon auch die Idee, dass ich Wörter, die ein bisschen in die dritte Reihe gerückt sind, die aber in meinem Leben und in meiner Jugend schon mir Freude gemacht haben, dass ich die bewusst einsetze. Ich kann mich erinnern, ich hab als junges Mädchen sogar so Hefte gehabt, wo ich mir Wörter aufgeschrieben habe, die ich besonders schön fand. Und vielleicht macht das Genazino auch so ein bisschen, dass er die so bisschen aus der zweiten und dritten Reihe wieder vorholt, obwohl sie nicht so mehr im alltäglichen Sprachgebrauch sind."



    Silvia Bovenschen: "Wie geht es Georg Laub?"
    Roman, S. Fischer Verlag,
    288 Seiten, 18,95 Euro
    ISBN: 978-3-10-003516-5