Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Vom Wandel der Regierungskunst

Der Sonnenkönig Ludwig XIV proklamierte noch: Der Staat bin ich, während keine 100 Jahre später der Preußenkönig Friedrich II sich zum ersten Diener seines Staates erklärte. In der Moderne dann orientieren sich die Politiker an der Ökonomie, um das Wohl der Bevölkerung zu verbessern. Michel Foucault liefert mit dem vorliegenden Band eine Analyse der politischen Praxis über die Jahrhunderte hinweg.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann. | 20.07.2005
    Keine besonders neue Einsicht propagiert Michel Foucault, wenn er eine Wende der politischen Praxis um 1700 herum diagnostiziert. Man könnte beinahe behaupten, das würden alle modernen politischen Denker konstatieren. Auch nicht originell ist es, dafür den Liberalismus verantwortlich zu machen und damit eine Orientierung des Staates beziehungsweise der Politik zu diagnostizieren, die den Bürger in den Mittelpunkt stellt.

    Doch wie Foucault diese Sachverhalte analysiert und begrifflich präsentiert, verdient allemal mehr Beachtung als bisher, die ihm durch diese neue Publikation ja vielleicht auch zuteil werden könnte. Zunächst bleibt er auch hier seinem Verfahren treu, nicht bestimmte Begriffe vorauszusetzen, um dann deren Wirklichkeit nachzugehen. Umgekehrt stellt Foucault solche Begriffe wie Staat und Politik in Frage und verfolgt, wie sich eine bestimmte Praxis konkret entwickelt hat, die gängigerweise rings um diese Begriffe angesiedelt wird. Dabei pflegt Foucault ja von einzelnen Aspekten auszugehen, um größere Zusammenhänge aus deren Licht her zu verstehen.

    Die heutige politische Praxis, die Foucault mit dem schwerfällig klingenden Wort der Gouvernementalität bezeichnet, setzt sich zwar erst in den letzten Jahrhunderten durch. Sie entspringt jedoch einer religiös politischen Haltung, die aus den orientalischen Reichen der Antike stammt und die das Christentum aufgreift. Foucault sagt in im ersten Band über Sicherheit, Territorium und Bevölkerung:

    "Doch gleichzeitig – und das ist das Paradoxon, auf das ich den Akzent legen möchte – hat der abendländische Mensch in Jahrtausenden gelernt, was zweifellos kein Grieche je zuzugestehen bereit gewesen wäre, in Jahrtausenden hat er gelernt, sich als Schaf unter Schafen zu betrachten. Er hat in Jahrtausenden gelernt, sein Heil von einem Pastor zu erbitten, der sich für ihn opfert. Diese für das Abendland so charakteristische, in der ganzen Geschichte der Zivilisationen so einzigartige Machtform wurde im Hirtenstall geboren, oder hat ihn zumindest als Modell genommen, also im Vorgriff auf eine als Angelegenheit des Hirtenstalls betrachtete Politik."

    Die Idee, dass es vornehmliche Aufgabe der Politik ist, sich um das Wohl der Bevölkerung zu kümmern, dass das Ziel der Politik nicht die Vergrößerung der Macht des Staates ist, eine solche Entwicklung bahnt sich erst seit ca. drei Jahrhunderten an. So verdankt sich heute die Macht des Staates vielmehr umgekehrt primär dem Wohl der Bevölkerung: Wenn diese produktiv tätig ist und viel verdient, kann sie auch hohe Steuern bezahlen. Daher geht es politisch und staatlich also primär darum, die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, ihren Wohlstand zu mehren, aber auch die Bevölkerung selbst zu hegen und zu pflegen. Es mag überraschen, aber gerade heute prägt das Pastarat den liberalen Sozialstaat.

    Der einstige Souverän, der Fürst, transformiert sich in die Regierung, deren Zweck es ist, den Regierten zu dienen. Der Sonnenkönig Ludwig XIV proklamierte noch: Der Staat bin ich, während keine 100 Jahre später der Preußenkönig Friedrich II sich zum ersten Diener seines Staates erklärte. Den Souverän des 16. Jahrhunderts wie die Könige und Lenker der antiken Polis beseelte die eigene Weisheit, die ihnen sagte, was politisch zu tun sei. Im zweiten Band über Die Geburt der Biopolitik stellt Foucault fest:

    "Weisheit bedeutet, gemäß der Ordnung der Dinge zu regieren. Es bedeutet, entsprechend der Erkenntnis der menschlichen und göttlichen Gesetze zu regieren. Es bedeutet, den Anordnungen Gottes gemäß zu regieren. Es bedeutet, gemäß dem zu regieren, was die allgemeine Ordnung der göttlichen und menschlichen Dinge uns vorschreiben kann."

    In der Moderne dagegen orientieren sich die Politiker an einer Rationalität, deren Kern aus ökonomischem Denken besteht, das sich im Zeitalter des Liberalismus, wenn auch in sehr unterschiedlichen Varianten, durchgesetzt hat. Politik dient seither der Ökonomie, um das Wohl der Bevölkerung zu verbessern.

    Neben der Orientierung an der Bevölkerung und einer daraus resultierenden politischen Ökonomie stellt die Sorge um die Sicherheit das dritte konstitutive Element für die Gouvernementalität bzw. die moderne Regierungskunst dar. Seit dem 18. Jahrhundert entwickelt sich eine polizeiliche Verwaltung, die zunächst die großen Städte nötig gemacht haben. Von dort aus dehnt sich diese polizeiliche Sorge um die Sicherheit auf das gesamte Land aus. Der beste Schüler von Foucault ist dann der US-Präsident Bush, der die Sicherheit des amerikanischen Volkes im Angesicht des Terrors als Leitlinie seines Handelns proklamiert.

    Ironischerweise tritt derart der Staat aber in den Hintergrund, von dem Foucault selbst sagt, dass er massiv überbewertet würde. Der Staat ist nicht mehr Selbstzweck – ein liberales Verständnis, das das Individuum in den Vordergrund stellt, das der Lehrer der konservativen Vordenker in derselben US-Regierung, Leo Strauss, gerade scharf kritisierte. Für Foucault überlebt der Staat dagegen allein in Form der gouvernementalen Verwaltung, die sich an den unterschiedlichen Erwartungen ihrer Bürger orientiert.

    Während der erste Band die Gouvernementalität vor dem Hintergrund ihrer zentralen Bestimmungen erläutert, stellt der zweite Band über Biopolitik eine Analyse des Liberalismus als eine Machttechnik dar, die zugleich auf Freiheit und Disziplinierung der Individuen abzielt. Foucault beschreibt die Biopolitik, die mit dem Liberalismus einhergeht, folgendermaßen:

    "Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzende Entwicklung der medizinischen Polizei, hygiène publique oder social medicine mußte in den Rahmen einer neuen ‚Biopolitik’ gestellt werden, die in der ‚Bevölkerung’ ein Ensemble von Lebewesen mit spezifischen biologischen und pathologischen Merkmalen sah, für die jeweils spezifische Wissensbereiche und Techniken zuständig waren."

    Aus der Gouvernementalität ergibt sich ob ihres pastoralen Hintergrundes eine Politik als umfassende Bevölkerungspflege, die sich mit der wissenschaftlichen Revolution in diverse Bereiche ausdehnt und die Humanwissenschaften nach sich zieht. Biopolitik heißt, im Dienste der Bevölkerung und damit vermeintlich im Dienste jedes einzelnen, die Bevölkerungsentwicklung zu steuern. Die Gouvernementalität bedient sich der Biopolitik als Regierungspraxis um die Population mittels Gesundheitswesen, Hygiene, Geburtenziffer, Lebensdauer, aber auch durch Rassenpolitik zu steuern.

    Je enger die Sozialetats werden, um so disziplinatorischer wirkt die Politik, während sich das liberale Element der Freiheit stärker nach dem Einkommen verteilt. Man könnte also so manches für aktuelle Debatten aus der foucaultschen Analyse lernen.