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Vom Wandel der Traditionen

In Zeiten, in denen der 100. Geburtstag der Konservenbüchse einem französischen Ort Anlass genug ist, eine Statue ihres Produzenten in Auftrag zu geben, ist es mit der Kultur der Erinnerung eine schwierige, ja inflationäre Angelegenheit geworden. Pierre Nora konstatiert diesen Wandel im nationalen Gedenken, das einst einen festen Bestand von Gegenständen in immer neuen Varianten zu tradieren wusste, in seinem Nachwort zu den "Erinnerungsorten Frankreichs". Der französische Historiker hatte mit der Herausgabe einer siebenbändigen Ausgabe mit Essays zur Geschichte und Kulturgeschichte Frankreichs Furore gemacht - sie wurden zwischen 1984 und 1992 in Frankreich publiziert. Bereits 2001 ist, ebenfalls im Beckverlag, ein deutsches Pendant "Deutsche Erinnerungsorte", sowie jüngst ein Auswahlband als begeisterte Reaktion auf die französische Ausgabe verlegt worden.

Von Andrea Gnam | 06.03.2006
    Nicht den Ursprungsmythen, oder gar der "Vergangenheit wie sie eigentlich gewesen ist", gilt das Interesse, sondern dem historischen Wandel im Umgang mit Traditionen. Wenn auch Nora meint erklären zu müssen, dass Erinnerung nicht einfach "Rückruf der Vergangenheit" ist, sondern immer von den Bedürfnissen der Gegenwart bestimmt wird, so ist dieses Wissen schon lange Bestand jeder kritischen Annäherung an die Historie. Und wer Walter Benjamins unvollendet gebliebenes "Passagenwerk" vor Augen hat, das vor dem Hintergrund der Pariser Geschichte Bilder der Vergangenheit aufblitzen lässt und mit dem kritischen Blick der Moderne durchtränkt, der wird Noras "Erinnerungsorte" nicht als vollkommen neue Sicht auf die Geschichte verstehen.

    Faszinierend an diesem Projekt, in das die vorliegenden Ausgabe einen Einblick gewährt, ist die episodische und doch als Gesamtprojekt systematische und wissenschaftliche Annäherung an Phänomene, die das Bild von Frankreich bestimmt haben: die Marseillaise, die Tour de France, der französische Hof, Paris und die Provinz, Jeanne d'Arc, Verdun, Prousts "Recherche" - um nur einige Gegenstände zu nennen. Sie erhalten in 16 ausgewählten Essays eine historische Tiefendimension, aber auch eine greifbar erscheinende Präsenz. Die Autoren zeichnen mit kritischem, zuweilen wehmütigen Blick das Bild einer untergegangenen Welt, die aber doch in der Erinnerung die kulturelle Identität bestimmt. Diese Identität ist von Spannungsverhältnissen und gegenläufigen Tendenzen bestimmt. Es ist die Schwierigkeit, aber auch die Stärke des Buches, quer durch die Epochen die unterschiedlichsten Entwicklungen am roten Faden eines gewählten Gegenstandes zu verfolgen, der sich allerdings schon im nächsten Beitrag wieder in eine andere Richtung entrollen kann. Die Bedeutung des Hofes zu Zeiten des Absolutismus, die Gunstbezeugungen des Königs, die durchaus noch einen fernen Nachhall in den Rotationen des innersten Zirkels des Präsidenten finden, gilt es hier ebenso auszumessen, wie revolutionäre Umbrüche und Mythen präsentiert werden sollen. Oft sind es die hierzulande wenig bekannten Begleitumstände, die dem deutschen Leser über die Anschauung einen sehr konkreten Zugang zu weiterreichenden Problemfeldern eröffnen. So stellte etwa die Reihenfolge der Maximen der französischen Revolution "Liberté, égalité, fraternité", die auf staatliches Geheiß um 1880 über jedem öffentlichen Gebäude prangen, eine ursprünglich hochpolitische Angelegenheit dar: man stritt um Reihenfolge und Gewichtung der Begriffe. Die Geschichte des Aufstiegs, der Unterdrückung und der unaufhörlichen Wiedergeburt der Marseillaise, die bis zu ihrer Ablösung durch die "Internationale" zum Sammelbecken für revolutionäre Bestrebungen jeglicher Art wurde, fokussiert das revolutionäre, kampferprobte und doch patriotische Frankreich. "Schickt mir 1000 Männer oder eine Ausgabe der Marseillaise" schrieb ein französischer General der Revolutionsarmee. Ein Beitrag über das Verhältnis von Paris zur Provinz wirft ein erhellendes Licht auf ein in der französischen Literatur häufig beschriebenes Phänomen: die Metamorphose des Provinzlers zum Pariser in einer leidvollen "Schule des Gefühls", die der junge, entwurzelte Aufsteiger zu durchlaufen hat. Die Provinz, gerne als zurückgeblieben belächelt, wird andererseits zum Ursprungsmythos des einfachen, ländlichen Lebens stilisiert. Sehr pathetisch, sehr französisch, eine Eloge auf die französische Landschaft ist der Beitrag zum Thema "Boden": die Erde ist das erste Archiv der Menschheit, die bäuerlichen Landschaften bilden Frankreichs außergewöhnlichstes Kulturerbe. Ein wenig mulmig wird einem dann allerdings, wenn über die traditionelle bäuerliche Bearbeitung des Bodens zu lesen ist, dass der Boden "wie ein Tier gebändigt und wie eine Frau besessen worden ist". Um bei den Frauen zu bleiben: Nur von Jeanne d'Arc ist in dieser Ausgabe die Rede und dieser Beitrag ist für den deutschen Leser eher ermüdend. Sehr unterschiedlich sind die Übersetzungen. Manche sind so eng an Satzbau und Bildlichkeit der französischen Sprache angelehnt, dass es mitunter beschwerlich wird, dem Gang der Argumentation zu folgen, andere wiederum, bewahren den Glanz ihrer Vorlage auch in der deutschen Übertragung.